Stein unter Steinen
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin
Hermann Sudermann:
Geheftet | |
Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten. 30. Aufl. | M. 2.— |
Frau Sorge. Roman. 83. bis 87. Auflage | M. 3.50 |
Geschwister. Zwei Novellen. 27. Auflage | M. 3.50 |
Der Katzensteg. Roman. 61. bis 65. Auflage | M. 3.50 |
Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 27. Auflage | M. 2.— |
Es war. Roman. 38. Auflage | M. 5.— |
Die Ehre. Schauspiel in 4 Akten. 32. Auflage | M. 2.— |
Sodoms Ende. Drama in 5 Akten. 23. Auflage | M. 2.— |
Heimat. Schauspiel in 4 Akten. 34. Auflage | M. 3.— |
Die Schmetterlingsschlacht. Komödie in 4 Akten 9. Auflage | M. 2.— |
Das Glück im Winkel. Schauspiel in 3 Akten 15. und 16. Auflage | M. 2.— |
Morituri: Teja. Drama in 1 Akt. — Fritzchen. Drama in 1 Akt. — Das Ewig-Männliche. Spiel in 1 Akt. 17. Auflage | M. 2.— |
Johannes. Tragödie in 5 Akten und 1 Vorspiel. 28. Auflage | M. 3.— |
Die drei Reiherfedern. Dramatisches Gedicht in 5 Akten. 14. Auflage | M. 3.— |
Johannisfeuer. Schauspiel in 4 Akten. 20. Aufl. | M. 2.— |
Es lebe das Leben. Drama in 5 Akten. 20. Aufl. | M. 3.— |
Der Sturmgeselle Sokrates. Komödie in 4 Akten. 15. Auflage | M. 2.— |
Die vorstehend verzeichneten Werke sind auch gebunden zu beziehen
Preis für den Einband:
in Leinen 1 Mark, in Halbfranz 1 Mark 50 Pf.
Schauspiel in vier Akten
von
Hermann Sudermann
Elfte Auflage
Stuttgart und Berlin 1905
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
Copyright, 1905, by Hermann Sudermann
Alle Rechte vorbehalten
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart
Zarncke, Steinmetzmeister. | ||
Marie, seine Tochter. | ||
Frau Homeyer, Wirtschafterin bei Zarncke. | ||
Jenisch, Buchhalter. | ||
Eichholz, Nachtwächter auf dem Werkplatz. | ||
Lore, seine Tochter. | ||
Lenchen, deren Kind. | ||
Willig, Polier. | ||
Göttlingk, Steinmetz. | ||
Jakob Biegler. | ||
Reitmaier, Kriminalkommissar. | ||
Lohmann, | } | |
Sprengel, | } | Arbeiter. |
Struve, | } | |
Bildhauer, Steinmetzen, Arbeiter. | ||
Mehrere Frauen und Kinder. | ||
Ort der Handlung: Berlin. | ||
Zeit der Handlung: die Gegenwart. | ||
Zwischen dem ersten und dem zweiten Akt liegen drei Wochen, zwischen den folgenden Akten liegt je ein Tag.
Wohnstube bei Zarncke. In der Mitte des Hintergrundes Tür nach dem Hausflur. Auf der linken Seite Tür nach Wirtschaftsräumen. Auf der rechten Seite ein breites Fenster nach dem Werkplatz führend. Davor, um eine Stufe erhöht, ein Podium mit bequemem Lehnstuhl und Tischchen. Links vorne ein Sofa mit Sofatisch und Sesseln. Im Hintergrunde links von der Tür ein Tischchen mit Wandkonsole darüber, rechts von der Tür ein Bücherschrank. Altväterisch-behagliche Ausstattung. Stahlstiche, Photographien, gestickte Sinnsprüche an den Wänden. Pfeifenständer, Zigarrenschränkchen, Bauer mit Kanarienvogel etc. etc.
Zarncke. Marie. Jenisch
Zarncke
(Sechziger, mittelgroß, stark ergraut. Bartfunzeln auf den Backen. Gutmütig-vergnügte Äuglein. Sprechweise — mit Anklängen ans Niederdeutsche — weich, bisweilen harmlos polternd, voll stillen Grüblersinnes)
Marie
(Ende der Zwanzig, klein, bucklig. Fahle Krankheitsfarbe. Zwei schöne Augen voll wehmütig-lachender Güte. Gequetschte Sprache, bisweilen durch schweres Atmen unterbrochen. Bewegungen tastend, unsicher)
Jenisch
(behaglicher, beschränkter Zahlenmensch)
Zarncke (mit Jenisch eintretend)
Na, Miezelchen?
Marie
(die im Lehnstuhl sitzt, aufleuchtend)
Vaterchen! (Will aufstehen)
Zarncke
Sitzen bleiben! Sitzen bleiben! (Tritt zu ihr hin und küßt sie auf die Stirn) Läßte dir die Maisonne in 'n Magen scheinen? Das is recht ... Na, Jenisch, was haben Sie da!
Jenisch
Die neuen Sandsteinproben aus den Knauerschen Brüchen, Herr Zarncke. (Reicht ihm die kleinen Blöcke)
Zarncke (kratzt an den Rändern)
Schreiben Sie man den Leuten, mein Kontorbedarf an Streusand sei vorläufig noch gedeckt.
Jenisch (lacht respektvoll)
Zarncke
Zweite Post?
Jenisch
Jawohl. (Reicht ihm ein Paket Geschäftsbriefe)
Zarncke
(setzt sich an den Tisch und läßt die Kuverts durch die Hand gleiten)
Nischt — nischt — nischt. (Ein Kuvert öffnend) Machen wir. (Ein zweites) Machen wir desgleichen. »Verein zur Besserung entlassener Strafgefangener«. Möchten sie mir mal wieder einen andeichseln? ... Na, wollen mal sehn ... (Legt das Kuvert beiseite und schiebt Jenisch die anderen Briefe hin) Zurück zur Beantwortung! ... Und wenn die Leute von der Polizei kommen wegen heute nacht — das sag' ich besser draußen. (Zu Marie) Verzeih mal! (Öffnet das Fenster.[S. 9] Das klingende Geräusch der Meißelschläge, das Klirren der Flaschenzugketten, das Quietschen der Windewagen wird hörbar) Sie da! Willig! Polier! (Lauter) Polier!
Stimme des Poliers Willig
Jawohl, Herr Zarncke!
Zarncke
Wenn die Leute vom Kriminal kommen, lassen Sie sie gleich aufs Kontor führen. Ich will nicht, daß sie mir den Platz rabiat machen mit ihrem dummen Gefrage.
Stimme Willigs
Jawohl, Herr Zarncke.
Zarncke (nachahmend)
Jawohl, Herr Zarncke. (Schließt das Fenster, das Geräusch hört auf)
Marie
Mußtest du's denn anzeigen, Vaterchen?
Zarncke
Ja, das frag' ich mich auch. Aber ich kann mir doch nicht zu nachtschlafender Zeit in meinen Magazinschlössern rumpulen lassen. Womöglich noch »Schön Dank« sagen ... Hören Sie mal, Jenisch, euch auf'm Kontor geht's ja eigentlich nischt an, aber wie denken Sie über den alten Eichholz?
Jenisch
Ja, Herr Zarncke, wir meinen, er wird sich nich mehr lange halten lassen. Als Wächter.
Zarncke
Na, als was denn sonst?
Jenisch
Das weiß ich ja nich.
Zarncke
Sinekuren gibt's nich bei mir auf'm Platz. Selbst mein Kanarienfritze hat sein Geschäft. Wenn der nich singt, dreh' ich ihm den Hals um.
Marie (lächelnd)
Na, na.
Zarncke
Was ist hier zu na-na-en! (Zärtlich) Du — hä?
Marie (lacht)
Zarncke
Der Alte hat seine dreißig Dienstjahre. Hat 's Geschäft groß werden sehen ... Wird mir schwer! (Pause) Abends, wenn er elfe gepfiffen hat, setzt er sich friedfertig auf einen Block, und dann sägt er los. (Ahmt einen Schnarchton nach) Und derweilen pulen mir die Herren Einbrecher in den Schlössern rum. Mir schwant so was, min Döchting, diese Instituschon is nich das richtige.
Marie (lacht)
Zarncke
Also, Jenisch, ziehn Sie sich tapfer zurück.
Jenisch (lachend)
Adieu, Fräulein Mariechen.
Marie
Adieu, Herr Jenisch.
Zarncke. Marie
Zarncke
Dabei weiß ich genau, wer's gewesen is.
Marie
Am Ende gar der — —?
Zarncke
Na natürlich.
Marie (lachend)
Du weißt ja noch gar nicht, wen ich meine.
Zarncke
Du meinst den Struve. Und ich mein' den Struve. Und draußen auf dem Platze meinen sie auch den Struve. Aber weil sie mich nich blamieren wollen, tun sie, als hätten sie keinen Dunst ... Wozu hab' ich nu mal den Besserungspuschel? ... Wenn ich das Luder jetzt nich wieder raushaue, kriegt er zehn Jahre.
Marie
Um Gottes willen!
Zarncke
Fünfmal vorbestraft ... Davon zweimal mit Zuchthaus. Billiger tun sie's da nich ... Und so 'ne Seele von Mensch. Als die Steinmetzen neulich für den brustkranken Emil sammelten — wo er doch als Arbeiter eigentlich gar nischt mit zu tun hat — Wochenlohn blank auf den Tisch gelegt. Und muß mausen! ... Nämlich die[S. 12] Diamantsplitter in den neuen Zahnsägen haben's ihm angetan. Macht er dem Polizeimann dieselbe wehmutsvolle Gaunerschnauze, die er mir heute gemacht hat, dann sitzt er schon im Kittchen ... Ach, was hat man für'n Kreuz mit diesen Kerls! Immer wieder saust man rin.
Marie
Na, manchmal auch nicht.
Zarncke
Hm! Der Auschwitz war gut. Dem Blankmann hab' ich das Leben gerettet. Der Thiele hat sogar Karriere gemacht. Aber — nee! — nu Schluß! — Ich nehm' nu nich einen mehr, den mir der Verein zuschanzt.
Marie
Na, na!
Zarncke
Mariechen, ich schwör' es dir. (Das Kuvert aufnehmend) Und wenn dies hier — ein Lämmlein is, mit Zucker bestreut, ich tu's nicht. (Das Kuvert aufreißend) Wollen mal gleich sehn!
Marie
Weißt du, Vaterchen, dann lies lieber nicht. Nachher ist es ein interessanter Fall, und dann —
Zarncke
Kann's auch ungelesen zurückschicken. (Unschlüssig) Aber — — — du, klingel mal, daß die Homeyer mir das Frühstück bringt.
Marie (klingelt)
Zarncke
(die Papiere musternd, die in dem Kuvert stecken)
Da is nu ein ganzes Schicksal drin.
Marie (bittend)
Vaterchen, mach dir das Herz nicht schwer. Lies lieber nich.
Zarncke
Man soll zwar keinen von seiner Türe weisen. Na, wie du meinst. (Legt das Kuvert hin)
Die Vorigen. Frau Homeyer
(Frau Homeyer, kraftvolle, hübsche Person, zu Anfang der dreißig. Energische Bewegungen. Haare kokett gelockt, mit einem Stich ins Gemeine)
Frau Homeyer
(die Frühstückstablette mit belegten Brötchen und einer Rotweinflasche hereintragend)
Schönen guten Morgen wünsch' ich.
Zarncke
Wir haben uns ja heut schon gesehn, Homeyerchen.
Frau Homeyer
Wenn auch. Ich sag' noch mal »Guten Morgen«. Das ziemt sich für mich. (Auf die Tablette weisend) Is alles gut so?
Zarncke
Hm. Fein.
Frau Homeyer
Fräulein Mariechen, was möchten Sie?
Marie
Danke. Danke.
Frau Homeyer
Is Ihnen heute wieder nich ganz frisch?
Marie
Doch. Doch.
Frau Homeyer
Nu sagen Sie doch. Ich will doch sorgen für Sie. Ich kann mir gar nich genug tun für Sie.
Zarncke
Ja, ja, Sie sind eine Perle.
Frau Homeyer
Herr Zarncke, ich kümmre mich um keinen Menschen sein Lob. Ich bin eine ehrbare Witwe. Wer so viel Leid durchgemacht hat im Leben, wie ich — ach ja!
Zarncke
Ihr vieles Leid is Ihnen aber ganz gut bekommen, hören Sie mal.
Frau Homeyer
Ach ja. Ich hab' mir ganz gut konserviert.
Zarncke
Und dann so die ehrbare Lebensweise.
Frau Homeyer (seufzend)
Ja, ja.
Zarncke
Hören Sie mal, Kindchen, noch eine Frage: Haben Sie vielleicht irgend was gehört, heute nacht?
Frau Homeyer
Ja. Gehört hätt' ich wohl so einiges. — Schritte und so.
Zarncke
Warum haben Sie denn nichts davon gemeldet?
Frau Homeyer
Hat mich ja keiner gefragt. Außerdem: ich geb' keinen an. Ich misch' mich nich in fremde Sachen.
Zarncke
So — das sind fremde Sachen für Sie?
Frau Homeyer
Gott! Wo hab' ich denn gedacht, daß es gleich Einbrecher sind?
Zarncke
Na, was denn sonst?
Frau Homeyer
Ich hab' gedacht: es is eben Frühling, — da werden die Mannsleute doll —
Zarncke
Und die Weibsleute auch.
Frau Homeyer
Von mir können Sie so was nich sagen, Herr Zarncke. Von dem Tage an, daß mein armer sel'ger Mann —
Zarncke
Scht, scht, scht! Wenn, dann würd's auch nichts ausmachen. Na — und?
Frau Homeyer
Und der alte Eichholz schläft natürlich. (Mit Betonung) Und die Tochter schläft eben auch. Nu ja.
Zarncke
Ach so! Das geht gegen die Lore!
Frau Homeyer
Ich hab' nichts gesagt. Ich misch' mich in gar nichts. Laß das Fräulein Lore tun, was sie will. Es braucht nich jede so'n Wandel zu haben, wie ich. Aber schließlich läuft auf dem Werkplatz 'n kleines Mädchen rum. Vater unbekannt.
Zarncke
Der Vater ist nicht unbekannt.
Frau Homeyer
Ach ja, man nennt ja wohl so gewisse Namen. — Warum heiratet er sie denn nich?
Zarncke
Das geht mich nichts an. Und Sie auch nicht ... Was hast du, Mariechen?
Marie
(die mit geschlossenen Augen in den Sessel zurückgesunken ist)
Nichts, Vaterchen. Du weißt ja. Mir wird manchmal so grasgrün.
Frau Homeyer
(die eilig ein Glas Wasser gefüllt hat)
Glas Wasser, Fräulein Mariechen? Glas Wasser?
Marie (trinkt — matt)
Danke schön.
Frau Homeyer
Sonst noch Wünsche? ... Nein. (Da niemand antwortet, ab)
Zarncke. Marie. Später Lenchen
Zarncke
Miezelchen!
Marie
Verzeih schon, Vaterchen. Es ist wohl der Frühling. Der macht einem Kopf und Glieder so schwer.
Zarncke
Ja, ja, es is der Frühling ... Selbst ich alter Knochen spür' ihn. Willst nich was essen? Wart, ich bring' dir. Der Doktor hat gesagt, du sollst eine sitzende Lebensweise führen, also führe du eine sitzende Lebensweise. (Setzt den Teller vor sie hin und nimmt ein Brötchen) Ganz lecker! Magst du das Frauenzimmer eigentlich?
Marie
Ach Gott!
Zarncke
Ich hab' sie so lieb, weil sie mich so hübsch anschwindelt. Bißchen Kuddelmuddel muß sein um einen 'rum, sonst weiß man gar nich, daß man lebt ... Jetzt läuft sie auch hinter dem Göttlingk her. Darum der Haß auf die Lore ... Ja, der Frühling! ... Und mit dem Arbeiten gar da geht's bei allen nich ... Sie pfeifen die Sonne an, und wenn sie Mittags auf den zwei Richtscheiten liegen, dann sind sie nich hochzukriegen. (Seufzend) Junges Volk! ... Übrigens, du! Zu der Amsel auf dem Kantinendach hat sich ein Weibchen gefunden.
Marie (freudig)
Ach! Gott sei Dank. Dann wird sie sich nich mehr die Seele aus dem Leibe schreien ...
Zarncke
Andere Leut' schweigen sich die Seele aus dem Leibe.
Marie (betroffen)
Wie meinst du das?
Zarncke
Na, is doch so ... Schadt nischt! Sein Geheimfach hat jeder. —
Marie (hinaushorchend, ruft)
Lenchen! (Sie öffnet das Fenster, der Lärm des Werkplatzes dringt herein, wie vorhin) Lenchen!
Die Stimme Lenchens (jubelnd)
Tante Mariechen!
Marie
Komm ans Fenster! Komm!
Zarncke
Tante nennt sie dich?
Marie
Soll sie nicht, Vaterchen?
Zarncke
Ja, ja. Kommt auf eins 'raus.
Marie
Na, kletter hoch!
Lenchens
(Kopf erscheint in der Fensteröffnung)
Tag, Tante Mariechen.
Marie
Klettre, Katz! Klettre!
Lenchen
Mußt helfen.
Zarncke
(da Marie eine Bewegung macht, rasch)
Nicht du! Ich, ich! (Zieht das Kind durch das Fenster herein und setzt es auf den Boden)
Lenchen
(die Arme um Mariens Knie schlingend)
Tante Mariechen! Tante Mariechen!
Marie (sie herzend)
Willst 'n Bonbon oder 'ne Butterstulle?
Lenchen
Butterstulle.
Marie
(gibt ihr ein zusammengeklapptes Butterbrot)
Lenchen
(setzt sich ihr zu Füßen auf die Stufe des Podiums und ißt unbekümmert)
Marie
Und das soll nun 'ne Schande sein — so ein Engelskind!
Zarncke
Hättst wohl gern so 'n Stückchen Schande an dir?
Marie (inbrünstig)
Ach so gerne, Vaterchen, so gerne!
Zarncke
Tja! Vielleicht gibt sie's dir!
Marie
So was zu fordern, hätt' ich nicht das Herz. (Streichelt die Kleine und spricht leise zu ihr)
Zarncke
Tja! (Geht an den Tisch, trinkt ein Glas Rotwein, sieht verstohlen nach Marie, nimmt das Kuvert, reißt die Papiere heraus und beginnt zu lesen)
Marie
(sieht es, lächelt und macht sich von neuem mit der Kleinen zu schaffen)
Zarncke (murmelnd)
Zu mir will der Mensch? Warum will der Mensch gerade zu mir? (Steckt die Papiere heimlich ins Kuvert zurück und geht erregt im Zimmer umher) Was kann man da machen? Was —
Marie (bittend)
Vater!
Zarncke
Was denn?
Marie
Allen hilfst du! Jeder Verbrecher kann zu deiner Türe kommen. Hilf doch auch dem Kinde!
Zarncke
Ja, leicht gesagt! ... Wie?
Marie
Rede mit Göttlingk wegen Lore.
Zarncke
Ich hab' mit ihm geredet. Zwingen kann ich ihn nicht.
Marie
Erst wollt' er noch auf die Wanderschaft. Fünf Jahre ist er weg gewesen. Als Herr ist er wiedergekommen.
Zarncke
Herr? ... Künstler! Künstler is er geworden. Dieser wüste Kerl kann mehr als ... Seinethalben braucht' ich gar keine Bildhauer mehr. Den schwierigsten Auftrag kann ich annehmen, seit er da ist.
Marie
Vater, sprich mit ihm. Nun wird sie auch noch den Schmerz erleben mit dem Alten. Ich mag das Elend nicht mehr mit ansehn.
Zarncke
Er sagt, er kann noch nicht. Er hat noch Höheres vor.
Marie
Je Höheres er vorhat, desto schlechter wird sie ihm.
Zarncke
Komm' ich ihm grob, dann wirft er mir den Meißel vor die Füße. Na und dann? ... Weißt du: Sprich du mit ihm.
Marie (erschrocken)
Ich? ... Nein, nein, nein.
Zarncke
Warum nicht?
Marie
Vaterchen — das — kann ich nicht.
Zarncke
Siehst du. Man kann manches nicht. (Es klopft) Herein.
Die Vorigen. Eichholz
(Eichholz: Ende der Sechzig, knickbeinig, würdevoll-finster, mit militärischem Anflug, alter Schwadroneur, fast weißes, buschiges Haar, Rundbart mit ausrasierter Oberlippe, Bratenrock mit Ordensschnalle und eisernem Kreuz)
Zarncke
Na Eichholz! Ausgeschlafen?
Lenchen (ihm entgegen)
Großvaterchen! Großvaterchen!
Eichholz (will sie nicht sehen)
Marie
Pscht! Lenchen! Komm her! Großvater hat keine Zeit. (Sie beginnt zu sticken. Das Kind spielt)
Eichholz
Nja.
Zarncke
Und so feierlich! Was is denn los?
Eichholz
Herr Zarncke — ich möchte — freundlichst — um meine Entlassung gebeten haben.
Zarncke
(mit Marie einen erfreuten Blick wechselnd)
Sieh mal an!
Eichholz
Denn ich habe nämlich in Erfahrung gebracht — daß die Steinmetzen behaupten — wollen, daß ich gewissermaßen — meines Amtes nicht mehr gewachsen bin.
Zarncke
So?
Eichholz
Denn im Punkte des Ehrgefühls, da laß ich mir nicht drankommen. Und wenn die Steinmetzjungens sich die Schnauze verbrennen, damit, daß sie nicht wissen tun,[S. 24] was ein gewissenhafter Mann ist, und was ein sehr tauglicher Mann ist —
Zarncke
Nu kohlt er wieder.
Eichholz
Und was ein königstreuer Mann ist ... Und wo ich mir habe in Ihrem Dienste lädiert, daß ich mir habe nämlich die Schulterblattmuskeln ausgefallen.
Zarncke
Ich weiß, ich weiß, ich weiß.
Eichholz
Und wo ich da immer noch ein wollenes Fellchen, wie man so sagt, ein Puschemauchen, drum herumtrage, wegen den Reimantismus, wo ich mir auch im Dienste geholt habe.
Zarncke
Ja — so Nachts auf dem kalten Stein schl— (sich rasch verbessernd) sitzen — sitzen, das hält der Kräftigste nicht aus.
Eichholz
Ich? Sitzen? ... Sitzen? Ich — Nachts? Nu sagen Sie bloß noch, Herr Zarncke, ich hab' auch die Augen zugemacht, dann kann ich ruhig jehn, mir aufhängen.
