The Project Gutenberg EBook of Rückblicke, by Dr. rer. pol. Walter Grünfeld This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org ** This is a COPYRIGHTED Project Gutenberg eBook, Details Below ** ** Please follow the copyright guidelines in this file. ** Title: Rückblicke Author: Dr. rer. pol. Walter Grünfeld Posting Date: August 13, 2012 [EBook #7049] Release Date: December, 2004 First Posted: February 28, 2003 Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK RÜCKBLICKE *** Copyright (C) 1998 by Frank Dekker Rückblicke Dr. rer. pol. Walter Grünfeld Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Frühes Panorama und Vorgeschichte Kapitel 2 Die Familie und Kattowitz Kapitel 3 Kindheit und frühe Jugend Kapitel 4 Kattowitz kommt zu Polen Kapitel 5 Als Student in der Weimarer Republik A) Berlin a) Leben und Studium b) ... und politische Betätigung B) München C) Zwischen Breslau und zu Hause Kapitel 6 Nach dem Ende von Weimar Kapitel 7 Emigration nach Hause, in Polen Kapitel 8 Der 2. Weltkrieg bricht aus Kapitel 9 Kriegsflüchtling Anmerkungen Literatur Kapitel 1 Frühes Panorama und Vorgeschichte Wenn man von einem Nachmittagsausflug nach dem Franziskanerkloster Panewnik durch einen damals reichen, grünen Laubwald zurückwanderte und aus dem Wald trat, da hatte man, von leichter Anhöhe, ein gutes Panorama von Kattowitz vor sich, mit dem benachbarten Zalenze und einigen noch weiter westlich und östlich gelegenen Industriegemeinden, aber man erschrak auch, denn man sah, wie alle diese bewohnten Gegenden in dichte Wolken von Dunst und Rauch getaucht waren. Und dort lebten wir also. Mußte man also jetzt dorthin zurücklaufen? Das war aber nur eines von recht wenigen Malen, daß ich das als Kind gefragt habe. Für mich war diese Silhouette der Kohlengruben, Eisen­ und Zinkhütten, die sich da wie eine Kette von Ost nach West inmitten der Ortschaften hinzogen, eine Faszination, es war die Heimat, in der und mit der man lebte. Ja, es gab dort oft so einen Geruch und Geschmack nach Rauch, er war würzig, man kannte ihn. Aber die Natur reichte an die Stadt heran; um die Stadt war viel unbebautes Feld, teils angebaut mit Roggen, Hafer, viel Kartoffeln, Kohl und Rüben, teils ganz leer, hart und steinig, holprig, die sogenannten Bruchfelder, die besonders stark von einer Grube unterbaut waren. Dann weiter im Süden begann der Wald, das waren die Ausläufer der großen Wälder des Fürstentums Pleß, die etwa dreißig Kilometer bis Pleß sich ausstreckten. Man konnte zum Nachmittagskaffee durch den Wald nach "Emanuelssegen", Murcki, laufen. Da war nicht nur eine