Zarncke
Na, na, na. Sagt ja keiner. (Zu Marie) Was fängste da an?
Eichholz
Wo ich doch schon Kummer genug hab' — mit meine Tochter — und hier mit — diese — diese — Mestize.
Marie (hebt erstaunt den Kopf)
Zarncke
Wieso Mestize?
Eichholz
Nu, was ein ungebührliches Kind is — 's is ja schlimm, daß man das selber sagen muß, — aber das is doch nich anders, das is doch eine Mestize.
Zarncke
Ach, Sie haben wohl ein Indianerbuch gelesen?
Eichholz
Ja, so Sonntagnachmittag, wenn ich 'n freien Momang habe, dann les' ich wohl sehr gerne in de Indianerbiecher.
Zarncke
Nu hören Sie mal, lieber Eichholz, alter Kriegskamerad, wie wär's, wenn Sie sich mal 'n bißchen mehr Ruhe gönnten?
Eichholz
Ja, ich bin aber ausgeschlafen so gegen zehne.
Zarncke (leise zu Marie)
Kunststück! ... Nein, nein, ich meine zur Nachtzeit, Eichholz.
Eichholz
Ja, wenn man das so ginge, Herr Zarncke. Aber was 'n gewissenhafter Wächter is und 'n tauglicher Wächter is, der hat Ohren, sag' ich Ihnen, der hört den Maulwurf graben zur nächtlichen Stunde, sag' ich Ihnen.
Zarncke
Aber von Einbrechern haben Sie heute nacht nichts gehört — hä?
Eichholz
Hähähähä! Da lach' ick äwwer.
Zarncke (ernst)
Heute nacht ist nämlich eingebrochen worden, Eichholz.
Eichholz (gekränkt)
Fangen Sie nu auch so an, Herr Zarncke, wie die Steinmetzjungens?
Zarncke (ernst)
Ich muß wohl, Eichholz.
Eichholz (versteht, fassungslos)
Ach so! (Sein Gesicht verändert sich)
Zarncke (bittend)
Nu sehn Se mal, alter Freund. Sie gehn auf die Siebzig. Nu schlafen Sie sich doch mal ordentlich aus. Im Bett. Verstehen Sie. Im ordentlichen Bett.
Eichholz (kläglich)
Ich kann gar nich im Bett schlafen.
Zarncke
Dann werd' ich Ihnen einen schönen, harten Granitblock in Ihre Schlafkammer schaffen lassen ... damit Sie Ihre Bequemlichkeit haben ...
Eichholz (brütend)
Nja.
Zarncke
Und Not sollen Sie auch nich leiden. Ich setz' Ihnen 'ne Pension aus ... Können auch wohnen bleiben ... Bei Tag schustern Sie 'n bißchen oder läuten die Pausen ab oder helfen Ihrer Tochter in der Kantine.
Eichholz
Und gewöhn' mir das Saufen an.
Zarncke
Sie werden doch nich.
Eichholz
Herr Zarncke, ich bin ein Mann — hochgeehrt — ich hab' anno 70 immer mit am Offezierstisch gegessen.
Zarncke
Na, na.
Eichholz
Ja ... Ich bin nie 'n Fettschmecker gewesen und 'n Saufjee, ich hab' noch nich mal 'n Stückschen Käse ins Schnapsglas getunkt.
Zarncke
Schmeckt ja auch gar nich.
Eichholz
Das is nu Ansichtssache, Herr Zarncke ... Aber wenn man in eine so lausige Beschaffenheit versetzt wird, daß das Ehrgefühl im Menschen so sehr gekränkt wird, wo man doch von seinem redlichen Schustergewerbe nichts mehr übrig hat wie 'n paar Lederabfälle und zehn steifgewordene Finger ... und ehe man so'ne Schandpanksjohn annimmt ...
Zarncke
Sie sind ja ein ganz beißiges altes Vieh, hören Sie mal ...
Eichholz
Ich ... ich ... hab'... ich ... (Würgt)
Zarncke
Na, na, Eichholzchen ... Nu si doch man wedder good, min Sähn.
Eichholz (befehlshaberisch)
Lenchen!
Marie (ängstlich)
Nein, nein, das Kind bleibt hier.
Eichholz
Ich und Lenchen — wir gehn jetzt aus'm Haus.
Zarncke
Wenn Sie aus dem Hause gehen wollen, Eichholz, dann kann ich nichts dagegen haben — das heißt, Sie werden sich ja noch anders besinnen —
Eichholz
Na, glauben Sie, geehrter Herr, ich werd's mit ansehn, daß irgend so ein hergelaufener Sch — Schlump jetzt sagen kann, ich bin dem weggejagten Alten da — sein Nachfolger. Das — nee — nee — nee! Ich hab' noch 'ne kleine Nachrechnung, Herr Zarncke. Wegen ein paar reparierte Absätze, die schenk' ich Ihnen, Herr Zarncke. Ich arbeit' nich mehr für Sie ... Guten Morgen, Herr Zarncke. (Ab)
Zarncke. Marie. Lenchen. Später Lore
Zarncke (verzweifelt)
Na — nu is er rabiat. Nu geht er sausen. —
Marie
Du warst milde genug, Vaterchen.
Zarncke
Ja, wenn's Maschinen wären. Aber jeder is 'n Mensch. Jeder hat sein Schicksal.
Marie
In sich, Vater.
Zarncke
Wenn das wahr wäre, dann wär' ich nicht schon so vielen ihr Schicksal gewesen ... In sich! ... Spreu sind wir im Winde. Es kommt nur drauf an, von wo er bläst ... Na — vielleicht kann man's an einem andern wieder gutmachen. (Nimmt die Papiere) Da wird heute einer kommen. So einen hatten wir noch nicht.
Marie
Was hat er denn pekziert?
Zarncke
Frag nicht. Nachher drückt's dich.
Lores Stimme (draußen rufend)
Lenchen! Lenchen!
Lenchen (aufhorchend)
Das is Mama. Ich will zu Mama.
Marie
(das Fenster öffnend, durch das diesmal kein Geräusch hereindringt)
Das Kind is bei mir drin, Lore.
Zarncke (nach der Uhr sehend)
Alles still? Is schon Frühstückspause?
Lores
(Kopf erscheint in der Fensteröffnung)
Dank' schön, Fräulein Mariechen. (Zu Lenchen, die die Arme ausstreckt, sich vorbeugend) Na, hopp!
Zarncke
Du kannst mal 'reinkommen, Lore.
Lore
Wenn ich darf, Herr Zarncke. (Verschwindet)
Marie
(schließt das Fenster und beruhigt Lenchen, die weinen will)
Zarncke
Und findet sich der Mann hier 'rein — der Mann von diesem Brief — Biegler heißt er — dann schick ihn nicht ins Komptor, dann laß mich lieber rufen. (Es klopft) Herein!
Lore (erscheint in der Tür)
Zarncke
Du, Lore, ich muß dir was sagen: Vater is von heute ab —
Lore
(Mitte der Zwanzig. Hübsch, vollkräftig mit Spuren seelischen Leidens. Sprechweise bald ohne Grund erregt, bald scheinbar teilnahmslos. Bewegungen müde, schwerfällig, jäh in Leidenschaftlichkeit umschlagend. Helle, schlichte Sommerkleidung des Mädchens aus dem Volke, ein wenig über dem Habitus der Dienerin stehend)
Ich weiß schon, Herr Zarncke. Es ging ja schon lang' nich mehr.
Zarncke
Na, Gott sei Dank, daß ich mich bei dir nicht zu entschuldigen brauch'.
Lore
Ach, Sie! (Beugt sich rasch nieder, um ihm die Hand zu küssen)
Zarncke
Na, na, na! Und wegen Unterhalt, da — (Beruhigt sie mit einer Handbewegung) Aber stell ihm die Kümmelflasche höher. Das rat' ich dir, Kind! (Klopft sie auf die Schulter. Ab)
Lenchen (die Arme hochhebend)
Mama! Mama!
Lore
(ihr mit dem Schürzenzipfel den Mund putzend)
Ich hab' immer Angst, daß ihr ein Steinsplitter ins Aug' fliegt.
Marie
Ach, sie passen schon auf. Sie haben sie ja alle lieb.
Lore
Ja ... Die andern ja. — Bloß der der nächste dazu is —
Marie
Er wird's nicht zeigen wollen.
Lore
Gestern hat ihr einer 'ne Wippe zurechtgemacht. Und wie er vorbeikommt, da ruft sie ihn an, er soll sie schaukeln. Da hat er sie weggeschoben — na wie? 'n jungen Hund schiebt man nich so.
Marie
Das hängt anders zusammen, Lore. So schlecht ist kein Mensch. Und er sicherlich nicht. Sicherlich nicht.
Lore
Wenn Sie alles wüßten, Fräulein Mariechen. —
Marie
Kannst ruhig »du« sagen. Es hört uns keiner.
Lore
Ach, ich verdien's ja nich ... Warum rührst du mich an? Warum gibst du dich ab mit mir? (Verbirgt den Kopf an ihrer Stuhllehne)
Marie (sie streichelnd)
Na, na, Lore. Als du so groß warst wie die, da hab' ich dich schon gestreichelt. Dabei lassen wir's auch. (Da Lenchen weinerlich dazukommt) Du, Lenchen, der weiße Bär ist ein Eisbär. Und den bind mal nu an die Leine. (Reicht dem Kinde eine Porzellanfigur und ein Garnknäuel)
Lore
Ja, Lenchen, tu das.
Lenchen
(fängt beruhigt von neuem zu spielen an)
Marie
Und laß uns mal vernünftig reden. Was versteckst du dich? Warum sagst du nicht ganz offen, daß er der Vater ist?
Lore (verängstigt)
Gott, wie kann ich denn? Er hat's doch verboten.
Marie
Warum läßt es dir verbieten?
Lore
Als er im Herbst von der Wanderschaft kam, da sagt' er zu mir: »Willst du, daß ich wieder eintrete auf dem Platz?« Ich glaub', ich hab' ihm noch die Hände geküßt in meinem Glück ... Aber eine Bedingung hatte er dabei. »Mund halten,« sagt' er, »daß keiner was erfährt.« ... Die's von früher wußten, waren inzwischen weg. Bloß der Polier ... Und das ist sein Freund. Vater hat er auch in der Tasche ... Und nun beiß' ich mir rein die Zunge ab Tag für Tag und denk': Endlich muß das Schweigen doch ein Ende nehmen. Aber es geschieht nichts ... Er kommt in die Kantine. Ganz vergnügt. Bloß nicht allein. Da hütet er sich.
Marie
Was soll er zu dem allem aber für 'n Grund haben?
Lore (achselzuckend)
Ich denk' mir, er hat eine andere im Sinn.
Marie (erschreckt, beklommen)
Wen denn?
Lore
Vielleicht hat er sich eine aus Mailand mitgebracht, vielleicht — ach, wer kann wissen?
Marie (auf Lenchen weisend)
Und du meinst, daß auf'm Platz keiner was ahnt?
Lore
Die denken sich schon ihr Teil. Aber er tut ja doch mit allen, was er will ... Er ist mehr Herr auf dem Platz als der Polier. Da wagt keiner zu mucksen ... Und wenn er ihnen gar was vorsingt, was er da unten von den Weibern gelernt hat ... Darauf sind sie rein doll ...
Marie (träumerisch)
Ja, schön singt er! ... Ach, Lore, was bist du dumm! (aufschluchzend) Da spielt dein Kind! Dein Kind spielt da. Und du jammerst.
Lore (erschrocken)
Mariechen!
Marie (sich zusammenraffend)
Ach, es ist der Frühling ... Es ist der ... Der macht einen ganz ... Und du jammerst.
Lore (mit wehem Lächeln)
Ich jammer' ja auch nich.
Marie
Aber du schleichst 'rum und quälst dich mit deiner Schande. — Schande! Was ist Schande? ... Unser Leib ist ein Tempel ... Und Gebären ist Gottesdienst ... Nur wenn der Tempel im Bau verpfuscht wurde, dann ist es schlimm ... dann kommt der Frühling, und das Amselweibchen baut, und man selbst ist schon Ruine.
Lore
Du kannst auch noch glücklich werden, Mariechen.
Marie
Ich möcht' schon ... Aber wer wird vorliebnehmen mit mir? ... Und ich bin so mutig da drinnen! ... Ich möcht' was verpflanzen von mir in dich. Daß du den Kopf wieder hebst. — Nicht mehr wie 'n Stein bist in deinem Gram.
Lore (lacht bitter)
Marie (mit sich kämpfend)
Du — soll ich — reden mit ihm?
Lore
Du — mit ihm?
Marie (nickt)
Lore (ohne Hoffnung)
Ja, wenn du das willst. Aber noch nicht ... Wart lieber noch ... Vielleicht, daß er doch —
Marie (stockend)
Es wird mir — ja nicht — leicht fallen ... Ich kenn' ihn ja auch kaum mehr — den großen Herrn ... Aber wenn man was sehr gerne will, dann wird man's doch auch — können. — Na, freut's dich gar nicht?
Lore
(die Hand mutlos vor die Stirne legend)
Ach! ... (Es klopft)
Marie
Herein!
Die Vorigen. Jakob Biegler
(Jakob Biegler: Mitte der Dreißig, sehr dürftig, doch nicht schmutzig gekleidet, Hose von grauem Bauernvelvet, vielfach geflickt und zu kurz. Altes, blankgewordenes Jakett, gleichfalls geflickt, darunter braune Strickweste. Defektes Schuhwerk. Wäsche nirgends zu sehn. — Gelbes, zermürbtes Gesicht mit scheuen Augen und kurzem, wildwachsendem Blondbart. Auftreten gedrückt, verhetzt, bisweilen in verzweifelte Rauheit umschlagend)
Biegler
Guten Morgen.
Marie
Sie wünschen meinen Vater zu sprechen?
Biegler
Herrn Zarncke — möcht' ich sprechen.
Marie
Heißen Sie Biegler?
Biegler (betroffen)
Ach so! — Sie wissen schon. Na — dann — (Macht eine halbe Wendung zur Tür)
Lenchen
(ist zu ihm gegangen und streckt die Hand empor)
Guten Tag!
Marie
(seinen Seelenzustand erkennend)
Mein Vater hat gesagt, wenn jemand mit Namen Biegler kommt, dann möcht' ich ihn rufen.
Biegler (erleichtert)
Ja, der bin ich.
Lenchen
Nu sag doch: Guten Tag.
Biegler
(sieht das Kind, ein leeres Lächeln geht über sein Gesicht. Er weiß nicht, was tun)
Lore (sie leise zurückrufend)
Lenchen!
Marie
Nehmen Sie's als gute Vorbedeutung, daß dies Kindchen Sie willkommen heißt.
Biegler
(sieht sie groß an, versteht nicht)
Erst — muß — ich — Herrn Zarncke — sprechen.
Marie (aufstehend)
Lore, klopf, bitte, im Vorbeigehn bei Vater an (leiser) und bring dem was zu essen. Er hat's nötig.
Lore (nickt)
Komm, Lenchen. (Mit dem Kinde ab)
Marie
Nehmen Sie so lange Platz, bitte.
Biegler
Ich kann auch stehen.
Marie (ab)
Biegler. Dann Zarncke
Biegler
(alleingeblieben, wagt sich nicht zu rühren, nur seine Augen wandern umher)
Zarncke
(mit Bieglers Papieren in der Hand)
Guten Tag.
Biegler
(in straffer Haltung, wie er's im Zuchthause gewohnt war)
Melde Jakob Biegler.
Zarncke
Is gut, is gut. Sie sind hier nicht im Gefängnis. Der Verein zur Besserung entlassener Strafgefangener hat Sie mir zugeschickt. Stehen Sie unter seiner Fürsorge?
Biegler
Jawohl.
Zarncke
Wie lange sind Sie 'raus?
Biegler
Vier Monate zehn Tage.
Zarncke
Fünf Jahre haben Sie abgemacht?
Biegler
Jawohl.
Zarncke
Wegen was?
Biegler (schweigt)
Zarncke
Na — wegen was?
Biegler (auf die Papiere weisend)
Steht ja da drin.
Zarncke
(fixiert ihn, um sein Schamgefühl zu prüfen)
Da steht nur der Paragraph. Den kenn' ich nicht auswendig.
Biegler (verbissen)
Na, ich sprech's nich aus.
Zarncke
Dann werd' ich im Strafgesetzbuch nachsehn.
Biegler
Wenn Sie wollen.
Zarncke
(geht zum Bücherschrank, schlägt ein Buch auf und liest)
Hm. Schlimm. Schlimm.
Biegler
Schlimm. (Pause)
Zarncke
Na, wie is es denn gekommen?
Biegler
Wie das so kommt, wenn ein Weib dabei ist.
Zarncke
Aha ... Haben Sie's gut gehabt in Sonnenburg?
Biegler
Man war ja mit mir zufrieden.
Zarncke
Ersparnisse gemacht?
Biegler
Jawohl. Fünfundsechzig Mark fünfzig Pfennig.
Zarncke
Noch was da?
Biegler
Dann säh' ich nich so aus, Herr — Zarncke.
Zarncke
Hat der Verein Ihnen keine Arbeit besorgt?
Biegler
Zweimal haben sie mich aufs Land geschickt. Einmal als Hofgänger, das zweite Mal als Kuhfutterer.
Zarncke
Na — und?
Biegler (schweigt)
Zarncke
Ausgerissen?
Biegler (in erregter Verteidigung)
Ich hielt nicht aus. Ich — ich — ich —
Zarncke
Dann werden Sie auch bei mir nich aushalten.
Biegler
Ach, Herr Zarncke.
Zarncke
Hier steht: auf Ihre besondere Bitte schickt man Sie zu mir. Was wollen Sie gerade bei mir?
Biegler (schweigt)
Zarncke
Ja, wenn Sie nicht antworten ... Was sind Sie?
Biegler
(zaudernd, nach innerem Kampfe)
Steinmetz.
Zarncke
Ach so! — Darum! Hier steht doch — Arbeiter. (Sieht nach)
Biegler
Weil ich als Arbeiter gegangen bin.
Zarncke
Warum denn?
Biegler
Wer wird mich nehmen — als Steinmetz?
Zarncke
Sie hätten doch probieren können!
Biegler
Probiert hab' ich genug.
Zarncke
Und überall abgewiesen?
Biegler
Einmal wurd' ich eingestellt ... Zwei Tag' später kam's 'raus. Da lag ich schon auf der Straße.
Zarncke
Warum sind Sie denn nicht schon früher zu mir gekommen?
Biegler (schweigt)
Zarncke
Wußten Sie, daß ich Strafentlassene nehme?
Biegler
Ja, die Herren haben's mir gesagt.
Zarncke
Wollten Sie nich?
Biegler (zögernd)
Nein.
Zarncke
Warum nicht?
Biegler (erregt)
Nachher wird's doch nichts — — —
Zarncke
Und jetzt wollen Sie?
Biegler
Als Steinmetz will ich auch nicht. Nich als Steinmetz. — Wenn ich bloß 'ne Arbeitsstelle hätte, als Schleifer oder beim Flaschenzug, wo keiner was fragt.
Zarncke
Ich werd' mit dem Polier sprechen. Wenn ich drauf besteh' — Sie können auch als Steinmetz eintreten.
Biegler (verängstigt)
Nein, nein, nein ... dann kommt's 'raus ... dann is wieder alles ... Bloß auf den Werkplatz will ich ... Bloß w—wenn ich den — Klippelschlag hören kann. Bloß von weitem.
Zarncke
Sie waren wohl ein guter Steinmetz?
Biegler
Ach! (Zuckt die Achseln)
Zarncke (voll wärmerer Anteilnahme)
Hm. (Es klopft) Herein.
Die Vorigen. Lore (mit einem Teller, worauf Butterbrot)
Lore
Verzeihung, Herr Zarncke, Fräulein Mariechen hat befohlen.
Zarncke
Essen Sie.
Biegler
(gierig nach dem Teller sehend)
Danke! Ich hab' — keinen — Hunger.
Lore (leise, mitleidig)
Essen Sie nur.
Biegler
(blickt sich scheu um, will ein Butterbrot nehmen, sieht Zarncke fragend an)
Zarncke
Ja, ja, Sie dürfen.
Biegler
(dreht sich der Wand zu und schlingt das Butterbrot herunter)
Zarncke
Du, Lore, hol mal das Wasserglas.
Lore
(holt das Wasserglas vom Nähtisch)
Zarncke (Rotwein eingießend)
Bring ihm das. — Übrigens: wie trägt's denn der Vater?
Lore
Gott, Herr Zarncke, er schimpft ... Ja, was ich fragen wollte: darf er den Dienst noch tun, bis ein Nachfolger da ist?
Zarncke
(mit einem Blick nach Biegler hin)
Nachfolger hab' ich schon.
Lore (dem Blick folgend)
Ach so.
Zarncke
Gefällt er dir?
Lore
Ach, is 'n armer Mensch!
Zarncke
Sag's nicht, wie du ihn hier gefunden hast.
Lore
Nein, nein. (Stellt das Glas neben Biegler, ab)
Biegler. Zarncke
Biegler
(würgt eiligst den letzten Bissen hinunter und stellt sich in Positur)
Zarncke
Sie dürfen auch 'n Schluck von dem Wein trinken.
Biegler
Ja. (Äugt zweifelnd nach dem Glase)
Zarncke
Haben Sie keinen Durst?
Biegler
Erst geben Sie mir — Wein zu trinken, und dann nehmen Sie mich doch nich. Hä.
Zarncke
Erst trinken Sie mal.
Biegler
(dreht sich der Wand zu und trinkt zögernd, verstohlen)
Zarncke
Auf den Steinmetzplatz wollen Sie. Aber gewissermaßen im verborgenen. So daß keiner was erfährt, daß Sie keinem Rede zu stehen brauchen — hä?
Biegler
So was Schönes gibt's ja nich.
Zarncke
Vielleicht doch. Wollen Sie Wächter werden bei mir auf'm Platz?
Biegler
(in staunendem Nicht-glauben-wollen)
Herr Zarncke!
Zarncke
Na?
Biegler
Das is doch 'n Vertrauensposten.
Zarncke
Ja, das is es.
Biegler
Da müssen manche sogar Kaution stellen.
Zarncke (bejahend)
Hm ... Und wenn Sie Mittags ausgeschlafen haben, können Sie unter den Arbeitern mithelfen ... da fragt Sie keiner ... Na?
Biegler
Wird ja nicht lange dauern —
Zarncke
Das wird ganz von Ihnen abhängen.
Biegler
Dann kommen die Schutzleute — und recherchieren ... Und dann is aus.
Zarncke
Sie wissen doch, daß solange der Verein die Fürsorge für Sie übernimmt, die Polizei sich mit Ihnen nichts zu schaffen macht.
Biegler (fatalistisch)
Die Schutzleute — kommen doch.
Zarncke
Zu mir nicht ...
Biegler
Die Schutzleute kommen doch.
Zarncke
So hören Sie doch. Hierher kommt kein Schutzmann recherchieren. Das hab' ich mir ein für allemal verbeten. Und daß die Herren vom Verein, wenn die kommen, Sie nicht verraten werden, das können Sie sich doch denken. ... Na?
Biegler
Das wär' ja ein solches Glück, wie man sich gar nich — (Es klopft)
Zarncke
(geht zur Tür und öffnet sie)
Die Vorigen. Jenisch
Zarncke (ihm den Eintritt versperrend)
Was gibt's?
Jenisch (vom Hausflur her)
Verzeihung, Herr Zarncke — die Polizei is da — wegen —
Biegler
(zuckt heftig in die Höhe und macht eine unwillkürliche Bewegung, als wolle er sich verstecken)
Zarncke
Is gut. Soll 'n Augenblick warten. Komme gleich. (Schlägt die Türe zu)
Biegler. Zarncke
Zarncke
Na ruhig, ruhig, ruhig!
Biegler (sich wild umschauend)
Die Schutzleute kommen überall — die —
Zarncke
Unsinn! Diese Nacht is eingebrochen worden bei mir. Deshalb kommen sie. Und eben deshalb sollen Sie auch Nachtwächter werden. Verstanden?
Biegler (würgend)
Herr Zarncke — ich muß — ich — dank' Ihnen auch schön fürs Glas Wein ... ich ... kann nich in Dienst ... ich muß — wieder weg.
Zarncke (schüttelt den Kopf)
Ja, zwingen kann ich Sie nich ... (Nach einem Schweigen) Haben Sie denn andere Arbeit in Aussicht?
Biegler (verneint)
Zarncke
Wer nicht Arbeit hat von euch, wird abgeschoben von der Polizei ... Unbarmherzig ... Wissen Sie das?
Biegler (bejaht)
Zarncke
Na und dann?
Biegler (zuckt die Achseln)
Zarncke
Schließlich zieht der Verein auch noch seine Hand von Ihnen — und was dann?
Biegler (zuckt die Achseln)
Zarncke
(plötzlich seinen Ton ändernd)
Nu komm mal her, min Sähn. Komm, komm, komm, komm. (Zieht ihn nach vorne) Bienchen hast du doch keine?
Biegler (schüttelt den Kopf)
Zarncke
Na dann setz dir mal. (Zieht ihn in einen Stuhl) Du bist nu man büschen verbiestert, min Sähn ... Wat dir da im Kopp spukt, das will ich gar nich wissen ... Is auch ganz egal. Nu laß man schon büschen sorgen für dich. (Strenge) Und jetzt geschieht folgendes: Du kriegst mal zuerst 'n Anzug von mir ...
Biegler
(an sich niedersehend, freudig)
Ja, ja, ja, ja.
Zarncke
Du, du hast ja gar nich mal 'n Hemde an!
Biegler (eifrig, voll Ehrgefühl)
Jawohl — hab' ich. (Reißt, um das Hemde zu zeigen, die Strickweste auf) Da! (Beschämt) Bloß — Kragen hab' ich nich.
Zarncke
Also das kriegste alles auch. Und 'n warmen Mantel. Denn Nachts is noch kalt ... Und dann kriegst du 'ne Pfeife und 'ne Schnarre. Und die Kontrolluhren, die bis zum Abend ankommen, die erklär' ich dir. Wohnen tust du drüben im Sägewerk. Und essen tust du in der Kantine bei der Lore, die dir das Butterbrot gebracht hat. Verstehste?
Biegler (wie vorhin)
Ja, ja, ja, ja.
Zarncke
Und nun kümmerst du dich um Dodt und Deiwel nich mehr. Und so wollen wir langsam wieder 'n Menschen aus dir machen. Hä?
Biegler (nickt willenlos)
Zarncke
Na also.
(Der Vorhang fällt)
Der Werkplatz. Links das Wohnhaus mit vorspringender Veranda und einem Balkon darüber, zu dem aus dem oberen Stockwerk eine Glastür führt. Zu ebener Erde ein Fenster. Rechts die Kantine mit einer Tür in der Seitenwand und einem nach der Rampe zu gerichteten Fenster, vor dem eine Bank steht. Hinter der Kantine, ein wenig vorspringend, das Magazin, mit einer Tür und einer daneben angebrachten Glocke. — Im Hintergrunde rechtwinklig zum Magazin ein offener, von Holzpfeilern getragener Schuppen, der sich mit seiner Hinterwand an die senkrechte Erhöhung lehnt, welche den hinteren Teil des Werkplatzes bildet und zu der in der Mitte des Hintergrundes eine schmale Treppe emporführt. Links von der Treppe mehrere hochaufgestapelte Steinblöcke, welche die Höhe des hinteren Teiles übersteigen. Über einem der Stapel ein Kran. Eine schmale Feldbahn zum Transport der Blöcke führt an den Stapeln, der Treppe und dem Schuppen vorüber quer über die Bühne. Blöcke liegen überall verstreut. An den Wänden des Schuppens und der Häuser stehen und hängen, wo nur ein Platz sich findet, Gipsmodelle: Figuren, Reliefs, Ornamentstücke. Die Veranda ist mit Schlingpflanzen bewachsen, ein Baum neigt sich über ihr Dach. Das Kantinenfenster schmücken Blumentöpfe. Den Prospekt bildet eine großstädtische Häuserreihe, die jenseits der am Werkplatz entlangführenden Straße gedacht ist. Ein Kirchturm ragt aus der Ferne herüber
(Beim Aufgehen des Vorhangs zeigt der Platz ein überaus reiches Arbeitsleben. Vor den Blöcken arbeiten Steinmetzen[S. 52] oder Bildhauer, die ersteren mit blauer Schürze, die letzteren mit langem, weißgrauem Kittel und Papier- oder sog. Raffaelmütze bekleidet. Der Kran ist im Gange. Niedrige Wagen transportieren Blöcke vorüber. Hilfeleistende Arbeiter in beliebigem Werktagsanzug. Mittagsstimmung)
Vorne rechts Göttlingk in Steinmetzentracht vor einem Blocke — ein Gipsmodell daneben. Der Polier Willig an einem anderen Blocke, messend. Unter den Arbeitern, die sich hinten zu schaffen machen, Lohmann, Sprengel, Struve
Göttlingk
(stämmig, mittelgroß, Stiernacken, blonder, schön geringelter Schnauzbart, Haar in geschniegeltem Bogen in die Stirn heruntergestrichen. Spielt den Kraftmenschen, großsprecherisch, übermütig, brutaler Charmeur. Er arbeitet mit Meißel und Klippel und singt dazu)
Na — nun kommt auch noch die Sonne angekrochen. He, ihr Zitronenschleifer da hinten, hab' ich euch nich gesagt, ihr sollt mir den Block in den Schuppen schaffen? — Lohmann, Sprengel, ihr andern, immer 'ran!
Willig
Du, Göttlingk, schnauz hier nicht so viel. Sag's lieber mir.
Göttlingk
Du hast mir gar nischt zu befehlen, mein Sohn.
Willig
Und du hast denen nischt zu befehlen.
Göttlingk
Wenn sie so dumm sind und gehorchen. (Lohmann, Sprengel und ein dritter Arbeiter sind nach vorn gekommen) Da, wie sie anhampeln! Hab du sie man so an der Strippe wie ich. (Befehlshaberisch) Also nu los!
Lohmann
Warten Sie man bißchen, hochgeborner Herr. Zehn Finger hat jeder zu verlieren. (Stemmt ein Brecheisen ein)
Göttlingk
Brecheisen weg! Ihr werd't mir die Kanten abstoßen.
Sprengel
Ohne Brecheisen geht's nich.
Göttlingk
So? Hä! Wenn ihr man stramme Kerls wärt, ihr Volk ... (Faßt mit an) Uno — due — tre! (Der Block rückt weiter) Na, geht's oder nich?
Lohmann
Ja, wenn Sie so scheen ausländsch kommandieren! Sagst du zum Hund »kusch«, dann kuscht er. Bloß weil er's Franzesch so gern hat.
Göttlingk
Noch mal: uno — due — tre! (Der Block rückt wieder) Ja, ja, Kerlchens. Grips im Kopp und Marks in de Knochen. Das ist die Hauptsache.
Lohmann
Und 's Messer im Sack nich zu vergessen.
Göttlingk
Lassen Sie man mein Messer in Ruh, mein alter Sohn. (Zieht ein Dolchmesser aus einer Lederhülse, die er am Leibgurt unter dem Kittel befestigt hat) Das is dreikantig geschliffen.[S. 54] Das schlupft (schnalzt, das Messer vorstoßend, mit den Lippen) wie 'n Küßchen ... Tut gar nich weh. Will einer probieren?
Willig
(der mißbilligend zugehört hat)
Du — Göttlingk!
Göttlingk (zu ihm herübertretend)
Hä?
Lohmann (hinter ihm her, ingrimmig)
So 'n Paradehengst! (Die andern lachen)
Willig
Mach dich nich immer mit den Kerls gemein. Laß sie ihre Arbeit verrichten. Und damit gut!
Göttlingk (großspurig)
Pöh! Ich bin nu mal so 'ne leutselige Natur.
Willig
Mußte immer Bewunderer haben?
Göttlingk
(wendet sich lachend zum Stein zurück und kommandiert weiter)
Die Vorigen. Zarncke (ist aus der Veranda getreten)
Zarncke
Polier!
Willig (respektvoll)
Herr Zarncke.
Zarncke
Is was zu melden?
Willig
Nein, Herr Zarncke.
Zarncke
Was tut der Kran da?
Willig
Er holt die Quadern fürs Sägewerk.
Zarncke
Bis morgen abend muß auch der Oberkirchner Block dort an der Treppe 'runtergeschafft werden, damit er Montag in Arbeit genommen werden kann.
Willig
Sehr wohl, Herr Zarncke.
Zarncke
Wie is die Verteilung heute?
Willig
Elf Steinmetzen auf'm Platz, fünfzehn draußen auf'm Bau, vier Bildhauer auf'm Platz, sechs auf'm Bau.
Zarncke
Wo is der Göttlingk heute?
Willig
Da is er ja.
Göttlingk
(den Stein betrachtend, dessen senkrechte mit Ornamenten bedeckte Seite jetzt oben liegt)
Donnerschock! Per Bacco! Den ganzen Dreckplatz soll der Deiwel holen! Du, Polier, komm mal her.
Zarncke
Was schimpfen Sie denn heute so wild um sich, Göttlingk?
Göttlingk
(lüftet einigermaßen verlegen die Mütze)
Verzeihung, Herr Zarncke, aber das soll wirklich der Deibel holen. Wie ich den Block drehen lass', da seh' ich, daß von gestern auf heute eine fremde Hand daran 'rumgemurkst hat.
Zarncke
(stutzt, ein Verdacht steigt in ihm auf)
Ach, Sie werden sich täuschen. (Tritt hinzu)
Göttlingk
Weil mir das schon einmal passiert war, hab' ich mir zu Feierabend immer 'n Zeichen gemacht ... Da, bitte!
Zarncke (den Stein betrachtend)
Von dem Blaustrich an?
Göttlingk
Jawohl.
Zarncke (nachdenklich, lächelnd)
Hm. So! — Das is aber nich schlecht gemacht. Da ist Schwung drin. Wenn sich die Heinzelmännchen extra für Sie bemühen, Göttlingk!
Göttlingk
Wenn ich das Heinzelmännchen treff', dann gibt's eins zwischen de Rippen ... Was is das für'n Nachtwächter, der Kerl, der jetzt Nachmittags hier 'rumschleicht, wenn er so was zulassen kann? ... Das ist schlimmer wie Einbruch.
Zarncke (der abzulenken sucht)
Was hat denn der Nachtwächter damit zu tun? Wenn's finster is, kann man nich arbeiten.
Willig
Verzeihung, Herr Zarncke. Um fünfe, da is es schon lang hell.
Zarncke (beruhigend)
Ich werd' den Mann hernach mal fragen.
Göttlingk (murmelnd)
Das besorg' ich schon selber.
Zarncke
(mit Willig nach vorne kommend)
Sagen Sie mal, Polier, wie macht sich der Nachtwächter im übrigen auf'm Platz?
Willig
Der Mann ist fügsam und ordentlich und kann sich an Fleiß nicht genug tun. Aber — schwach, Herr Zarncke.
Zarncke
Tja!
Willig
Und dann — 'n bißchen sonderbar.
Zarncke
Inwiefern? (Ringsum ertönen Mittagssignale)
Willig
Er hält sich immer abseits. Gibt kaum Antwort. Manche fangen ihn schon zu verulken an.
Zarncke
Dulden Sie das nich, Willig!
Willig
Ja, da kann ich nich viel machen, Herr Zarncke.
Zarncke
Warum läutet denn der Eichholz nich Mittag? Eichholz!
Willig (zur Kantinentür laufend)
Eichholz!
Die Vorigen. Eichholz
Eichholz (angeheitert)
Haben bloß zu befehlen, Herr Zarncke! Wie der Blitz bin ich da — ja! (Läutet die Glocke, die am Magazin hängt)
Zarncke (sieht kopfschüttelnd zu)
Willig
Er is jetzt immer im halben Dusel.
Eichholz (sich umschauend)
Na — schläft der — faule Hund — noch?
Zarncke
Möchten Sie nu mal den Frauen das Tor aufschließen?
Eichholz (brummend nach links)
Willig
Nu geht er noch in die Destille!
Zarncke
Is das ein Elend!
Die Vorigen. Mehrere Frauen. Später Lore
(Sämtliche Arbeiter haben ihre Werkzeuge niedergelegt, einzelne gehen zu den Wasserleitungshähnen, die im Schuppen angebracht sind und waschen sich. Andere holen dicke Butterstullen und Blechkannen hervor und beginnen zu essen. Frauen kommen von links mit Eßkörben und begrüßen ihre Männer. Einzelne haben auch ihre Kinder mitgebracht, die sich mit den Eltern um den Eßkorb gruppieren)
Zarncke
(begrüßt eines und das andere, teilt Bonbons aus, wünscht den Frauen »Guten Tag« und spricht einige Worte zu den Männern)
Lore
(erscheint in der Tür der Kantine und geht zu verschiedenen der Bildhauer und Steinmetzen)
Bitte zu Mittag. — Bitte zu Tisch. — Zu Tisch möcht' ich bitten. (Lauter) Wem kann ich Bier 'rausschicken?
Einzelne Stimmen
Hier. Ich. — Mir eins.
Lore (zählt die Stimmen)
Göttlingk
(betrachtet murrend seinen Block)
Lore
(an ihn herantretend, leise zaghaft)
Kommst nich auch, Eduard?
Göttlingk (sich umschauend, unwirsch) Hab' ich dir nicht gesagt, du sollst mich nich »du« nennen auf'm Platz?
Lore Verzeih! Ich hab' vergessen. (Zur Kantine ab)
(Verschiedene Bildhauer und Steinmetzen gehn zur Kantine, darunter Göttlingk)
Zarncke
Gehn Sie auch zu Tisch, Willig. Übrigens hören Sie mal: Mit dem Struve steht's schlecht. Den wird uns das Kriminal bald abholen.
Willig (achselzuckend)
Ja.
Zarncke
Ach, schicken Sie ihn mir mal, — ja?
Willig (rufend)
Struve!
(Struve steht von einem hinteren Steine auf, wo er unbemerkt gesessen hat. Willig spricht im Vorbeigehn zu ihm und weist nach vorne, dann geht er in die Kantine ab)
Die Vorigen ohne Willig. Struve (nach vorne kommend)
Struve
(Mann in den Vierzigern. Ergrauendes Haar, blank und gelockt. Bartstoppeln. Verschmitzte Äuglein. Ein Zug drolliger Heuchelei um die Mundwinkel. Arbeitskleidung mit wollenem Halstuch und Holzpantinen. Trägt einen Deckelnapf in der einen, eine faustdicke Butterstulle mit Taschenmesser in der andern Hand. Bei dem Versuch, die Mütze abzunehmen, fällt ihm das Butterbrot auf die Erde)
Zarncke
Sachte, sachte! Nu is die janze Pastete in den Sand gefallen.
Struve
(das Butterbrot an den Hosen abwischend)
Das macht nichts, Herr Zarncke. »Mit ne Ladung Sand — schmeckt selbst 'n alter Strohsack pikant,« sagten wir immer uf de hohe Schule.
Zarncke
Na, nu werden Sie ja bald wieder drinsitzen in Ihre hohe Schule.
Struve
Ja, Herr Zarncke, was kann man machen?
Zarncke
Mensch, wenn's mir nich so leid täte um Sie —
Struve
Nu haben Se man guten Mut, Herr Zarncke ... Mir hat's auch mal leid getan. Aber nu is schon egal.
Zarncke (leise)
Na, sind Sie's nu gewesen oder nich?
Struve
Herr Zarncke, wenn ich gleich hier meinen Totenschein in die Hand nehm' —
Zarncke (lachend)
So 'n Halunke wie Sie! ... Sie wissen doch, die Untersuchung geht weiter?
Struve
Ja, die Polente schnüffelt ja alle Tage hier 'rum.
Zarncke
Sagen Sie mal, können Sie nu wirklich keinen Zeugen dafür beibringen, wo Sie in den Stunden des Einbruchs gewesen sind?
Struve
Was man so nennt: einen Aal-ibi, Herr Zarncke?
Zarncke
Jawohl.
Struve
Ja, sehn Sie mal, was 'n wirklich reeller Aal-ibi is — der kost't nich unter fünfzig Mark. Wo soll ich fünfzig Mark hernehmen, Herr Zarncke?
Zarncke (lachend)
So?
Struve
So 'ne Brieder, die schon wegen Meineid verschütt jejangen sind, die tun's auch billiger ... Meechens auch. Aber die kriegen's vor Gerichte hernach mit die Heulerei ... Nee, das sind alles keine reelle Sachen.
Zarncke
Na, und wenn sie Sie nu gleich mitnehmen?
Struve
»Der Gerechte muß viel leiden,« so steht in de Psalmen geschrieben.
Zarncke
Hören Se auf mit Ihre dämliche Muckerei. Glaubt Ihnen ja doch keiner ... Mensch, Mensch, wie hau' ich Sie nu 'raus?
Struve
Hätten gar nicht anzeigen müssen. Sehn Se, nu sitzen Se drin, Herr Zarncke.
Zarncke (lacht)
Marie (das Fenster öffnend)
Vaterchen, kommst nich zu Tisch?
Zarncke
Gleich, Miezelchen ... Also ich werd' mal nachdenken. Vielleicht fällt mir noch was ein.
Struve
Ganz wie Sie meinen, Herr Zarncke.
Zarncke
Ulkiges Huhn! ... Hier haben Sie 'ne Zigarre. (Ab)
Struve
Danke, Herr Zarncke. (Die Zigarre einsteckend) Ja, ja. Sie rüsten sich wider die Seele des Gerechten und — (sieht, daß Zarncke inzwischen weggegangen ist) Ach so! (Setzt sich auf den vordersten Block, kratzt an seinem Butterbrot und fängt an zu essen)
Struve. Lohmann. Sprengel, ein dritter Arbeiter, die essend auf dem Block hinter ihm sitzen
Lohmann
Na, wie lange werden sie dich deinen Knast Brot noch 'runterfuttern lassen, Struve, ehe sie dich inlochen?
Struve (achselzuckend)
Ja.
Lohmann
Nachher gibt's zu Mittag wieder »Rumfutsch« und »blauen Heinerich«. Ei weh.
Struve
Kindersch, babbelt nich von so hohe Sachen. Das versteht ihr nich.
Sprengel
Der tut sich noch dicke auf sein Zuchthaus.
Struve
Nu ob. Da kommt ihr noch lange nich rin. Da sind bloß feine Leute drin. Ja.
Die Anderen (lachen)
Lohmann
Drum heißt es auch die hohe Schule.
Struve
Jawoll. Da lernt man was. Hast du überhaupt 'ne Kleiderbürschte? Die hat mir der Staat immer franko geliefert. Aus lauter persönlicher Hochachtung ... Oder gar 'ne Zahnbürschte? Aber ich — siehste! ... Kiek dir mal an, wie der Dreck an dir 'rumklebt ... Aber wir machen dort zu Mittag immer Toi—lette. Und Handtuch tragen wir immer auf'n Arm, da laufen wir den janzen Tag mit 'rum. Vor lauter Feinheit. Ja.
Die Anderen (lachen)
Struve
Überhaupt, was bist du hier? Und was bin ich hier? Und was sind wir alle hier? ... Dreck sind wir. Hoch über dir kommen erst die Steinmetzen ... und da hoch drüber die Bildhauer. Und denn noch höher der Polier ... Und denn gar erst ... ach! Dort hab' ich immer in de erschte Klasse gearbeit't ... Weiße Binde hab' ich tragen dürfen. Tischältster bin ich gewesen. Das is mehr wie der Polier. Das is wie 'n Jeneral ... Das kannste alles[S. 65] werden, wenn de ins Zuchthaus kommst ... Karri—ere kannste machen. Ja.
Lohmann (singt spottend)
Struve
Nu ja. Verdient euch mal erst 'n halben Schwimmling. Ihr geht hier zur Lore und schnauzt: Hering — aber 'n milchernen — mit Zwiebel — viel Zwiebel ... janzen Berg Zwiebel, und dann schmeckt er noch nich mal ... Ich sag' euch: ... wollt ihr 'n wirklichen duften, leckern Schwimmling, da müßt ihr in de Anstaltsküche kommen. Die verstehn det Jeheimnis ... Da kitzelt euch die Schnauze von — noch Abends beis Einschlafen. So viel scheener ist da alles. Ja.
Lohmann
Wenn da alles so viel scheener is, wat machste denn nich wieder hin?
Sprengel
Da hast du doch freien Angtree.
Struve
Kindersch, ick werd' euch mal was erzählen: Dicht an de große Außenmauer in Waldheim — da steht nämlich 'ne alte Linde ... Und von de Fisintation aus, was nämlich der Arbeitssaal is, da siehste 'n janzes kleines Stückschen von ... Und von'n Spazierhof aus, wo du immer sechs Schritt hintern Vordermann herzoddelst, (stolz) bloß nicht wir von de erste Klasse, wir jingen natierlich[S. 66] immer zu zweie — wenn du da — und du huppst in die Höh', dann siehst wieder 'n andern Stückschen — so sechzig bis achtzig Blätter, wodran du immer jenau wissen kannst, was für Jahreszeit is ... Und nun hat uns immer und ewig der Deibel geplagt, daß wir auch mal den janzen Lindenbaum sehen wollten, denn der soll nämlich der scheenste Lindenbaum sein, wo's auf de Welt überhaupt jibt. Das soll schon in de Geschichtsbicher stehn ... Na, und wo nu endlich der Tag da is von de Entlassung, und wo einem das Herz bis in'n Kopp 'raufbummert — und wo nu das innere Tor aufjeschlossen wird — na, da is er nu — und da is er 'n janz jemeiner oller, ekliger Lindenbaum. Na — und so war denn hernach alles — janze Freiheit.
Lohmann
Nu — wenn du das nu schon weißt? —
Struve
Was hilft da viel — wissen. Der Mensch is 'n dämliches Vieh. Wie ich 's zweite Mal drinsaß, da war der olle, dämliche Lindenbaum noch viel scheener geworden.
Die Anderen (lachen)
Sprengel
Ja, wenn's so is.
Struve
Überhaupt — ihr Schafsköppe mit eure sogenannte Freiheit! — Geschunden! hin und her geschmissen! Liegste im Sonnenschein uf ne scheene Planke, kriegste den Holzbock in de Waden; haste keene Arbeit, kannste jehn den Chausseegraben austapezieren. Willste mal geradaus — jeder Mensch will mal geradaus — und als dir kommt[S. 67] nu 'ne verschlossene Tür in de Quere — und du willst doch geradaus, dann stecken sie dir ins Kittchen. Das heißt nu Freiheit. Kindersch, ick hust' auf eure Freiheit. Seine Ordnung muß der Mensch haben. Seine Ordnung hat der Mensch bloß allein im Zuchthaus.
Die Anderen (lachen)
Struve
Mir hat überhaupt bloß eins gefehlt. Dann wär' ich auch janz komplett jlücklich gewesen.
Sprengel
Das war wohl eene Braut?
Struve
Ne.
Lohmann
Zwei Brauten?
Struve
Ne.
Lohmann
Na was denn sonst?
Struve (träumerisch)
Das war 'n Rasierspiegel ... Wenn ich den noch hätt' gehabt — —
Die Vorigen. Biegler (von rechts)
Biegler
(in anständiger Arbeitskleidung. Sein Bart ist gestutzt, sein Aussehen gebessert, aber sein Benehmen noch scheu und unumgänglich, voll immer neu aufflackernden Mißtrauens. Er setzt sich auf die Bank vor das Kantinenfenster)
Lohmann
Kiekt mal den da! ... Was is das eigentlich für 'ne Sorte? Reden tut er nich, »guten Tag« sagt er nich.
Biegler
(gewahrend, daß man sich mit ihm beschäftigt, unfreundlich, dumpf)
Guten Tag.
Struve
Na sagt ja.
Lohmann
War auch danach. Guten Tag, hochwohlgeborener Herr Nachtrat! ... Kommen der Herr Dunkelmann 'n bißchen de Sonne revindieren?
Sprengel
Mensch, nu red doch was!
Biegler
Was soll ich reden?
Sprengel
Mach doch 'n Witz.
Biegler
Ich weiß keinen Witz.
Lohmann
Der Kerl is trocken wie Galgenholz.
Struve
Nu sag bloß, Mensch, wie amesierste dir nu so die lange Nacht über? Putzte de Sterne blank? Ziepste dir an de Barthaare? Wirfste de Meechens, wo auf de Straße vorbeigehn, Klamotten auf'n Kopp? ... Irgend was muß der Mensch doch zu tun haben de lange Nacht über!
Biegler
Ach, ich hab' immer zu tun.
Lohmann
Tranig is das Luder.
Sprengel
Wat huckste da uf de Banke? Warum jehste nich ze Mittag?
Biegler
Jetzt essen doch die — Steinmetzen. Da kann ich doch nich auch essen.
Lohmann
Nu dann komm doch mal her so lang ... Na — los!
Biegler (erhebt sich zögernd)
Was soll ich bei euch?
Sprengel
Trink mal aus meine Buddel. Prost.
Biegler
Danke. Ich trinke keinen Schnaps.
Lohmann
Ach, du bist wohl auch so 'n Pinkelinker? So 'n Pumpengenie?
Biegler
Sonst habt ihr nichts zu wollen von mir?
Sprengel
Nu huck dir doch mal erst dal. (Zieht ihn auf den Block nieder)
Lohmann (weiterrückend)
Setzen Sie sich ruhig in die Sonne, verehrte Schattenpflanze.
(Lachen)
Biegler
Ich tu' dir doch nichts, warum uzt du mir?
Lohmann
Ich uz' dir doch gar nich. Ich schmeichel' mir bloß so an dir ran.
Struve
Sag mal, Mensch, was biste vorher gewesen? Eh' du hier Nachtwächter wurdst?
Biegler (erschreckend)
Ich? — Ich bin Arbeiter.
Lohmann
Kirschenpflücker vor de Wintermonate — hä?
Struve
Du kommst mir nämlich so bekannt vor, weißte.
Biegler (angstvoll)
Ich — dir? Nee — daß ich nich —
Struve
Nich, als ob ich dir kennen tu'. Aber du hast so 'ne Art ... Bei uns in Waldheim da hatten wir so 'n paar. Wir nennten se immer »de blamierten Förschten«. — Du, wo liegt denn dein Förschtentum?
Lohmann
Markgraf von Brandenburg, Fürstbischof von Moabit, Edler Herr von und zu Sonnenburg.
Biegler (zuckt zusammen)
Lohmann
Du plinkst ja immer so mit 'n rechten Vorderarm.
Sprengel
Laß ihm man in Ruh. Das is 'n guter Kerl ... der is bloß verschüchtert.
Lohmann (gutmütig)
Ich mach' ja auch bloß 'n Witz.
Struve
Da — willste 'ne Zijarre?
Biegler (verblüfft)
Wieso — gibst — du mir —?
Struve
Kannst nehmen ... die is jut ... die hat mir der Alte vorher geschonken.
Biegler
(noch immer verwundert, sein Gesicht erhellt sich)
Na, denn dank' schön ... Ich werd' mir denn auch später — revanschieren.
Lohmann
(ihn auf die Schulter klopfend)
Na, meinen wir's denn nu so beese?
Biegler (mit glücklichem Gesicht)
Nee! Wahrhaftigen Gott nich!
Lohmann
Na siehste! (Nach links weisend, wo Eichholz sichtbar wird) Aber vor dem Alten nimm dir in acht. Der is dir nich jrien.
Die Vorigen. Eichholz
Eichholz (vollends angetrunken)
Ich bin ein Mann — hochgeehrt, — ich brauch' nich — Kartoffelsuppe aus'n Steinguttopp — fressen! Morjen, die Gesellschaft! Morjen, die hochgeehrte Gesellschaft! (Biegler bemerkend) Was? — Was will der Hund? Der schmalbauchige Hund? M — M — Mantel hat er ihm geschenkt — mit blanke Knöppe — wie 'n Offezier! Was is der Kerl überhaupt? Wo kommt der verhungerte Kerl her?
Lohmann
Das geht dir jar nischt an. Wenn er man seine Pflicht tut.
Eichholz
Pflicht tut? Hähähä! Der is bloß zum Rausfuttern hier. Der is hier auf Eichelmast wie de Nuck-Nuck-Schweinchen. Wann hab' ich mal blanke Knöppe gekriegt? Kerl, durch was für Pfiffe und Kniffe bist du auf den Posten gekommen? Zieh mal vom Leder, du Hund!
Biegler
Lassen Sie mich in Ruh. Ich habe mit Ihnen nichts zu tun.
Eichholz
Was krauchste immer bei meine Tochter 'rum? Dir jibt se 'n Porzellanteller. Du wirst noch mal — platzen[S. 73] — wie 'n Bovist. Und dann wird man an dem Gestanke erkennen, wer du bist. Mensch, ich hab' 'ne Faust wie 'ne Ramme! (Dringt auf ihn ein)
Biegler (stößt ihn fort)
Eichholz (zurücktaumelnd)
Was — hauen — tust du mir alten Mann?
Die Vorigen. Göttlingk und andere Bildhauer und Steinmetzen
Göttlingk
Was is hier los?
Eichholz (keuchend)
H—h—hauen — m—m—ir—!
Göttlingk
Wer hat den alten Mann gehauen?
Struve
Is ja alles Blech!
Göttlingk
Werd' ich nu bald Antwort kriegen?
Lohmann (kleinlaut)
Hier hat überhaupt keiner gehauen.
Eichholz (mit erhobener Faust)
Der Hund! — der verhungerte — (Einige der Umstehenden führen ihn nach hinten)
Göttlingk
Sieh mal an! ... Kommen Sie mal ran, Sie! ... Na?
Biegler
Ich tu' hier, was ich zu tun habe. Sie gehn mich nischt an.
Göttlingk
Das werd' ich Ihnen mal gleich beweisen. Eins — zwei — (pfeift)
Struve (leise)
Da geh man schon. — Jegen den Großschnauz kommste nich auf.
Lohmann (leise)
Der sticht mit's dreikant'ge Messer.
Göttlingk
Wenn ich »drei« sag' —
Biegler (blaß, schwer atmend)
Sie können — ja auch zu mir kommen.
Göttlingk (pfeifend)
Ich warte.
Biegler (in Erregung, zitternd)
Da lassen — sich man — die Zeit — nich lang werden.
Die Anderen (lachen)
Göttlingk (in Wut)
Wer riskiert hier zu lachen? ... Soll ich meine Pfeife mit euch stoppen, Kerls? (Das Lederfutteral nach vorne ziehend) Soll ich euch mal die Hühneraugen barbieren? (Da Lohmann, Sprengel, Struve sich vor Biegler gestellt haben) Aus dem Weg hier!
Lohmann (sich umschauend)
Wo is denn der Polier?
Göttlingk
Jetzt bin ich hier der Polier. (Wild) Aus dem Weg hier — oder —
Biegler (vortretend)
Laßt man. Wegen mir soll hier keiner Ungelegenheiten haben. —
Göttlingk (befriedigt)
Na, da hätten wir ja das Gewächse. (Setzt sich, raucht) Immer parieren, Kinderchen.
Biegler
Also ich wär' ja nu da.
Göttlingk
Das seh' ich. Was den alten Knackstiebel betrifft, den wollen wir mal auf sich beruhen lassen. Aber wir haben noch 'n Hühnchen zu pflücken, wir beide. Sie sind doch der neue, krumme Kerl von Nachtwächter?
Biegler
Neu bin ich hier ... Krumm bin ich wohl auch.
Göttlingk (auflachend)
Und Nachtwächter auch?
Biegler
Ja.
Göttlingk
Dann kieken sich mal hier diesen Block an. Na — soll ich Sie bei den Ohren nehmen?
Biegler (stammelnd)
Was — is — denn — mit dem Block?
Göttlingk
Sie sind verantwortlich für das, was hier über Nacht geschieht. Ich frag' Sie: Wer hat da an meinem Block rumgemurkst?
Biegler (sehr bestürzt)
Das —
Göttlingk
Na?
Biegler
Das — weiß ich — doch — nich.
Göttlingk
Seht euch mal das böse Gewissen an.
Struve (leise)
Nu sei doch frech! Schmeiß ihm doch Staub ins Gesichte.
Die Vorigen. Frau Homeyer. Marie
Frau Homeyer
(geht quer über den Platz zu der Gruppe hin)
Göttlingk
(sich rasch vom Wüterich in den Schwerenöter verwandelnd)
Oi, da kommt ja hoher Besuch, feiner Besuch, pikefeiner Besuch. Nu, mein süßes, strammes Frau Homeyerchen, mein —
Frau Homeyer (ihn abwehrend)
Man wird schließlich nich mal mehr unbelästigt auf den Platz kommen können.
Göttlingk
Aber Kindchen, Puppechen! Sie waren doch sonst nich so. Ich hab' Ihnen doch manches liebe Mal in Ihren warmen, sanften Oberarm gekniffen.
Frau Homeyer
Und haben immer noch von mir auf die Finger gekriegt.
Göttlingk
Aber gelächelt haben Sie dazu — so sieß! (Schmachtend) Ach, wie so sieß!
Frau Homeyer
Ach, Sie sollten sich was schämen. Dort vor der Tür steht das Fräulein. Das will Sie sprechen.
Göttlingk
Das Fräulein — mich? — Mich — das —? So! Na! Sie, Nachtwächter, Sie können abrutschen. Aber Sie werden mir noch Rede stehn. Verstanden? —
Lohmann (leise)
Hab man keine Bange vor dem!
Struve (leise)
Und wenn du für irgend was 'n Zeugen brauchst, ick beschwör' alles ... Unbesehn.
Biegler
Ich dank' euch schön.
Göttlingk
(dreht eitel seinen Schnurrbart)
Na, bin ich nu nobel genug fürs Fräulein? (Geht nach vorne links)
Frau Homeyer
(schaut verliebt hinter ihm her, einer der Steinmetzen umfaßt sie von hinten, sie schlägt nach ihm, die andern lachen, sie geht nach links)
Biegler (nach der Kantine ab)
Marie. Göttlingk. Die anderen im Hintergrund
Marie
(ist bebend die Stufen heruntergestiegen und streicht sich, wie um sich Mut zu machen, mit der Hand übers Gesicht)
Göttlingk
(linkisch, mit durchbrechender Frechheit)
Mahlzeit, Fräulein.
Marie (tonlos)
Gesegnete Mahlzeit!
Göttlingk
Möchte mir die ergebenste Frage erlauben, womit ich dem Fräulein dienen kann?
Marie
Herr Göttlingk, Sie sind lange weg gewesen.
Göttlingk
Jawohl, bißchen de Welt besehen. Aber nu bin ich schon lange wieder da.
Marie
Das freut mich, daß Sie wieder da sind, Herr Göttlingk.
Göttlingk
Nu, das is ja höchst schmeichelhaft für mich. Danke schön.
Marie (rasch, ängstlich)
Nein, nein, der Lore wegen.
Göttlingk
Der Lore wegen. Ach so ... Na, das geht so seinen Weg.
Marie
Was für 'n Weg, Herr Göttlingk?
Göttlingk
Wissen Sie was, Fräulein Mariechen? Beunruhigen Sie sich darüber nicht. Da sind Sie viel zu fein zu. — Das sind solche Geschichten.
Marie
Sie wissen wohl gar nicht, Herr Göttlingk, wie lieb Sie die Lore hat?
Göttlingk
Mädchen mit 'n Kind hat einen immer lieb. Dafür sorgt schon der liebe Gott.
Marie (ihn bestürzt anstarrend)
Herr Göttlingk, so schlecht können Sie doch gar nicht sein. Wenn die andern auch sagen, Sie seien gewalttätig und — Ich habe Sie immer für einen guten und edeln Menschen gehalten.
Göttlingk
Na, macht sich!
Marie
Und ich weiß, aus Ihrem Singen spricht ein weiches Herz. Ich habe Ihnen immer mit Freuden zugehört.
Göttlingk
So? Na, ich hab' auch sozusagen immer extra für Sie gesungen, Fräulein Mariechen.
Marie (tödlich erschrocken)
Wieso — für — mich?
Göttlingk
Nu, weil ich schon weiß, daß Sie dann immer 's Fenster aufmachen. Also müssen Sie's doch gerne haben. Ich tu' immer, was Sie gerne haben. Jawohl. Mach' ich.
Marie (außer Fassung)
Es handelt — sich hier — aber gar nicht — um mich.
Göttlingk
(in trumpfender Männlichkeit)
Warum eigentlich nich, Fräulein Mariechen? Warum soll es sich nich auch 'n mal um Sie handeln?
Marie
(sprachlos, ratlos, schließt für einen Augenblick die Augen, dann — da sie Zarnckes Stimme in der Veranda hört, eilt sie hilfesuchend auf ihn zu)
Vaterchen! Vaterchen!
Göttlingk (seinen Schnurrbart drehend)
Sieh mal an! Sieh mal an! (Geht nach hinten)
Die Vorigen. Zarncke. Kriminalkommissar Reitmaier
Zarncke
Na, was denn, Miezelchen? (Ruft) Frau Homeyer! (Sie hängt in seinem Arm, er streichelt ihre Wange und übergibt sie dann Frau Homeyer, die für einen Augenblick in der Tür erscheint) Sie werden entschuldigen, Herr Kommissar! Sie is 'n bißchen kränklich ...
Reitmaier
(Mann Mitte der Vierzig, rund, breitschultrig, strohblonder Schnauzbart, Pincenez. Gemachte Jovialität, die gelegentlich in brutale Schärfe umschlägt. Ein wenig Bierbruder mit Ausblick zum Offiziertypus)
Ach, es ist mir ja immer höchst fatal, wenn ich so das Privatleben der Herrschaften stören muß. Ich werd' Sie auch nicht lange aufhalten. Ich bin nur beauftragt worden, mal 'n bißchen nachzuhören, was mein Kollege vom Revier da — — Haben Sie man keine Bange. Ich bin 'ne menschenfreundliche Natur. Ich mach' das alles gemütlich. Die Herren Spitzbuben — die sind mir so wie 'ne große Familie.
Zarncke (erfreut, bewundernd)
Ach — ne — wirklich?
Reitmaier (bieder)
Ja, darf ich wohl sagen: Wie meine Familie! Na, kann man den Onkel mal 'n bißchen sehn?
Zarncke (rufend)
Struve!
Struve
(sich von einer Gruppe im Hintergrunde lösend)
Jawohl, Herr Zarncke. (Leise) Ei weh, Kindersch. Da is der Reitmaier vom Präsidium. Das is 'n fauler Junge. (Kommt nach vorn)
Reitmaier (die Arme ausbreitend)
Herr Gott, das is ja mein guter, alter Struve.... Na, lieber Freund!
Struve (gerührt)
Ach, der Herr Kommissar! Ne, is das 'ne Freude!
Reitmaier
Na, Menschenskind, wir haben uns ja so lange nich gesehn.
Struve
Ja, Herr Kommissar. Es hat mir auch immer was gefehlt.
Reitmaier
Nu sagen Sie mal, alter Sohn, was haben Se denn nu wieder ausgefressen?
Struve
Herr Kommissar, es tut mir ja leid. Aber ich bin eben scharf in de Besserung. Diesmal kann ich wirklich nich — nich — dienen.
Reitmaier (überzeugt)
Ja, ja, ja. Also, Sie sind's nich gewesen?
Struve
Herr Kommissar, und wenn ich hier gleich meinen Totenschein in die Hand nehm' —
Reitmaier
Nich schon Totenschein! Pfui! — Mann wie Sie muß leben!
Struve
Aber wenn sich's machen läßt, Herr Kommissar, im Zuchthaus. Ja.
Reitmaier (zu Zarncke)
Er is bitter gestimmt. (Beruhigend) Na, na, na, es is da bloß noch 'ne kleine Formensache. Nichts von Bedeutung! Ne! (Zieht sein Notizbuch) Sagen Sie mal, wo waren Sie denn nu in der Nacht?
Struve
Ja, Gott, Herr Kommissar. Wo man so is. Uf 'ne Banke. Oder so.
Reitmaier (bedauernd)
Warum waren Se nu nich in Ihre Schlafstelle?
Struve
Ja, warum war ich nich in meine Schlafstelle? Hätt' ich gewußt, daß schlechte Menschen hier bei Herrn Zarncke einbrechen würden, hätt' ich mir gleich um halb zehne in de Klappe gelegt. Wegen den Aal—ibi.
Reitmaier
Natürlich! (Leise) Das is 'n abgefeimtes Luder! — Da Sie das aber selbstredend nicht wissen konnten, so gingen Sie zu — in den bekannten Lehmannschen Keller, wo wir ja auch schon zusammen gesessen haben. Is da 's Bier immer noch so gut?
Struve
Danke. Ja. Es jeht.
Reitmaier
Da waren Sie bis — zehn Minuten nach zwölfe. Und dann waren Sie mit Ihrem Freund Kuntze — ja, wo waren Sie da?
Struve
Ja, wo war ich da? Ich bin — spazieren jewesen.
Reitmaier (klagend)
Nämlich, denken sich mal, Ihr armer Freund Kuntze sitzt schon wieder feste!
Struve
Das is dem Kerl recht. Der is zu dumm.
Reitmaier
Aber es is doch schade. Na — und als Sie sich dann getrennt hatten, was taten Sie dann?
Struve
Ach, Herr Kommissar, ich bin so 'n weiches Jemiete. Ick hab' mir so, wie ick schon sagte, in'n Humboldthain bisken uf die Banke jesetzt.
Reitmaier
Und gesprochen haben Sie mit niemandem?
Struve
I wo wer' ick doch. Dabei kann man so leicht in schlechte Jesellschaft kommen. Ne.
Zarncke (triumphierend, leise)
Den kriegen Sie nich!
Reitmaier
Und dann sind Sie nach Hause gegangen.
Struve
Ja, ick wollte eijentlich noch 'n bisken die Vögelchens singen hören. Aber pee à pee bin ick denn zu Hause jejangen.
Reitmaier (leise)
Der Kerl hat ein Schwein. Weder die Stunde des Einbruchs noch die Zeit seines Heimkommens sind festzustellen. Aber — — (laut) Struve!
Struve
Herr Kommissar!
Reitmaier
Ja, noch eins. (Wieder leise) In dem Magazin — haben Sie da Sachen von Wert?
Zarncke
O ja. Da bewahr' ich unter anderm die Zahnsägen auf.
Reitmaier
Und die sind wertvoll?
Zarncke
Einige davon sind mit Diamantsplittern besetzt.
Reitmaier
Ah! Wußte der Struve davon?
Zarncke (mit reserviertem Lächeln)
Ja, das weiß ich nicht, Herr Kommissar.
Reitmaier
Struve, wo ist hier das Magazin?
Struve
Das Magazin? (Nach rechts weisend) Na da is es ja.
Reitmaier
Was is denn da so drin?
Struve
Was wird denn da so drin sein? Vielleicht überführen Sie sich mal, Herr Kommissar.
Reitmaier (schärfer)
Wissen Sie, was Zahnsägen sind?
Struve
Zahnsägen? Ja. Das sind Zahnsägen.
Reitmaier
Wo werden die über Nacht aufbewahrt?
Struve (rufend)
Du, Lohmann, wo werden doch die Zahnsägen aufbewahrt?
Reitmaier (ärgerlich)
Sie haben hier zu antworten und keine Fragen zu stellen.
Zarncke
(auf die Umstehenden weisend, von denen sich einige allgemach näher herangedrängt haben)
Stören Sie die Leute, Herr Kommissar?
Reitmaier
Durchaus nicht. Durchaus nicht. (Leiser) Sie sehn übrigens — (zu Struve streng) treten Sie mal zurück! — (leiser) daß an das Subjekt nicht 'ranzukommen ist.
Zarncke (zaghaft, bittend)
Ach, dann lassen Sie ihn doch laufen.
Reitmaier
Nu ja, Sie sind ja bekannt dafür, daß es Ihnen Vergnügen macht, dergleichen Volk bei sich unterkriechen zu lassen.
Zarncke
Vergnügen? Es is wohl mehr eine Abbitte an den lieben Gott.
Reitmaier (immer noch leise)
Weitere Verdachtsmomente als seine Bescholtenheit liegen nicht vor. Ich könnte jetzt noch die Leute hier vernehmen. Vorher aber möcht' ich mal an Sie die Frage richten, ob Sie nach Ihren Beobachtungen den Kerl für verdächtig halten oder nicht?
Zarncke (verlegen)
Ja, da is schwer —
Reitmaier
Trotzdem möcht' ich sehr bitten, der Wahrheit gemäß —
Zarncke (in die Enge getrieben)
Ja, ja, ja. Einen Augenblick. Polier! Geben Sie doch mal — (spricht leise weiter)
Willig
(der sich inzwischen unter den Umstehenden eingefunden hat, holt eine Anzahl Schlüssel aus der Hosentasche und reicht ihm einen davon)
Zarncke
Struve! ... Sehen Sie mal hier diesen Schlüssel. Kennen Sie den?
Struve
Ne.
Zarncke
Das ist der Magazinschlüssel. Den übergeb' ich Ihnen hiermit. Verstehn Sie?
Struve
Ne.
Zarncke
Falls der Herr Kommissar Sie hier läßt, werden Sie mir von jetzt ab für die Sicherheit der Sachen — einstehn. Verstanden?
Struve
Ne.
Reitmaier
Erlauben Sie mal, Herr Zarncke! Was bedeutet denn das?
Zarncke
Das ist meine Antwort, Herr Kommissar. Entnehmen Sie daraus, was Sie wollen.
Reitmaier
Sie — vertrauen — dem den —? Hähähä! Erlauben Sie mal. — Hähähä. Pardon, das ist zu spaßhaft. (Immer lachend) Na dann will ich auch nicht weiter stören. Das kann dann mein Kollege vom Revier zu Ende führen! ... Aber wenn Ihnen man die Passion für solche schweren Jungens nich noch mal sauer aufstoßen wird ... denn außerdem haben Sie ja auch noch 'n Mörder bei sich. Und weiß Gott, was —
Zarncke (sehr erschrocken)
Mörder? (Große Bewegung unter den Zuhörern, die sich während der Folgezeit über den ganzen Platz fortpflanzt)
Reitmaier
Nu ja — den —
Zarncke (rasch, mit Nachdruck)
Das ist ein Irrtum, Herr Kommissar.
Reitmaier
Erlauben Sie mal —
Zarncke
(ihn bei Seite nehmend, erregt)
Erstens ist der Mann nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags verurteilt worden —
Reitmaier
Menschenblut is Menschenblut.
Zarncke
Menschenblut hat auch so einer in den Adern. Und das braucht ihm nicht unnütz vergiftet zu werden. Wissen Sie, daß Sie dem Manne, der sich zu mir gerettet hat, wie 'n Stück Vieh von der Schlachtbank, daß Sie dem das Weiterexistieren auf dem Platze wahrscheinlich unmöglich gemacht haben?
Reitmaier
Ich? Wieso? Bitte!
Zarncke
(auf die erregten Gruppen weisend)
Da sehn Sie! Die werden's bald 'raushaben, wer der »Mörder« ist. Anstatt hier rücksichtsvoll —
Reitmaier (brutal)
Ach was! Da müßt' ich viel Zeit haben, auf solchen — Auswurf — Rücksicht zu nehmen.
Zarncke
Na, sehr verwandtschaftlich reden Sie nu gerade nicht von Ihrer werten Familie.
Reitmaier
Was für Familie? ... Ach so! (Scharf) Ich empfehle mich Ihnen, Herr Zarncke. (Ab nach links)
Die Vorigen ohne Reitmaier
Zarncke
(der einen Augenblick kopfschüttelnd dagestanden hat, laut)
Hört mal, Kinder! Das — mit dem — Mörder — das muß 'ne Verwechslung sein. Das — ja —!
Willig (vor sich hin)
Na na!
Andere
(geben ebenfalls durch Mienen und Gebärden ihrem Zweifel Ausdruck)
Zarncke
Struve!
Struve
(der seinen Schlüssel kopfschüttelnd besehen hat)
Herr Zarncke.
Zarncke
Diesmal hab' ich Sie noch 'rausgehauen. Nu benehmen Sie sich auch darnach.
Struve
Ja w— w— w—
Zarncke
Na was denn?
Struve
Wenn nu gesetzten Falls — und es is doch nu ein anderer gewesen —
Zarncke
Sie, bilden Sie sich keine Schwachheiten ein .... Und?
Struve
Und — nu ja — und der andere der kommt nu mal wieder — —
Zarncke
Dann werden Sie eingesteckt. Verlassen sich drauf. (Ab)
Lohmann (nach der Kantine weisend)
Nu selbstverständlich is er's. Wer denn sonst?
Sprengel (nach Struve hin)
An den hat man sich schließlich gewöhnt, — aber Mörder! Ne.
Lohmann
Du, Struve, komm mal her. (Struve geht zu ihnen)
Sprengel
Scht. Da is er.
Die Vorigen. Biegler. Gleich darauf Lore
Biegler
(hat drei Zigarren in der Hand, die er besieht)
Lore
(mit einem kleinen Teller, worauf noch eine Zigarre)
Herr Biegler.
Biegler (sich umwendend)
Ja?
Lore
Sie haben doch vier Zigarren bezahlt und bloß dreie genommen.
Biegler
Ach so. Ja. Danke. (Nimmt die Zigarre) Es war ja auch noch 'n vierter dabei. (Mit glücklichem Lächeln) Ich hab' nämlich — jetzt — auch — Freunde hier.
Lore (erfreut)
Ach, sehn Sie!
Biegler
Ja. Freunde — hab' ich. Drei Stück. Ja ... Und da will ich mich doch mit Zigarren revanschieren. Ja.
Lore
Na sehn Sie. Hab' ich Ihnen nich immer gesagt: Es is nich so schlimm, — sie tun Ihnen nichts?
Biegler
Ja, ja, Fräulein! Wenn Sie mir nicht hätten immer Mut gemacht.
Göttlingk (herüberrufend)
Sie, Lore, was machen Sie sich da mit dem Kerl zu schaffen? Das ist kein Umgang für Sie. — Lassen Sie den mal hübsch laufen.
Lore (zusammenschreckend)
Ja ... ja, ja. (Steht unschlüssig)
Biegler (die Zähne zusammenbeißend)
Der kann mich nich leiden. Gehn Sie man schon ... Ich hab' ja auch noch — Freunde. (Lore ab) (Er breitet seine Zigarren fächerförmig in der Linken aus und tritt zu Lohmann, der zuerst mit Struve gesprochen und dessen Gruppe sich dann aufgelöst hat) Du — willste nich — eine Zigarre von mir — rauchen?
Lohmann (verächtlich)
Nee. (Tritt von ihm fort)
Biegler
(steht einen Augenblick wie erstarrt, dann geht er zu Sprengel, sehr zaghaft)
Ach — bitte — ich hätt' — ne Zigarre — für —
Sprengel
Du kannst deine Zigarren für dich behalten. (Tritt gleichfalls von ihm fort)
Biegler
(reibt sich fassungslos die Stirn; eine verzweifelte Wildheit kommt über ihn; er geht zu Struve — voll Angst und Ingrimm)
Du hast mir vorhin ne Zigarre gegeben —
Struve (gutherzig abwehrend)
Laß man! Laß man! ... Es is nich, weil ich stolz bin, weil ich nu den — Magazinschlüssel hab' ... aber —[S. 93] ich kann mir nich — ausschließen, — ich muß machen wie die andern.
Biegler
Wa — was hab' ich — euch denn — ...?
Struve
Sag mal, wie alt bist du?
Biegler
Vierunddreißig.
Struve
Und da haben sie dich schon 'rausgelassen? So früh lassen sie einen wie du — sonst doch nich los ...
Biegler
(sieht ihn entsetzt an, wirft einen wilden, verängstigten Blick auf die ihn rings Beobachtenden und versteht)
Ach so ... Ach so.
Struve (ist zu Lohmann zurückgetreten)
Ich sag' euch bloß: det stimmt nich.
Lohmann
Wer soll's denn sonsten sein?
Biegler
(auf die Bank der Kantine sinkend)
Ach so!
(Der Vorhang fällt)
Die Kantine. Deren Wände sind aus Fachwerk gebildet. Die Decke ist niedrig und verräuchert. Auf der rechten Seite die Tür zum Werkplatz. Im Hintergrunde rechts das Fenster, im Hintergrunde links das Büfett mit einem Schanktisch davor. — Auf der linken Seite eine Tür zu Schlafräumen. — In der Mitte unter der Hängelampe ein Tisch mit Stühlen, links vorne ein Sofa mit Tisch und Stühlen, rechts vorne Tisch mit Stühlen. Vor dem Fenster Schustergerät. In der Ecke rechts hinten ein eiserner Ofen.
Das Ganze trotz des ärmlichen oder vielmehr provisorischen Charakters sauber und beinahe freundlich. Blumentöpfe auf den Tischen und vor dem Fenster. Blitzblankes Gerät auf dem Schanktisch, darunter ein verzinkter Wasserwärmer. Plakate und Bilder ohne Rahmen sind als zufälliger Schmuck an die Wände geheftet. Die »Platzordnung« unter Glas und Rahmen hängt neben der Eingangstür. Über dem Büfett eine Uhr; neben ihm eine Mandoline
Lore hinter dem Schanktisch mit einer Handarbeit beschäftigt. Der alte Eichholz auf dem Sofa schlafend. Lenchen an dem Schusterschemel
Eichholz (schnarcht)
Lore
Was machst du da, Lenchen?
Lenchen
Ich spiel' mit Großvatern seine Schuhmacherspielsachen.
Lore
Zerbrich ihm man nich seine Glasglocke.
Lenchen
Nein, nein.
Lore
(sieht nach der Uhr und geht dann zum Sofa)
Vater — Vater!
Eichholz
(brummt aus dem Schlafe, ohne sich zu rühren)
Lore
Vater, du mußt aufstehn.
Eichholz (im Halbschlaf)
Wieso denn?
Lore
Es is Sonnabend heute. Nach der Lohnzahlung — du weißt ja — dann wird's noch einmal voll hier.
Eichholz
Ja, ja ... Na ja ... (Richtet sich auf und reckt die Glieder) Ich muß ja auch noch gehn, mir neues Verschmierpech besorgen.
Lore
Laß doch, Vater, das eilt ja nicht.
Eichholz
Nu ja. Ich arbeit' ja doch nich. Ich bin 'n altes Faultier, sagt meine Tochter. (Rülpst) Dein Kümmel is[S. 96] das reine Rattengift. — Meine Leber kriegt schon harte Stellen von. Ich muß mal baldigst gehn, mich an einen Mäßigkeitsvereine zu beteiligen.
Lore
Ach ja, das wär' ganz gut, Vater.
Eichholz
Wär' ganz gut. Wär' ganz gut. Was weißt du, was mir gut is? Ich freß nich mehr aus'n Steinguttopp. Das laß dir gesagt sein.
Lore
Ach, das is ja alles Einbildung, Vater.
Eichholz
Denn was bin ich? ... Stück Vieh auf'm Schindanger bin ich ... Wenn sie mich schon wegjagen tun um — um — um 'n Mörder.
Lore (abwehrend)
Ach!
Eichholz
Auf meinem Platz sitzt 'n Mörder. Das halt' ich nich aus. Da jeh' ich ins Wasser. Da nehm' ich eine Jiftpille zu mir. Und dann verkauf' ich mir an die Annetomie ... Damit du nichts zu erben kriegst, du Biest. Nich mal meinen Leichnam.
Lore (lächelnd)
Ich will ja auch nichts, Vaterchen.
Eichholz
Wenn du hättest Ehre in deinem Herzen, dann schmißt du den Kerl 'raus und scheuerst mit Karbol die Stelle,[S. 97] wo er gestanden hat. Statt dessen frißt er sich hier rund an deine Karbonade.
Lore
Gönn ihm doch sein bißchen Essen, Vater. Und ob er wirklich der is, von dem der Kommissär gestern gesprochen hat, das weiß ja keiner.
Eichholz
Ich hab's immer gesagt: der Kerl hat Mörderaugen im Kopp. Heute is nu jeder so klug.
Lore
Was sind denn Mörderaugen, Vater?
Eichholz
Die sind wie beim Fisch. Da sitzt ein Stein drin. Und das is der Tod. Und wegen so einen — haben sie — mir — (Weint)
Lore (mitleidig)
Vaterchen!
Eichholz (weinend)
Das halt' ich nich aus. Da werde ich verrückt von. Einer muß hin. Er oder ich. Tot oder lebendig. Der muß verrecken, der Hund, der Bluthund, der — der — (Kläglich) Ich hab' so 'n Leberstechen.
Lore
Geh, leg dich aufs Bett, Vater.
Eichholz
Das hat er mir schon mit seinen bösen Blick anjetan, daß ich nicht werde jenesen meines Leidens ... Ich hab' so 'n Leberstechen. (Ab)
Lore (sieht ihm seufzend nach)
Lenchen, du bist ein kluges Kind. Geh mit Großvater. Und wenn er weint, dann ruf.
Lenchen
Ja, Mamachen. (Von Lore zur Tür geleitet, ab. Es klopft)
Lore
Herein!
Lore. Marie
Marie
'n Tag, Lore. Du hast wohl schon sehr auf mich gewartet?
Lore (gedrückt)
Ach! Jetzt hatt' ich schon aufgehört.
Marie
Wußtest du's, daß ich gestern mit ihm gesprochen hatte?
Lore
Die anderen erzählten sich's.
Marie
Und du fragst gar nicht? Dachtst dir wohl schon, daß ich keine guten Nachrichten bringe?
Lore (mutlos)
Gott, als Sie gestern abend nicht kamen. Und heute vormittag nicht. Wollen sich nich setzen, Mariechen?
Marie
Danke. (Setzt sich) Hast du gehört, wie schön die Amsel singt auf deinem Dach? Mitten in all dem Lärm. Täusch' ich mich, oder pfeift sie fröhlicher, seit sie ihr Nest hat? Es is wirklich so, als ob das Glück pfeift ... Auf deinem Dach, Lore.
Lore
Für mich pfeift kein Glück.
Marie
Wer weiß? ... (Zögernd) Lore, ich will dir was gestehn: Ich hab' Vater gebeten, daß er ihm am nächsten Termin kündigt.
Lore
Warum haben Sie das getan? Wenn er gehen will, dann soll er gehn. Aber nicht fortjagen. Nicht um meinetwillen.
Marie
Lore. Ich hab' auch Vater gebeten, daß er ihm dann sagt, daß er dir 'ne Aussteuer geben wird.
Lore
Ich will keine Aussteuer. Die heilt nichts und macht nichts gut. Ich will nichts.
Marie
Denn sieh mal: Er ist ehrgeizig. Er will eine Frau, die wohlhabend ist. Darauf geht er aus.
Lore
Woher wissen Sie das?
Marie
(stockend, mit abgewandtem Gesicht)
Nun, das — merkt — man doch.
Lore
Zuzutrauen ist es ihm schon. Aber so himmlisch gut Herr Zarncke is, wohlhabend, wie er meint, kann ich ja doch nie werden.
Marie
(mit geheimnisvollem Lächeln)
Nun — wer weiß?
Lore
Denn erspart hab' ich nichts. Ich verdien' hier gerade das tägliche Brot.
Marie (mit unterdrückter Erregung)
Sieh mal, Lore, was ich dir schon immer mal hab' sagen wollen: Lange leben werd' ich nicht, (langsam, mit Betonung) und — dein Lenchen — hab' ich sehr lieb.
Lore (nach langem Schweigen)
Mein Kind hast du — so lieb?
Marie (nickt)
Lore
Mein Lenchen hast du so lieb?
Marie (tonlos)
Ja.
Lore (aufschreiend)
Dann geb' ich's dir. Dann nimm's als dein eigen. Wozu soll sie sich durchschleppen mit mir durch all den Jammer, wenn sie das haben kann? (schluchzt)
Marie
Lore, hör mal! ... Vor zwei Tagen — da hätt' ich noch ja und »Schön dank« gesagt. Aber jetzt — seh' ich die Dinge — anders an. Denn, sieh mal! So ein — Kindchen — muß doch zuerst mal — seinen Vater haben ... Nicht wahr?
Lore (in neuem Erstaunen)
Marie, Marie! Wenn ich das recht versteh'! ... Das glaub' ich nicht! Das ist zu viel! Das ist zu viel! Und das kann auch nicht zum Guten sein. Nie im Leben. Nie.
Marie
Warum nicht?
Lore
Weil — weil ... Der — der will mich nicht mehr. Dem bin ich doch bloß 'ne Kette am Bein. Weiter nichts.
Marie
Auch wenn er weiß, was Lenchen mal zu erwarten hat? Und wovon er doch der Verwalter sein wird?
Lore
Mein Gott, mein Gott, mein Gott!
Marie
Nur wie das wird, wenn ich früher sterbe als Vater, das weiß ich nicht. Denn wollen wird er ja nicht.
Lore
Nein, nein, nein! Es wird nichts. Es kann auch nicht. Und es schadet auch gar nichts, wenn's — nichts — wird. — Man is ja längst schon viel zu mürbe. Und vielleicht ist einem ganz, ganz was anders bestimmt, wo nicht so viel Tränen drauf liegen. Aber 'ne Viertelstunde lang mal froh gewesen sein und ein Mensch, nicht bloß[S. 102] ein Stein, den man hin und her stößt, ach, das tut so gut, so gut, so gut! (Sinkt lachend und weinend vor ihr nieder und küßt ihr die Hände)
Marie
Laß doch! Steh auf! Mir scheint, es kommt wer. (Lore steht auf)
Die Vorigen. Biegler
Biegler (dumpf, scheu)
Guten Tag.
Marie.
Guten Tag, Herr Biegler. Ist denn schon Feierabend?
Biegler
Ja.
Marie
Geht's Ihnen gut?
Biegler
Danke.
Marie
Adieu, Herr Biegler. Adieu, Lore! (ab)
Lore. Biegler
Biegler (setzt sich an den Mitteltisch)
Lore
(geht zum Büfett, schenkt aus dem Wärmekessel einen Topf mit Kaffee ein, bricht eine Fünfpfennigsemmel ab und bringt sie nach dem Tisch links)
Setzen sich lieber hierher, Herr Biegler. Das da is ja der Steinmetzentisch, und die Bildhauer kommen nich nach der Auszahlung. Die sind zu große Herren.
Biegler
Ich geh' so wie so gleich fort. (Setzt sich links)
Lore
Warum sind Sie eigentlich nich bei der Wochenauszahlung?
Biegler
Ich — krieg' — monatlich. (Schweigen)
Lore
(immer in freudiger Erregung)
Ich weiß nicht; Sie kommen mir heut so anders vor, Herr Biegler. Sie reden gar nich.
Biegler
Ich red' ja — auch sonst nich — viel.
Lore
Wissen Sie, mir is nämlich heute ganz was — ganz was — Besonderes — passiert.
Biegler
Was Gut's?
Lore (nickt)
Biegler
Da gratulier' ich.
Lore
Ach, es is nichts zu gratulieren. Es wird sich nichts ändern. Aber es is doch wie 'n heller Schein. — Und da möcht' ich, daß es auch andern so geht. Ihnen auch.
Biegler (schwer atmend)
Danke!
Lore
Herr Biegler — ach, Herr Biegler, wozu sollen wir[S. 104] erst viel Versteck spielen. Ich weiß ja, was Sie quält — seit gestern.
Biegler
(sich in Erstaunen jäh umwendend)
Und da reden Sie noch mit mir?
Lore
Ja — is es denn wahr?
Biegler (nach einer Pause, schwer)
Die Herren Geschworenen haben die Frage — ob's Notwehr gewesen is oder nich — verneint ... Und nu lassen Sie mich meinen Kaffee austrinken. (Schweigen)
Lore (nach innerem Kampfe)
Herr Biegler! ... Sündig sind wir alle ... Ich auch.
Biegler (bitter lachend)
Sie?
Lore (zaghaft)
Sie wissen doch!
Biegler
Ja, Ohren hab' ich auch ... (in Wut auffahrend) Und wenn ich erst wieder Fleisch hätt' auf den Armen, dann würd' ich den Kerl — —
Lore
Ruhig, Herr Biegler, ruhig, ruhig! Sie wollen doch nich, daß ich Angst hab' vor Ihnen?
Biegler (hastig seinen Kaffee trinkend)
Ich geh' schon. Ich geh' schon.
Lore
Herr Biegler, wollen Sie nich mal Ihr Herz erleichtern?
Biegler
(unschlüssig, mit dankbarem Aufblick)
Ach! ... (hart) Ne.
Lore
Gott, Herr Biegler, gut tät's Ihnen schon! Man wird ja so wie so wie'n Stein! Die Steinmetzen erzählen nämlich: Der Stein wird durch Druck. Wissen Sie?
Biegler
Das sollt' ich wohl wissen.
Lore
Ja, Hunderttausende und Millionen Jahre müssen die drüberliegenden Schichten drücken, dann wird die lebendige Erde zu Stein ... Beim Menschen dauert's nich so lang. Das hab' ich ausprobiert. 'n paar Jährchen Druck — immer derselbe Druck. Das genügt.
Biegler (bitter)
Ob's genügt.
Lore
Man lacht und man weint und man schläft und man arbeitet — ach, lustig sein kann man sogar — man is überhaupt ein Mensch wie andere und is doch lang keiner mehr ... Drin im Innersten lebt man gar nich mehr ... Man is willenlos wie 'n Stein ... Man läßt sich mit dem Fuß stoßen wie 'n Stein. Man wird gegen alles gleichgültig wie 'n Stein.
Biegler (eifrig)
Ja, ja, ja, — so is es, — ja, ja.
Lore
Aber heut is wieder Leben in mich gekommen. So sehr hat mich was gefreut ... Gestern war ich wie Sie. Aber heut kann ich Ihnen was helfen. Bloß Vertrauen müssen Sie haben, daß ich's auch wirklich will.
Biegler
Das hätt' ich schon — aber — (vor sich hinbrütend) ich muß ja wohl wieder weg.
Lore
Ich denk', Sie waren zufrieden.
Biegler
Wenn sie mich in Ruh' gelassen hätten — alle — im Himmel wär' ich gewesen. Morgens — so gegen zweie — da is mir leicht geworden ... dann kann keiner kommen und was von mir wollen. — Doch! — Einer kann kommen ... Die kann immer kommen. Sie is noch nich — aber sie kann.
Lore (mit beruhigendem Lächeln)
Na wer denn, wer denn?
Biegler
Ach so — ich soll ja mein Herz erleichtern.
Lore
Nicht — wenn Sie nich wollen.
Biegler
Wissen Sie, wie's nu werden wird? ... Vors erste schieben sie sich so langsam von einem weg ... Man will mit anfassen, und dann is man allein. Und dann geht's[S. 107] Gerede los um einen rum. Da heißt es: »Na, habt ihr auch schon euer Leben versichert?« Und da heißt es: »Wenn sich gewisse Brieder nich bald dinne machen, dann werden wir den Platz schwarz stellen.« Und dann fliegt 'n Stück Holz. Und dann fliegt 'n Stein. Und dann kommen Sie eines Tags und sagen: »Es tut mir leid, Herr Biegler, aber Sie müssen wo anders essen, es is wegen der Leute.«
Lore (schüttelt heftig den Kopf)
Biegler
Na warten Sie man. Und schließlich kommt der Prinzipal und sagt: »Hier is Ihr Buch. Sie können gehen.« Und man weiß, daß man nu wieder ins Hungerland zieht, wo kein warmes Mittag is und kein Bett, und man sagt noch: »Gott sei Dank.«
Lore
Ach, es is schrecklich.
Biegler
Unser Pastor in der Anstalt hat immer gesagt: »Seid froh, daß ihr sühnen könnt« ... »Sühnen« heißt das schöne Wort ... Das haben die Herren extra für uns erfunden ... Ja, was soll ich nu alles sühnen? ... Daß der Weg mich in die Schlafstelle geführt hat — und gerade in die? ... Daß die Frau jung war — mit Flunkeraugen — und daß sie immer so machte (haucht mit spitzem Munde), wenn sie hinten an mir vorbeiging. Und wenn ich gesagt hab': »Was machen Sie da?« dann hat sie mich mit den blanken Zähnen angelacht und gesagt: »Ich kann's in den Tod nich leiden, wenn auf dem Rockkragen 'ne Feder sitzt« ... Und der Mann hat noch mitgelacht, wenn's mir schon heiß und kalt das Genick 'runterlief ... Ja, so kommt so was ... Er war Schuster. Wie Ihr Vater ... Mit den Schustern[S. 108] hab' ich kein Glück ... Nu, da wissen Sie ja auch, was 'n Klopfstein is ... (Zum Gerätschemel gehend) Da liegt er ja! (Bringt den Stein.) Sehn Sie sich den an! Bißchen kleiner war er — aber groß genug. Dann wie der Mann mich eines Tages abgefaßt hat — mit ihr — — und auf mich zugekommen is, Messer in der Hand, da hab' ich gedacht: was machen? Was hab' ich gemacht? So! (Hebt den Stein hoch) ... Und mit eins hat er langgelegen. Das Ganze hat gedauert, wie wenn einer bis drei zählt ... Weil der nu da lang lag, darum war mein Leben verdorben. Nu sagt der Pastor: »sühnen!« Ja, nun sühne mal, wenn der Wahnsinn schon hinter dir sitzt ... Was kann ein zu Schanden geprügelter Hund viel sühnen? Seine Wunden kann er sich lecken ... Mehr kann er nich.
Lore (mitleidig)
Mein lieber Gott.
Biegler
Ihr lieber Gott is nich mein lieber Gott. Sonst ließ' er das nich zu ... Ja, nu werd' ich gehn ... die ersten müssen gleich kommen.
Lore (fest)
Sie sollen nicht gehn, Herr Biegler.
Biegler (in flackernder Angst)
Ich hab' mein Vesper getrunken. Ich hab' hier nichts mehr zu tun.
Lore
Sie sollen dableiben. Was auch geschehen mag, Sie sollen dableiben. Ich setz' Ihnen ein Glas Bier hin wie den andern. Das trinken Sie aus und kümmern sich um nichts.
Biegler
Um Gottes willen. Hier? Hier? Wieso denn?
Lore
Sehn Sie denn das nicht? Je mehr Sie sich verkriechen, desto mehr sind die von Ihrer Schuld überzeugt. Und das darf nicht sein.
Biegler
Wenn's nu aber doch wahr is?
Lore
Das geht keinen was an. Außer Herrn Zarncke und mir weiß keiner was. Und wir halten reinen Mund. Wenn die sehn, daß Sie keinem aus dem Wege gehn, dann wird das Getratsche langsam wieder einschlafen ... Aber nichts gestehn! Sich nich verschnappen! Sonst ist alles aus ... Wissen Sie noch, wie Sie waren, als ich Ihnen das erste Butterbrot brachte?
Biegler (nickt voll Grauen)
Lore
So sehn Sie in vier Wochen wieder aus, wenn Sie sich jetzt wegjagen lassen. Es geht um Ihr Leben, Herr Biegler. (Hinaushorchend) Ich glaube, Sie kommen schon. Da setzen Sie sich hin. Und wer Sie anlappt, dem zeigen Sie die Zähne.
Biegler (stammelnd)
Ach ich — m — mir bl — eibt ja jedes Wort in der Kehle.
Lore
Soll nicht. Darf nicht. Sie müssen. Müssen, Herr Biegler, müssen!
Biegler
Und 's kann sein, wer's will? Ja?
Lore (stutzend, dann stark)
Ja.
Biegler (dumpf, zagend)
Na, is gut. (Setzt sich auf seinen Platz zurück)
Die Vorigen. Lohmann. Sprengel. Struve.
Drei andere Arbeiter
(Die Eintretenden begrüßen Lore, die rasch hinter den Schanktisch getreten ist, mit einem brummigen »Guten Tag« und setzen sich an den Tisch rechts)
Lohmann
Glas Bier!
Sprengel
Mir auch.
Struve
Jedem eins.
Sprengel
Kiekt mal, wer da huckt!
Lohmann
Mir wundert, daß er sich nich aufs Ehrensofa geschmissen hat. Das ist doch extra für ihm hingebaut.
Struve
Der Mensch sitzt, wo er kann. — Laß ihm sitzen.
Lore (Bier bringend)
Wohl bekomm's!
Lohmann
Danke. (Nach Biegler hinüber) Jemütlich is anders. Prost! (Sie stoßen an)
Lore
(bringt auch Biegler ein Glas Bier)
Sprengel
Wird der hier nu auch den Stammgast spielen?
Lohmann
Struve, du verstehst dir ja auf so 'ne Brieder. Graul ihm mal 'raus.
Struve
Kindersch, laßt mir in Ruh. Ick bin jetzt so beschäftigt mit meine eigenen Sorgen.
Lohmann
Wat vor Sorgen?
Struve
Wat vor Sorgen? Des fragste noch? Glaubste, es macht Verjniegen, mit so 'ne Verantwortung in de Welt rumzuloofen? Wenn du jehst bloß Steine schleppen, denn haste jar keene Verantwortung, dafür biste aber auch 'n Lump. Wenn du aber wirst jeehrt sein durch das Vertrauen deiner Mitbürger, wenn du wirst 'n Magazinschlüssel an dir tragen, oder so — dann wirst mal sehen, wie so 'n Mann zu Mute ist.
Sprengel
Dir is des wohl zu Koppe gestiegen? Was?
Struve
Denn wer eine jewisse Erfahrung hat von's menschliche Leben, der muß sich doch sagen: det is 'n janz jewehnliches Schnappschloß. — Da brauchste bloß 'n paar gesunde Zähne zu, um 'n vierzölligen Drahtnagel krumm zu biegen,[S. 112] und denn biste schon drinne. Immer so mitten mang de Diamanten. Kindersch, um Gottes willen, regt eich das jar nich uf?
Lohmann (lachend)
Ne.
Struve
Und jesetztenfalls und du hast se nu ausgebrochen —
Lohmann
Was?
Struve
Na — de Diamanten, denn kannste se jehn ruhig verschärfen bei jeden freindlichen Mann, wo mit blanke Knöppe handelt. Da kann dir kein Teckel an de Beene ... Des is 'ne aufjelegte Sache. Des reinste Beersenjeschäft ... Kindersch und da soll ick die Verantwortung vor haben? — Ne, des halt' ich nich aus. Da zieh' ick über Land.
Sprengel
Jlickliche Reise. Prost.
Struve
Und was der Nachtwächter da is, der schlappohrige Kerl, ick wette 'n Hering jegen 'n Löffel Jritze, dessentwegen könnte man 'rin und 'raus — wie de Schwalben.
Lohmann
Der blieht da nu so 'rum. Wie so 'n Maibliemchen.
Sprengel
Abjebrieht is er wohl. Sonst säß' er nich hier.
Struve
Kindersch, ick sag' eich immerzu. Wenn er und er wär's, dann wär' er noch nich 'raus.
Lohmann
Jedenfalls wollen wir da mal ein jelinde blasenziehendes Mittel anwenden. (Sehr laut) Fräulein! Wissen Sie vielleicht die Adresse von 'ne leistungsfähige Lebensversicherungsgesellschaft?
Biegler
(der solange scheinbar teilnahmslos, doch in gespannter Erwartung dagesessen hat, wendet sich jäh um)
Lore (abweisend)
Was soll ich mit 'ne Lebensversicherung?
Lohmann
Nu, 's is doch jetzt nich janz jeheier auf'n Platz. Da kann mal leicht so 'n kleiner Kuhhandel kommen, wo man plötzlich mit Tode abjeht, man weiß nich, wie?
Lore (abweisend)
Ich versteh' gar nich, was Sie meinen.
Lohmann
Diejenigen, wo's anjeht, die werden mir schon verstehn.
Biegler
(steht auf, will reden, bringt aber nur ein unartikuliertes Stammeln hervor und setzt sich wieder)
Lohmann
Hat jesessen.
Sprengel
Wo bleiben übrigens heite die Steinmetzen?
Struve
Nu — die müssen sich doch erst ausputzen. Mit ihre blaue Kalikoschirzen trauen die sich nich uf de Straße. Es könnt' se ja einer fir Hausknechte halten. (Lachen)
Lohmann
Jedenfalls müßt' man sich mit denen zusammentun und was unternehmen beim Alten, — damit er auf'm Platz 'n bißchen ausräuchern läßt. Es wird nötig.
Sprengel
Fang nich schon wieder an, Mensch ... hab doch Erbarmen mit so 'n plundrigen Kerl.
Lohmann
Wenn ich in 'n Modder trete, dann wisch' ich mir die Stiebeln ab; — da hab' ich auch kein Erbarmen.
Biegler
(zittert und atmet schwer. Er ringt mit sich, unschlüssig, ob er sprechen solle, wagt es aber nicht mehr)
Sprengel
Kein Mensch weiß, ob er's wirklich is.
Lohmann
Warum steht er denn nich auf und —
Die Vorigen. Willig. Göttlingk und andere Steinmetzen (in Feierabendkleidung)
Göttlingk
(auf den Tisch der Arbeiter weisend)
Da sitzt se ja, die janze feine Familie ... Ihr kriegt's wohl nich eilig genug mit eurem Feierabend — was?
Lohmann
Wieso denn?
Willig
Den großen Oberkirchner Block, links von der Treppe, habt ihr auf Hochkant stehn lassen. Wißt ihr das nich?
Sprengel
Nu, der hängt doch im Flaschenzug.
Willig
Aber locker hängt er.
Lohmann
Bis wir den 'runterkriegen, dauert's zwanzig Minuten. Wenn der Alte Überstunden zahlen will, gehn wir gleich noch mal 'ran.
Göttlingk
Husten wird er euch was.
Willig
Jedenfalls steift ihn noch ab. Wenn was passiert, seid ihr verantwortlich. (Setzt sich zu den Steinmetzen an den Mitteltisch)
Göttlingk
Na, Lore, Sie könnten ruhig 'n bißchen fixer sein, wenn die Steinmetzen kommen.
Lore
(die Bier bringt, eilig, ängstlich)
Hier is, bitte, hier is schon alles.
Göttlingk
Aber freilich, wenn man sich mit solchem Volk abgibt, wie der Kerl — der — (Biegler erkennend) Herrgott, wer sitzt denn da?
Willig (rasch)
Ach, kümmer dich nicht um den.
Göttlingk
Hast recht. So 'n Geschmeiß existiert nich. Prost, die Herren! Per Bacco, is mir mollig. Ganz fingrig is mir zu Mute. Wollt ihr was hören? Natürlich, ihr wollt immer was hören. Lore, bring mal — bringen Sie mal die Seufzerkiste.
Lore
Jawohl. (Holt die Mandoline von der Wand und bringt sie ihm)
Ein Steinmetz
Du, der Alte war doch heute so extra süß mit dir. Ahnste weswegen?
Göttlingk
(während er die Mandoline stimmt)
Tja, lieber Sohn, wer kann das wissen? Manchmal können sich Ereignisse vorbereiten — die Welt is eben 'n Affenkäfig.
Die Vorigen. Der alte Eichholz
Eichholz
(angezogen wie im ersten Akt)
Einen guten Feierabend wünsch' ich der hochgeehrten Gesellschaft.
Göttlingk
So in Jala, Papa Eichholz?
Eichholz
Jawohl. Mein Manschettenhemde hab' ich mir angezogen und habe mir angetan im Schmucke sämtlicher Orden und Ehrenzeichen. Nu wollen wir mal sehn, ob ein alter Krieger noch was gilt in seinem Vaterlande.
Lore (ängstlich)
Was hast du vor, Vater?
Eichholz
Zuerst bejeb' ich mir zum Alten und frag' ihn auf Ehr' und Jewissen: Wer is der Kerl? Was is der Kerl? ... Und wenn er in meinen unjewissen Zustande mir sollte — (bemerkt Biegler) was — was — was — was is denn das? Is das —?
Lore
Vater, hier darf jeder sein Bier trinken, der zum Platz gehört. Weißt du das nich?
Göttlingk (halblaut zu Lore)
Was mischst du dich da eigentlich immer 'rein?
Eichholz
Was man so sagt, der Wiedehopf, der läßt in sein eigenes Nest 'reinschmutzen, aber wenn du willst mein Fleisch und Blut sein — (in ausbrechender Wut) Kerl, dir werd' ich platt schmeißen! Dir bind' ich 'n Mühlstein um'n Hals, dir, dir ... Blut muß fließen, du Hund, du blutiger Hund!
Biegler (gequält)
Fräulein, soll ich nu immer noch länger hier bleiben? Ich denk', nu is genug.
Göttlingk (halblaut zu Lore)
Nanu? Was geht dich dem Kerl sein Hierbleiben an?
Lore
Vater, tu, was du willst, aber hier in der Kantine fang keinen Zank an. Sonst mußt du 'raus.
Lohmann (leise)
Sieh mal, wie sie sich auf dem seine Seite schmeißt.
Sprengel
Hat sie ganz recht.
Eichholz
Jawohl. Ich geh' schon. — Ich werde schon in geeignete Erfahrung bringen, wer, wer (mit geballter Faust) und wer Blut vergießt, deß — Blut — muß — — ich geh' schon, ich geh' schon. Guten Abend, die hochgeehrte Gesellschaft. (Ab)
Die Vorigen ohne Eichholz
Göttlingk (leise zu Lore)
Hast du etwa Durchsteckereien mit dem?
Lore (wendet sich ab)
Göttlingk (verbissen)
Sieh mal an! (Kehrt auf seinen Platz zurück) Na, lassen wir uns nich die Laune verderben. (Ergreift die Mandoline, in neuem Argwohn) Freilich, wissen möchte man doch.
Willig
Halt bloß Ruhe, Eduard.
Die Anderen
(die am Steinmetztische sitzen, stimmen ihm bei)
Göttlingk (an der Mandoline zupfend)
Na also, was soll ich euch singen? Ich weiß 'ne Menge schöne Lieder, die mir die schönen Weiber dort unten in schönen Stunden beigebracht haben ... denn die Weibsleut' da unten! Überhaupt die Weibsleut', Kinder! Wenn man da nich feste 'ranjeht! (Beiläufig, herablassend) Ach, bringen Sie mir doch noch 'n Glas Bier, Fräulein Lore.
Lore
(bebend vor Erregung, holt sein leeres Glas)
Göttlingk
Du fragtest vorhin, warum der Alte heute so süß mit mir war. Ja, mein geliebter Sohn, Glück bei den Weibsleuten muß der Mensch haben. Das is der Ausschlag beim Rosinenhandel ... Danke, mein Fräulein, danke, danke, danke! (Singt und spielt) »Vè quà una giardiniera, si chiama Luisella, da sovra all'Arenella« — (Abbrechend) Sagt mal, Herrschaften, wie wär's, wenn ich zur Abwechslung mal so euer Chef würde hier auf diesem Steinmetzplatz?
Willig
Was is das wieder für 'n fauler Witz?
Göttlingk
Ja, das Leben macht manchmal so 'ne faulen Witze. Wenn ich da Jimm drauf hätte. Die Puckligen sind zwar[S. 120] nich gerade mein Jeschmack, aber wenn so 'n schönes Jeschäft dran hängt, kann man ja auch mal beide Augen zumachen.
Lore
(stößt einen unartikulierten Laut des Abscheus und des Entsetzens aus)
Sprengel (halblaut)
Is 'n Mensch wie 'n Vieh.
Willig (leise)
Läßte nu nich mal mehr die Krüppel in Ruh?
Göttlingk
(der das allgemeine Murren bemerkt hat, zum Arbeitstisch hinüber)
Riskiert da etwa einer zu mucken? Was?
Lohmann
Wir sind ja ganz still.
Göttlingk
Möcht' ich mir auch ausgebeten haben. (Da Lore, den Kopf in den Händen, noch einmal aufstöhnt) Was ist denn hier los? Was? Was? Was?
Biegler
(ist in zitternder Erregung langsam aufgestanden, leise, zaghaft, als traue er seinen erwachenden Kräften nicht)
Du Schuft! Du Schuft! — Du Schuft!
Göttlingk (fassungslos vor Erstaunen)
Was will das Gewächse da?
Biegler
Du ganz erbärmlicher Schuft!
Göttlingk (Humor heuchelnd)
Kinder, der is übergeschnappt. Soll ich den zu Mus quetschen? Nehmt mir das nicht übel, aber die Handvoll, das lohnt mir nich. Außerdem bin ich's als Steinmetz mir und euch schuldig, mich nich mit erst wem — Prost!
Biegler (heiser)
Was du bist, bin ich noch alle Tage.
Göttlingk
Dem Kerl muß man doch 'ne Zwangsjacke anlegen.
Biegler
Ich hab' zum Spaß deine Arbeit getan. Wenn's hell is, kann ich's besser.
Göttlingk (aufspringend)
Du warst das selber, du verfluchter —?
Die Anderen (halten ihn fest)
Ruhig, ruhig, ruhig.
Biegler
Aber das is Nebensache. (Auf Lore weisend) Da — da — wer steht da? — Der sagst du das ins Gesicht? — Jeder weiß, daß sie 'n Kind von dir hat. Zum Dank verhunzen tust du sie — schuriegeln tust du sie ... Wirst sie — wirst sie ehrlich machen? Wirst sie ehrlich machen? Du nichtswürdiger Schuft! Du!
Göttlingk (der sich zu befreien sucht)
Nu laßt doch los. — Is bloß 'n Floh, der ganze Kerl, aber das kost't ihm das Leben. (Reißt sich los und zieht den Dolch heraus) Los sag' ich, oder —
Die Anderen (weichen erschrocken zurück)
Biegler
Du meinst, ich hab' Angst vor deiner einzinkigen Gabel, weil alle anderen Angst haben? — Kraft hab' ich keine, Haut und Knochen bin ich vom langen Hungern, aber — (er hat den Klopfstein ergriffen, der auf dem Schanktisch liegen geblieben ist, und hebt ihn hoch) — mit so 'nem Schusterstein hab' ich schon einen erschlagen! Mit so 'nem Schusterstein hab' ich schon — — (große Bewegung) Nu komm mal 'ran, wenn du willst. Komm mal 'ran — komm mal 'ran! (Dringt auf Göttlingk ein)
Göttlingk (erschrocken zurückweichend)
Na, na, na, na.
Biegler
Komm 'ran — oder 'raus da — 'raus da. —
Göttlingk
(weicht, unverständliche Worte stammelnd, bis zur Tür zurück)
Biegler (der ihm gefolgt ist)
'raus da! 'raus da!
Göttlingk
Das werd' ich dir — gedenken. — (Rettet sich durch die rasch geöffnete Tür)
Biegler
(sieht sich wirr um und wankt zu seinem Tische zurück. Er sieht verständnislos noch einmal um sich, sieht Lore, die schluchzend, mit verhülltem Gesicht, abgewandt dasteht, sieht die blassen, entsetzten Gesichter und murmelt, wie wenn er langsam zu sich käme)
Was is denn? Was war denn? Was —? (Sein Gesicht verändert sich, er kämpft mit dem Schluchzen und will auf seinem Stuhl zusammensinken, rafft sich aber mit letzter Kraft empor, trinkt sein Bier aus, setzt seine Mütze auf und schreitet mit geballten Fäusten zur Tür zurück; — sich umwendend wirft er einen fragenden, trotzigen Blick auf die ihn regungslos Anstarrenden — und geht hinaus)
(Der Vorhang fällt)
Szenerie des zweiten. Spätabendbeleuchtung. Über den Häusern des Hintergrundes ein glühender Streif Abendrot, der sich allmählich verliert. Vor der Veranda unter dem Fenster der Zarnckeschen Wohnung ein gedeckter Tisch nach vollendeter Abendmahlzeit. Das Fenster der Kantine ist erleuchtet. Beim Aufgehen des Vorhangs ertönt von irgendwoher Biergartenmusik
Marie. Zarncke
Zarncke
(in einem Korbstuhl behaglich ausgestreckt, eine Zigarre rauchend)
Siehste, nu is unsre Amsel auch schon schlafen gegangen.
Marie
Eben sang sie doch noch.
Zarncke
Bald werden sie nu auch im »Gambrinus« Ruhe geben mit ihrem Bumbum.
Marie
Ach, ich hör's gerne.
Zarncke
Ich auch ... Und weißt du, warum? Weil es so schön weitab is vom eigenen Leben ... Da sitzen nu die[S. 125] Menschen in Haufen, stoßen sich, ärgern sich, beneiden sich, begehren sich, und fünf aufgequollene Trompeter machen Musike zu ... Man is doch wahrhaftig wie der liebe Herrgott in seiner Stille ... Sechs Tage hat er an der verfluchten Welt 'rumgebastelt, am siebenten hat er aber auch gar nichts von ihr wissen wollen. ... Was guckste denn immer nach der Lore ihrem Fenster 'rüber?
Marie
Ja, Vaterchen, merkwürdig is es doch.
Zarncke
Was denn? ... Daß der Göttlingk da is?
Marie
Den ganzen Winter ist er Sonntags nicht einmal bei ihr gewesen. Seit seiner Rückkehr nicht. Und plötzlich kommt er — Abends um neune — von da oben — die Treppe 'runter.
Zarncke
Der Deibel mag wissen, was er da oben zu suchen gehabt hat. Aber so käseweiß brauchst du darum doch auch nich zu werden, wenn er nu wirklich mal hinter dir auftaucht.
Marie (schweratmend)
Denk doch, was das für die Lore bedeutet.
Zarncke
Hör mal, Kindchen, hab die Lore lieb! Aber du mußt dich nich so 'reinbegeben in das, was rings um uns geschieht. Nich mitmachen wollen. Das zehrt dann am[S. 126] eigenen Leben. Es bleibe jeder in seiner Haut — und jeder hüte den Schlüssel zu seinem Geheimfach ...
Marie
O, das freilich. Aber — gestern muß was passiert sein bei der Lore drin.
Zarncke
So? Was denn?
Marie
Zwischen dem Nachtwächter und — und — Göttlingk.
Zarncke
So? Hm. Das war ja nu leider vorauszusehn.
Marie (ängstlich)
Wieso?
Zarncke
Sie haben 'rausgekriegt, daß der arme Kerl was pekziert hat. Deshalb hab' ich gestern schon den Eichholz 'rausgeschmissen. Das alte Vieh war ganz rabiat. Irgendwas bereitet sich vor gegen den Biegler. Und schließlich werd' ich noch klein beigeben müssen. Schad um den — (Schnalzt)
Marie
Nein, nein, es scheint was anderes. Was Schlimmeres. Viel was Schlimmeres.
Zarncke
'n Menschen ins Verderben zu jagen is schlimm genug ... Von wem weißt du's denn? Von der Lore?
Marie
Nein. Das ist es eben, was mich ängstigt. Die geht mir heut aus dem Wege, wo sie kann ... Und die Homeyer[S. 127] macht immerzu Andeutungen. Aber was Rechtes kriegt man auch aus der nich 'raus.
Zarncke
Na, wenn das Schwatzweib schon sein Maul hält. Da wollen wir doch mal gleich — (Klingelt)
Die Vorigen. Frau Homeyer
Frau Homeyer
(eine Windlampe in der Hand)
Gotte, Gotte, ich wart' schon immer mit der Lampe ... Nein, so im Dunkeln ...! Wie können Sie bloß?
Zarncke
Sie haben wohl noch nie zu zweien im Dunkeln gesessen?
Frau Homeyer
Ach nein doch! Mit 'n jungen Mann — der nimmt sich dann so leicht was 'raus —
Zarncke
Und mit 'n alten Mann — das lohnt nich.
Frau Homeyer
Aber, Herr —
Zarncke
Sagen Sie mal, Sie, was is denn gestern bei der Lore gewesen?
Frau Homeyer
Bei der Lore? I, daß ich nicht wüßte.
Zarncke
Sie haben doch meiner Tochter erzählt —
Frau Homeyer
Ich? Ach nein, das muß ein Irrtum sein. Ich, dem Fräulein? Und gerade dem Fräulein? I, da müßt' ich — (Nimmt das Tischzeug zusammen)
Marie
Aber Frau Homeyer —
Zarncke (gleichzeitig)
Was heißt das: Gerade dem Fräulein?
Frau Homeyer
Nu ja. Da müßt' ich doch sozusagen eine Schwätzerin sein. Und ich bin im Gegenteil immer höchst zurückhaltend ... Da bin ich bekannt für. Da können Sie alle Mannsleute fragen. Da können Sie meine Zeugnisse lesen ... Und da soll ich mir gerade hier die Zunge bei verbrennen? ... Das kann Ihnen wer anders erzählen, Fräulein. Und dann müssen sich auch nichts draus machen. ... Die Männer sind immer mit dem Maul vorneweg ... Ehrbar sein und sein Myrtenbäumchen pflegen, das is immer noch das Beste für 'n ältliches Mädchen.
Marie
Ja, was hab' ich aber mit dem allen zu tun, Frau Homeyer?
Frau Homeyer
Ja, Fräulein Mariechen, der Mensch hat manchmal mit was nich zu tun, und kommt doch ins Gerede ...[S. 129] Von dem Herrn Göttlingk hätt' ich das freilich nicht gedacht. Der is sonst immer 'n Kavelier gewesen (verschämt) immer so zutraulich — und, wie gesagt, Kavelier. Aber da könnte ja jeder kommen und — ach, bitte das Sahnentöpfchen — und behaupten, er braucht' bloß die Hand auszustrecken, da könnt' er Herr sein auf diesem Steinmetzplatz. Ja.
Zarncke
Was? Was? Was is das?
Frau Homeyer
Und es glaubt ihm auch keiner. Da können Sie ganz unbesorgt sein, Fräulein, das —
Zarncke
Halt! Stopp! 'raus! Weg!
Frau Homeyer
Aber Herr —
Zarncke
Weg, weg, weg, weg!
Frau Homeyer
Ja, ja, Herrgott!
Zarncke
Weg!
Frau Homeyer
(mit dem Tablette ins Innere ab)
Marie. Zarncke
Zarncke
Das haste wahrhaftig um den Lumpen nich verdient, Mariechen. Bittst mich noch, ich soll helfen, ihm sein Nest[S. 130] austapezieren ... Und da traut sich der Kerl überhaupt noch hierher? — Da wollen wir mal gleich — — (steht auf)
Marie
(die, ins Leere starrend, regungslos dagesessen hat, fährt auf)
Nein, Vater, nein!
Zarncke
Was — nein? Und wie siehste denn aus? — Ganz überird'sch!
Marie (in hilflosem Bekennen)
Vaterchen!
Zarncke
(nach einem Schweigen hinter sie tretend)
Miezelchen! (Die Hand auf ihren Scheitel legend, leise) Haben sie dir 's Geheimfach aufgebrochen?
Marie (aufschluchzend)
Nicht ansehn! Nicht ansehn! (Verbirgt das Gesicht in seinem Rock)
Zarncke (sie streichelnd)
Also das war's? Und was du da drinnen verschlossen hieltst, das wird dir nu da — (weist zur Kantine) Ja, wie geht denn das zu?
Marie (von Schluchzen geschüttelt)
Weiß nicht! Weiß nicht!
Zarncke
Na, nu laß doch mal meinen Rock los!
Marie
(verbirgt das Gesicht um so fester)
Zarncke
Willst nich? ... Schämst dich so sehr? ... Kannst mich gar nich ansehn? Möchtst das Tageslicht nich mehr sehn? Möchtst dir womöglich das Leben nehmen noch diese Nacht?
Marie (nickt heftig)
Zarncke (lacht und streichelt sie)
Und machst doch nur durch, was jeder durchmachen muß, dem 'n Stern vom Himmel 'runterfällt. (Zum Himmel weisend) Kiek mal hoch! ... Kannst noch nich? Da sind schon 'n paar. Und dahinter noch Milliarden. Sie stehn da wie für die Ewigkeit. Und sie fallen alle. Aber darum werden wir Menschen nich ärmer ... Höchstens die, denen sie als Zwanzigmarkstücke in die Tasche fallen ... Die Jugend verliert sich zuerst, aber unser Blick wird um so heller ... Die Freunde zerkrümeln sich, aber unsere Freundschaft wird alles, was mit uns reden kann, jeder Gedanke — jeder Hund — jeder Stein ... Na — und die Liebe? — Dem einen fällt sie in den Schmutz — wie dir, dem anderen zerreibt sie der Alltag; — rasch oder langsam, es is immer dasselbe, — aber vor der Tür lauern schon wieder viele, die wollen sehr liebgehabt sein, und die brauchen's den Deiwel wie nötig ... Selbst der Herrgott wird uns aus unseren Herzen gerissen, aber unsere Herzen schlagen kräftiger ... Kindchen, 's wird noch 'n büschen weh tun 'ne Zeit lang ... Scham brennt ... Aber seines guten Rechts soll sich der Mensch nicht schämen. Und dein Recht war's ... Ja war's ... Wie's mein Recht war und ist, dich liebzuhaben und dir zu sagen: Halt still ... Die Stillen sind die Klugen ... Und nur wer von der Welt weit, weit ab is, der hat sie ganz.
Marie (sich aufrichtend)
Vaterchen, hast du das immer gedacht?
Zarncke
Ich geb' zu, Kindchen, es is 'ne Weisheit für die Kranken und die Alten. Aber die, welche die Jungen und die Gesunden sich zurechtmachen, is auch nischt wert ... Na — nu schmunzelst du ja wieder —.
Marie (schluchzt kurz auf)
Zarncke
Nich, nich, nich ... Und komm 'rauf ... Mir is, die Tür hat schon 'n paarmal geklappt. (Weist nach der Kantine) Da traut sich einer nich an die frische Luft, eh' wir nich verduftet sind.
Marie
Die arme Lore!
Zarncke
Nja. Na, komm. (Beide ins Haus ab)
Eichholz. Göttlingk. Lore
Eichholz
Scht! Du, Göttlingk! — Sie sind weg!
Göttlingk (heraustretend)
Es war auch hohe Zeit! ... Denn wenn mir jetzt — gewisse Leute in den Weg gerannt wären — — na! Also übers Aufgebot reden wir noch, Lore!
Lore
(die in der Tür geblieben ist, matt, freudlos)
Wie du willst, Eduard.
Göttlingk
Dann wollen wir also Schluß machen mit dieser elenden Quetsche. Mein Handwerkszeug bringt mir morgen der Vater und — ja, richtig! Die Mandoline gib mir doch noch mit.
Lore (verschwindet)
(Die halboffene Glastür über der Veranda hat sich erhellt. Die Gestalt Zarnckes wird dahinter sichtbar)
Göttlingk (leise)
Is das nich der Alte da oben?
Eichholz
Ja, der schläft da.
Göttlingk
Scht! Na, endlich macht er die Türe zu. (Das Rouleau wird herabgelassen)
Lore (bringt die Mandoline)
Göttlingk
So ... Vater begleitet mich noch ein Stückschen.
Lore (ängstlich)
Vater, es wäre wohl besser, du — —
Eichholz (scheltend)
Was heißt das? Was hast du —?
Göttlingk (gleichzeitig)
Nu laß doch Vater! ... (Reicht ihr die Hand) Gute Nacht! — (Da sie in der Türe stehen bleibt) Nu geh nur! Geh nur!
Lore (tonlos)
Gute Nacht. (Ab, die Türe hinter sich schließend)
Eichholz. Göttlingk
Göttlingk
Na — und nu? ... Wir haben drin nich ausreden können, weil uns die Lore ewig auf den Hacken saß. Wie denkst du nu über 'ne gute Streckschicht für den Kerl?
Eichholz
Ich bin immer ein ehrenwerter Mann jewesen, ich bin ein zuverlässiger Mann jewesen und ein —
Göttlingk
Ja, ja, ja, ja!
Eichholz
Aber sie haben mir die Seele aus dem Leibe gezogen, sie haben mir den höllischen Geier, welcher heißt Hadramoth, den haben sie mir —
Göttlingk
Nu quatsche nich. Komm mal mit 'rüber in die Destillation.
Eichholz
Hier steh' ich, hier jeh' ich nich weg. Sobald der Hund kommt, dann stürz' ich mir los auf ihm. Brust gegen Brust.
Göttlingk
Na und dann?
Eichholz
Dann? Ich hab' dem Alten gesagt: Herr Zarncke, hab' ich gesagt, es gibt — ein Unglück.
Göttlingk
Ja, mit's Maulwerk.
Eichholz
So? ... (Zögernd) Du, und was is denn mit dem — Block?
Göttlingk (lauernd)
Was für 'n Block?
Eichholz
Wo du vorhin von sprachst.
Göttlingk
Ach so ... Siehst du den da oben im Flaschenzug?
Eichholz
Ja.
Göttlingk
Wenn da einer die Ketten aushängt, dann steht er bloß auf der Kippe. Verstehste? Eine Holzsteife — die kann 'n Kind wegschlagen. — Und geht dann einer die Treppe 'rauf — muß er die Treppe 'rauf?
Eichholz
Nu jewiß. Der Alte hat doch dahinter 'ne Kontrolluhr aufgestellt. —
Göttlingk
Daß da man kein Malheur passiert!
Eichholz
(argwöhnisch, will nicht verstehn)
Warum soll — da gleich — 'n Malheur passieren?
Göttlingk
Ach so! ... Scht! Is er das nich? (Man hört rechts das Schließen einer Tür)
Eichholz
Ja.
Göttlingk (leiser)
Nu komm ... Drüben trinken wir noch eins ... Kann man da oben irgendwo 'raus?
Eichholz
Durch die kleine Tür. Immerzu.
Göttlingk
(ihn nach dem Hintergrunde ziehend)
Na denn komm!
Eichholz
Warum nich hier durchs Tor?
Göttlingk
Komm, komm, komm ... Da scheint auch wer zu stehn. — Komm! (Auf einer mittleren Treppenstufe hält er inne) Scht!
Eichholz
Er schließt noch das Sägewerk.
(Beide verschwinden links oben. — Während rechts eine schwere Tür zugeschlossen wird, hört man oben das leise Klirren der Flaschenzugketten. Dann Stille. Während der folgenden Szene geht der Mond auf)
Biegler. Dann Struve
Biegler
(mit Schlüsselbund und schwerem Stock, eine Schnarre umgehängt, erscheint rechts vorne und geht an dem erleuchteten Kantinenfenster vorbei, dann revidiert er das Schloß des Magazins und will zur Tür des Wohnhauses hinüber)
Struves Stimme (vom Haustor her)
He! Scht! Nachtwächter! Biegler!
Biegler
Wer is da?
Struves Stimme
'n guter Freund!
Biegler
Ich hab' keine guten Freunde.
Struves Stimme
Struve is da.
Biegler
Struve kann bei Tage kommen.
Struves Stimme
Mach auf, sonst reiß' ich an de Klingel.
Biegler
Was is denn? (Er geht aufmachen. Man hört den Schlüssel sich drehen. Dann erscheint er zusammen mit Struve) Na?
Struve
Fsch! Drinne wär' mer ja nu.
Biegler
Also was willst du?
Struve
Sachte, sachte, sachte! ... Ick jeheer' hier zu's Haus. Ick hab' 'n Amt hier ... 'n Vertrauensposten! Jawoll! ... Da muß ick mir iberfihren können bei Tag und bei Nachte ... Ick kann schon jar nich mehr schlafen vor lauter Ehrjefihl. Ja.
Biegler
Na, schlaf man. Ich geh' ja hier als Wächter.
Struve
Det sagste so in deinen Jemiete. — Aber wenn du eines Morjens nicht mehr dabist —
Biegler
Wieso?
Struve
Na, Mensch, Kohlege, wir beid' kennen uns doch. Uns haben se doch aus denselben Suppentopp jeangelt.
Biegler (bitter)
Ach so!
Struve
Und diesentwegen biste dir doch klar: Weg mußte hier nu doch!
Biegler
Ja. Das bin ich mir klar.
Struve
Als du jestern 'raus warst, da haben die Steinmetzen noch ne jroße Beratung jehabt. Da haben wer nich zuheeren[S. 139] derfen. Bloß, daß se morjen früh zum Alten jehn werden, das hab' ich noch —
Biegler (in bitterer Erregung)
Und meinen Austritt fordern?
Struve
Wer zufällig fünf Finger hat, kann sich das ja dran abzählen.
Biegler (verbissen, verzweifelt)
Ich wart's gar nich ab. Ich geh' alleine.
Struve
Da wärste ja auch scheen dumm, wenn du dir — nich vorher schon dinne machen wolltst. — Und darum bin ick eben auch 'n bisken dahinter jewesen. Deiwel auch! Wenn man so die Verantwortung hat.
Biegler
Wofür? Für mich?
Struve
Ne — aber — (macht Zeichen nach dem Magazin hin) vor — — Ick kenn' doch 's menschliche Leben. So 'ne Sachen die loofen doch jewissermaßen hinter einen her. Janz von selber. Wie wenn se Beene hätten. Da kann man jar nischt vor.
Biegler
Was denn? Was denn?
Struve
Na, du weißt schon. Aber in so 'ne menschliche Versuchungen da muß man eben 'n Freind haben. Mann mit[S. 140] Ehrjefihl. Und so. Wo einem 'n bisken ins Jewissen redt ... Denn der Fallstricke des Teufels sind viele, und — — was? Wie sagste?
Biegler (mit einem kurzen Lachen)
Ich sag' jar nischt.
Struve
Na, nu mal unter uns! — Wenn du — und du jehst hier weg, wo wirschte denn nu hinmachen?
Biegler
Wer kann das wissen?
Struve
Nu, setz dir mal bisken hier dal! (Zieht ihn auf den vordersten Block) Sieh mal, mir jeht hier ja so weit janz jut. Ick bin Verdrauensperson. Und so. — Aber zu viel Ehre kann der Mensch auch nich verdragen. Des drickt aufs Jemiet, weißte ... Und weil ich dir nu mal so liebhabe — jewissermaßen, und weil de iberhaupt noch im janzen 'n bisken klietrig bist — weißte! — — na? — Wollen wir zusammen uf de Fahrt steigen?
Biegler
Was? Du und ich?
Struve
Nu ja. Mit die Ansichten, wo wir beide vons menschliche Leben haben — die haben wir nu mal! Die kann uns keiner nehmen. Die einen wälzen sich in'n Jolde, wir wälzen uns in'n jrienen Chausseejraben. Tagsüber sehn wir mal bisken nach, wo wat los is, Abends saufen wir uns 'n verjnichten Teng ins Jesichte. Hier mußte[S. 141] ewig 'n krummen Puckel machen und dir sauer anhauchen lassen und wirscht doch nie mehr im Leben, wat die andern sind!
Biegler
Mensch! Da haste recht!
Struve
Draußen veracht' dir keiner ... Und da biste bloß einem Jehorsam schuldig, — das is der Meilenzeiger ... Na?
Biegler
(schaut abschiednehmend um sich, mit hartem Entschluß)
Gut! Wann willst du — losjehn?
Struve
Losjehn? ... Jleich. Uf'n Momang.
Biegler (in Erregung)
Ich muß doch erst — mit ihm — reden ... Muß doch kündigen.
Struve
Ach! Sei doch kein Milchkalb! Wird er dir viel kündigen? Und noch eins sag' ich dir: Der Jöttlingk is 'n tück'sches Luder. Der verjeßt dir die Blamasche nich. Da kannste morjen drei Zoll Stahl ins Leib kriegen, jleich, noch auf'n nichternen Magen.
Biegler (dumpf, entschlossen)
Mir is alles egal.
Struve
Ne, ne, ne, ne. Komm jleich. Nimm dir in acht.
Biegler
Zeugnisbuch muß ich haben. Dann komm' ich mit.
Struve
Zeichnisbuch? Ick weeß 'ne Penne hier in de Jegend, da stempelt dir 'n jewesener Oberjeheimrat de piksten Flebben noch heite nacht. Und denn — wat willste mit 'n Zeichnisbuch? — Et steht ja woll jeschrieben: »Ehrlich währt am längsten« — aber 'n tichtiger Spitzbube fährt mit vier Hengsten. Und iberhaupt mit die olle Tugend! Die schabt sich ab wie 'ne dreck'ge Scheierbürschte. Da droppt dir ewig de Nese von wie bei'n kleinen Swienegel ... Bloß natirlich — 'n jewisses Anlagekapital — det missen wir haben.
Biegler
Wozu? Woher?
Struve
Det brauchste überall. — Ohne 'n Parchentlappen kannste nich uf de Flohjagd. — Willste lernen Jold machen? Kleinigkeit! Aber natirlich — wenn de keinen Dukaten hast, kannste auch keinen Dukaten beschneiden. Siehste! Das is der Witz ... Na, Jott sei Dank, bei uns is ja nich wie bei arme Leit' ... Kleines Vermeegen zum Anfangen — und so — is ja alles da.
Biegler
Ich krieg' noch nich mal 's volle Monatsjehalt.
Struve
Aber Mensch! — Bejreifst de denn noch immer nich?
Biegler
Was denn? Na was denn?
Struve
Herrgott! Schon doch 'n bisken mein Ehrjefihl und frag nich immer so glup'sch. Aber se sind doch nu mal da. Da kann man doch nischt machen.
Biegler
Was? Was? Was?
Struve (zaudernd, verlegen)
Na — de — de — Diamanten.
Biegler
Die willst du am Ende —?
Struve
Die brechen wir doch jetzt jleich aus. Det is doch 'n janz reelles Jeschäftsprinzip. Anzeigen kann uns der Olle nich mehr. Sonst blamiert er sich. Na?
Biegler
Ach so einer bist du! Na, dann jeh man wieder zu Hause.
Struve
Du bist wohl 'n Schlamassel?
Biegler
Ich muß jetzt elfe abpfeifen. (Wild) Jeh, oder ich pack' dir ins Jenick.
Struve
Na — denn mach's gut! ... Ick hab' mir aber sehr in dir entteischt. Den Vorwurf kann ick dir nich ersparen! ... Äh! Is nischt mehr los mit's menschliche Leben, nich vor und nich hinter de Mauer.
(Ab, von Biegler gefolgt. Man hört das Tor auf- und zuschließen)
Lore. Biegler
Lore
(tritt aus der Kantinentür und lauscht nach links hin)
Vater, bist du's?
Biegler
Ich bin's, Fräulein.
Lore (freudig aufschreckend)
Ach Sie sind's ... Haben Sie Vater nich gesehn mit — mit — noch einem?
Biegler
Nein.
Lore
Ach — 'n paar Augenblicke könnt' ich Sie sprechen — ja?
Biegler
Ich möcht' Sie ja auch noch sprechen, bevor ich ... das heißt wenn Sie mir danken wollen etwa —
Lore
Danken darf ich Ihnen wohl noch nich mal! Weiß Gott, Herr Biegler, ich wollt' Ihnen so gerne helfen. Das war meine einzigste Absicht. Statt dessen haben Sie mir geholfen. Nu helfen Sie mir auch weiter. Ich weiß nicht aus, nicht ein.
Biegler
Was is denn nu?
Lore
Er — war — eben da.
Biegler
Aha ... Na, wann wird Hochzeit sein?
Lore (schweigt)
Biegler
Oder will er noch immer nich?
Lore
Ja, ja, er will ... Er sagt wenigstens, er will ... In Arbeit kommt er nich mehr zurück.
Biegler
So? Ei, ei!
Lore
Aber sobald er was andres gefunden hat, sagt er —
Biegler
Das kann ihm ja nich fehlen.
Lore
Herr Biegler, sagen Sie mir, is denn das möglich? — Man hungert, man hungert nach seinem Glück, jahrelang — und wie man's endlich hat — so, zwischen seinen zwei Händen, da is es mit einem Mal keins mehr, da will man gar nich mehr, da is man satt, satt. Satt is man. Satt.
Biegler
Wer satt is, soll nich essen.
Lore
Ich kann doch nicht »nein« sagen zu ihm ... Das is doch Wahnsinn. Da drin schläft doch mein Lenchen.
Biegler (erregt, verbissen)
Mancher Mann wär' glücklich, Ihr Lenchen auf dem Schoß zu halten.
Lore (erschrocken)
Herr Biegler, so etwas darf ich nich denken. Das is Sünde.
Biegler
Sünde is, wenn man sich mit sehenden Augen ins Unglück stürzt.
Lore
Das sagen Sie heute, und gestern — haben Sie Stellung und alles — haben Sie hingegeben — bloß —
Biegler
Gott weiß, wie alles kommt.
Lore
Ach, wenn ich reden dürfte! Ich glaub' ihm ja nichts mehr. Ich laure bloß immer: Was für 'n Hintergedanken hat er nu? Mit Vater hat er im Winkel gesessen, weit weg, damit ich nichts hören soll ... Es war da die Rede von — Gott, Sie wissen ja, wie Vater is. Nu hebt mich die Angst, daß er ihm irgend was Schlimmes einredet.
Biegler
Wem kann der alte Mann denn was tun?
Lore
Vielleicht irr' ich mich auch. Ach, sagen Sie mir, was soll ich? Ich kann ja nich mehr los von ihm. Ich bin jahrelang wie sein Hund zu ihm gewesen. Ich kann ja nich mehr los von ihm.
Biegler
Ja, wenn Sie nich können.
Lore
Ach, lieber Herr Biegler, helfen Sie mir.
Biegler
Helfen! Ich weiß mir alleine nich zu helfen!
Lore
Ach, Sie sind stark. Das weiß ich seit gestern. Sie können, was Sie wollen! Sie —
Biegler
Hähähähä! Weil ich 'n Stein gefunden hab' zur richtgen Zeit. Ich will nich bald wieder auf 'ner dreckigen Pritsche liegen, Pennbruder rechts, Pennbruder links — wenn nichts Schlimmeres — und mir die Augen aus dem Kopf brennen vor — — und muß doch.
Lore
Sie können doch auch da gehn, wo Sie hingehören. Zu Ihresgleichen.
Biegler
Das is meinesgleichen, Fräulein Lore. Irren sich nich. — Da gehör' ich hin ... Aus der Welt, wo Sie sind, da bin ich 'raus. Wo ich lebe, da is Krätze und Fuselgestank, da spuckt man sich auf die wunden Füße, weil man kein Geld zu Salbe hat, da verkauft man seine ewige Seligkeit um ein gefälschtes Stück Attest.
Lore
Aber noch sind Sie doch hier.
Biegler
Schon so gut wie nich mehr. Morgen früh geh' ich weg.
Lore
Aber warum denn? Warten Sie doch ab!
Biegler
Ich wart' gar nichts mehr ab. Nichts Gutes, nichts Böses. — Ich geh' auf alle Fälle ... Nu sie aus meinem eigenen Munde wissen, was für einer ich bin, nich einen Tag mehr ... Dies is bloß wie 'n schöner Traum gewesen. Der is nu aus ... Ach, bangen werd' ich mich schon sehr ... Ja, die Nächte, wenn der Mondschein überall auf den Blöcken liegt ... Da — sehn Sie, da ... Bei Tag sind sie man grau ... Aber Nachts wie Carrara ... Manchmal bin ich so 'rumgegangen und hab' einen gestreichelt und den andern gestreichelt und hab' gedacht: »Wer wird dich mal behauen — der Glückliche!« ... Und wenn dann erst alles ganz still wird — ringsum auf den Straßen, — dann sitzt man mitten in der Welt wie in einem schönen, warmen Mantel — ganz ruhig und ganz — — ich sagt's Ihnen schon gestern — aber das kommt erst viel später gegen Mor — — (Hält lauschend in ängstlicher Spannung inne)
Lore
Was is?
Biegler
(Man hört links Gelächter von Frauenstimmen und Singsang — scheinbar sich entfernend)
Horchen Sie! Horchen Sie!
Lore
Nun ja. Da lachen 'n paar auf der Straße. Was is denn dabei?
Biegler (leise)
Das sind die Mädchen, die unter Aufsicht stehn. Die ziehen hier in die Runde — von elfe ab — immer ums Straßenkarree 'rum — bis gegen Morgen. (In Angst) Solang ich die lachen hör', da —
Lore
Was haben Ihnen denn die armen Weiber getan?
Biegler (leise, geheimnisvoll)
Sie is drunter. Ja, sie, sie ... die geht jetzt auch so 'rum.
Lore
Woher wissen Sie das?
Biegler
Ich hab' — sie — getroffen.
Lore (erschrocken)
Hier draußen?
Biegler
Ne ... Bevor ich herkam. Oben im Norden ... Wenn sie mich gesehn hätt' — ich hab' mich bloß geschämt, weil ich so abgerissen war, sonst — weiß Gott, was ich jetzt schon wär' ... (Er schaudert) Ja, der Hunger kann viel ... Na — werden ja sehn!
Lore (erschüttert)
Aber Sie haben doch Ihren guten Willen, Sie —
Biegler
Was is guter Wille? Mein guter Wille sind Sie gewesen, Sie und der komische alte Mann da drin. Von jetzt ab hält mir keiner mehr die Stange hin. Aber gedenken[S. 150] werd' ich's Ihnen — bis — ... Fräulein Lore, es is mein letzter Dienst heute. Ich hab' die Elf-Uhr-Runde noch nich gemacht.
Lore (sich ängstlich umschauend)
Ach — noch — noch — Wenn ich bloß wüßte, wo er Vater hingeschleppt hat ... Ich kann die Angst nich los werden, daß, daß — —
Biegler
Na, was denn?
Lore
Ach, nehmen Sie sich vor dem Block in acht — dort — ja?
Biegler
Ja, ja, der hängt locker, ich weiß ...
Lore
Und bleiben Sie wenigstens im Mondschein. Gehn Sie nich ins Finstre — nein?
Biegler (kurz auflachend)
Das wär' 'n richtiger Wächter, der sich vorm Finstern grault. Und heut bin ich noch einer ... Heut bin ich noch Mensch ... Morgen munter — wieder 'runter — in den Morast ... (Streckt in tiefer Bewegung die Hand gegen sie aus) Gut soll's Ihnen gehn, Fräulein Lore ...
Lore (ohne die Hand zu nehmen)
Ja, Herr Biegler, wenn's Ihnen hier so gefällt ... Schließlich, wenn's Ihnen die andern verzeihen, warum müssen Sie denn durchaus weg?
Biegler
Wer wird mir verzeihen? ... Die Steinmetzen haben ja schon beraten, daß sie morgen zum Alten gehen werden — und —
Lore
Nu ja.
Biegler
— und —
Lore
Ach, Sie denken wohl ...? Ach, Sie wissen noch gar nich ...?
Biegler
Was is da viel zu wissen?
Lore
Herr Biegler, die Steinmetzen wollen morgen zum Alten gehn — das is richtig, aber nicht darum, was Sie glauben, sondern weil sie ihm sagen wollen, daß sie gerne mit Ihnen zusammenarbeiten werden.
Biegler (verständnislos)
Die Steinmetzen — wollen — dem Al—
Lore
Ja. Weil Sie ja bewiesen haben, daß Sie vom Fach sind, und weil Ihr Auftreten gestern ihnen so gut gefallen hat, darum soll Ihr Privatleben keinen mehr was angehn, haben sie gesagt.
Biegler
Die Steinmetzen wollen — die Steinmetzen wollen — die Steinm— — — Gott, Gott, Gott! ... Die Steinmetzen wollen — ja, warum haben Sie mir das nich schon früher gesagt?
Lore
Sie sagten doch, Sie warten gar nichts mehr ab ... Sie gehen auf alle Fälle.
Biegler
Wenn die Steinmetzen wollen, warum soll ich denn —? Wenn ich wieder — ich soll wieder Krönel und Scharriereisen in die Hand nehmen? ... Ich soll wieder die blaue Schürze — umbinden — dürfen? Ich soll — soll — soll — wieder die blaue Schürze ... (Heimlich, leise, in Angst) Fräulein Lore, ich will Ihnen was anvertrauen. — Aber — (Legt die Hand auf die Lippen) Ich hab' nämlich manchmal solche Anfälle gehabt (wischt sich über die Stirn) in der Anstalt ... Das find't man dort sehr oft ... Sind Sie ganz sicher, daß Sie das eben gesagt haben, daß die Steinmetzen — morgen — dem Alten —?
Lore
Aber Herr Biegler, ja, ja!
Biegler
Und Sie glauben auch, es kann — nichts mehr — dazwischenkommen — bis morgen?
Lore
Was sollt' denn das sein?
Biegler
Nu, daß die Steinmetzen ihren Sinn ändern — oder daß der Alte sagt: »Nein« — oder daß mir 'n Stein auf'n Kopf fällt — oder, was weiß ich?
Lore
(sieht sich erschrocken nach der Treppe um, leise)
Stein auf'n —
Biegler (lachend)
Ach, wissen Sie, das wär' wirklich schade. Denn ich bin immer 'n tüchtiger Arbeiter gewesen ... Ich hab'[S. 153] schon zwei Preise gekriegt ... Ich bin mal vor der ganzen Innung — bin ich öffentlich belobt worden ... Gespart hab' ich auch mal ... Ich hab' mal schon acht Mark fünfzig pro Tag verdient ... Ich versteh' auch gut in Granit zu arbeiten. Profile und Alles ... Granit, das wissen Sie ja, das ist das Härteste ... Dabei scheint es einem manchmal wie Gallert ... weicht einem geradezu aus. Man kann da mit dem Spitzeisen gar nich 'ran ... da muß man — da muß man — (vom Glücke überwältigt) Die Steinmetzen — wollen — mit mir — — (sinkt lachend und schluchzend auf die Bank, das Gesicht gegen die Mauer gelehnt, leise) arbeiten — mit mir — arbeiten — —
Lore
(macht mitleidig einen Versuch, seinen Rücken zu streicheln)
Ach Gott! (um ihn zu erwecken, ein wenig ängstlich) Herr Biegler! ... Herr Biegler!
Biegler (zu sich kommend)
Ja, ja, ja, ja! Wo hab' ich meinen Stock — meine Pfeife? ... Ich bin ganz, ganz ... die Kontrolluhren hab' ich auch noch nich gestochen! — Heut darf ich nichts versäumen, sonst ... Hahaha — hahahaha! Adieu, Fräulein Lore. Ich komm' bald wieder.
Lore
Wo wollen Sie hin, Herr Biegler?
Biegler
Runde machen — nach oben — die Treppe 'rauf ...
Lore (leise)
Gehn Sie nich, Herr Biegler. Nich die Treppe 'rauf!
Biegler
Warum denn nich? Haben Sie immer noch Angst vor dem Block?
Lore (in wachsender Angst)
Gehn Sie nich, Herr Biegler! Wenn Sie sich freuen auf Ihr künftiges Leben — wenn Sie den Krönel wirklich noch mal führen wollen — wenn Sie — ... Mein Kind hat Ihnen das erste Willkommen gesagt, das hat Ihnen Glück gebracht — darum ... ach, gehn Sie nich! Gehn Sie wo anders, aber da nicht!
Biegler
Fräulein Lore, Sie werden ja wohl Ihre Gründe haben —
Lore
J, ja, ja, ja.
Biegler
Aber sein Sie ganz ruhig! Nu kann geschehn, was will! Mir tut keiner mehr was. Jetzt nich mehr. Nee.
Lore (entschlossen)
Dann komm' ich mit.
Biegler
Gut! Kommen Sie mit. Gehn wir alle beide nachtwächtern!
Lore (ruft hinauf)
Is da einer oben? (Schweigen)
Biegler
Na sehn Sie!
Lore (leise)
Herr Biegler, wenn wir die Treppe 'raufgehn, dann fassen Sie mich mal um den Leib. Ganz fest.
Biegler
Ich soll Sie umfassen? Das is doch nich Ihr Ernst?
Lore
(umschlingt ihn rasch, mit erhobener Stimme)
So werden wir jetzt die Treppe 'raufgehn. Und dann wollen wir doch mal sehen.
Eichholzens Stimme (von oben)
Wirste weg da, du —
Göttlingks Stimme
Scht!
Biegler
Nanu! Was is denn das? (Er reißt sich los und springt blitzschnell die Treppenstufen hinan. — In demselben Augenblicke stürzt dicht hinter ihm der Block mit Getöse herunter, prallt gegen die Stufen und zerschellt am Boden. Eine Staubwolke wirbelt auf. Man hört oben das ängstliche Granzen des alten Eichholz und ein Stöhnen wie von Ringenden)
Lore
(ist mit einem Schreckensruf zurückgewichen und schreit, sinnlos vor Angst, in das Dunkel hinauf)
Tu ihm nichts, Eduard. Ich zeig' dich an. Ich zeig' dich an. Ich zeig' dich an.
Göttlingks Stimme
Schrei nich, du Frauenzimmer! (Man sieht seine Gestalt nach links hin flüchten und verschwinden)
Lore. Biegler. Eichholz. Später Zarncke. Marie. Frau Homeyer. Zwei Dienstmädchen
Stimmen von der Straße her (durcheinander)
Was ist da los? Was is da geschehn? Da is Mord und Totschlag ... Macht doch mal auf! ... Aufmachen! — (Man rüttelt am Tor)
Biegler
(führt unterdessen den Alten die Treppe herab)
Vorsicht! ... Da sind Stufen zerbrochen. — Vorsicht! —
Eichholz (betrunken weinend)
Ich bin unschuldig. Ich hab' nichts getan ...
Lore (ihnen entgegen)
Um Gottes willen, Vater!
Biegler
(gibt den Alten, der sich nicht aufrecht halten kann, an Lore und ruft nach links hinübergehend atemlos)
Was wollen Sie hier? 'n Stein is 'runtergefallen. Weiter nichts ... Weiter is nichts. —
Die Stimmen (durcheinander)
Nu machen Sie doch mal das Tor auf ... Wollen mal nachsehen.. Geschwindelt wird nicht ... Aufmachen!
Biegler
Hier wird nichts aufgemacht. Gehen Sie Ihrer Wege! (Pfiffe. Gelächter. Abgerissene Rufe. Dann allmählich Stille)
Eichholz
(der von Lore zu dem vordersten Block geführt wird, wo er sich niedersetzt, derweilen weitergranzend)
Ich bin nu auch 'n Mörder. Ich komm' nu aufs Schafott.
Zarncke
(hat derweilen Licht gemacht, das Rouleau hochgezogen und die Glastür geöffnet, dann tritt er im Schlafrock auf den Balkon hinaus)
Was is da unten? Is da ein Unglück geschehn?
Lore
(mit flehender Gebärde zu Biegler hin)
Ach bitte, bitte!
Zarncke
Bekomm' ich keine Antwort?
Biegler
(nach Atem ringend, mit zitternder Stimme)
Der Oberkirchner Sandsteinblock links an der Treppe is vom Stapel gefallen, Herr Zarncke.
Zarncke
Wie hat denn das passieren können?
Biegler
Er stand auf Hochkant im Flaschenzug. Da haben sich wohl die Ketten gelockert.
Zarncke
Und was klagt der alte Eichholz so? Hat er sich verletzt?
Lore
(Angst und Erregung niederzwingend, mit geheuchelter Ruhe)
Er hat sich wohl 'n bißchen weh getan ... Aber schlimm is es nicht, Herr Zarncke.
Zarncke
Na wenn's weiter nichts is.
Eichholz (wird allmählich still)
Frau Homeyer
(in Nachtjacke mit einem dunkeln Tuch darüber, ist mit zwei Mägden hinter sich auf die Veranda hinausgetreten)
O Gott, o Gott, o Gott, da is gewiß 'n Malheur passiert.
Zarncke (herunterrufend)
Nichts is passiert. Geht mal alle ins Haus zurück!
Marie
(die während des Vorigen in dem — gleichfalls erhellten — Fenster des Wohnzimmers erschienen ist)
Du, Lore, komm mal her zu mir.
Lore (geht zu ihr)
Frau Homeyer (derweilen)
Da is sicher wieder 'n fremder Mann bei der Lore gewesen. Da möcht' ich jeden heiligen Eid drauf schwören.
Zarncke
Na, wird's bald?
Frau Homeyer (mit den Mägden ab)
Ja, ja, ja, geh' schon. Herrgott, ja.
Marie (leise)
Was schriest du da vorhin? Und zu wem?
Lore (bebend)
Ich?
Marie
Ich war wach. Mich täuschst du nicht.
Zarncke
Mariechen.
Marie
Vaterchen?
Zarncke
Geh nu man auch zu Bett. Den Schaden können wir uns morgen besehn. Das heißt, dem Willig werd' ich aufs Dach steigen. Haben sich wohl tüchtig erschreckt, Biegler — was?
Biegler
(noch immer zitternd in Erregung)
Ach — nich sehr — Herr Zarncke.
Zarncke
Na denn: Gute Nacht, Kinder.
Lore
Gute Nacht, Herr Zarncke.
Marie (gleichzeitig)
Gute Nacht, Vaterchen.
Zarncke
(geht ins Zimmer zurück und schließt die Glastür)
Lore (leise)
Morgen erzähl' ich dir alles. Es is viel geschehn seit gestern.
Marie
Aber doch nur Gutes?
Lore (fest)
Ja. Weiß Gott.
Marie (in wehmütiger Güte)
Na, dann freut's mich auch. Gute Nacht.
Lore
Gute Nacht, Mariechen.
Marie (schließt das Fenster. Ab)
Lore. Biegler. Eichholz
(Fenster und Glastür verdunkeln sich. Die Stimmen der Straße haben sich allmählich verloren. Mitternachtsstille)
Biegler
(sinkt, von den Folgen der ausgestandenen Erregung überwältigt, auf die Bank und atmet schwer)
Lore
Was is Ihnen, Herr Biegler? Sind Sie ganz heil geblieben? Is Ihnen auch nichts geschehn?
Biegler
Ich muß mich bloß — 'n bißchen verschnaufen ... ich bin ganz ...
Lore
Aber Sie rangen doch mit ihm? Hat er Ihnen da nichts getan?
Biegler
Er hat nich mal mehr so viel Courage gehabt, seinen Dreikantigen zu ziehn. — Na, kommen Sie noch immer nich los von ihm?
Lore
(mit einer wilden Gebärde des Befreitseins)
Ach!
Biegler
Ja. Dem sein Hund sind Sie gewesen, scheint mir.
Lore
Und meinen alten Vater so zu — der Schuft! ... Vater! Du mußt zu Bett gehn, Vater!
Eichholz
(antwortet nicht, atmet tief im Schlafe)
Lore
Gott! — Nu sehn Sie bloß!
Biegler
Schläft er am Ende?
Lore
Dem werden Sie doch nichts nachtragen?
Biegler
Wenn er mir nichts nachträgt. Hahaha.
Lore
Herr Biegler!
Biegler
Was, Fräulein Lore?
Lore
Ich kann nichts sagen — mir ist das Herz so — ich kann nicht ...
Biegler
Aber die Hand können Sie mir geben. (Streckt ihr die Hand entgegen) Wenn die nu wieder rein wird, dann sind Sie schuld.
Lore
(weist kopfschüttelnd nach dem Balkon)
Unser Alterchen da oben is schuld.
Biegler (seine Hand in der ihren)
Ja, wie's auch wird, dem wollen wir danken ... Scht! ... Schlägt's da nich zwölfe? (Man hört die ferne[S. 162] Turmuhr schlagen) Wahrhaftig! Nu muß ich aber wirklich mal Runde machen und abpfeifen ... Sonst bin ich ja gar nich wert, daß ... (Lacht leise und glücklich) Gute Nacht, Fräulein Lore!
Lore
Gute Nacht, Herr Biegler.
Biegler (am Fuß der Stufen)
Na, nu kann ich ja wohl ruhig die Treppe 'rauf?
Lore
Der kommt nie wieder. —
Biegler (von den Stufen her)
Gute Nacht!
Lore
Gute Nacht.
Biegler (verschwindet nach rechts)
Lore
Vater! ... Nu mußte aber wirklich schlafen gehn, Vater. (Der Alte rührt sich nicht. Man hört Biegler dreimal kurz pfeifen) Vater, hörst du, wie er pfeift? (Biegler pfeift — wieder von weiter her) Vater, das Glück pfeift! Das Glück pfeift! (Sie sinkt schluchzend vor dem Alten nieder, das Gesicht an seinem Knie verbergend. Der Alte schläft fort. — Das Pfeifen Bieglers tönt leiser, je weiter er sich entfernt)
(Der Vorhang fällt langsam)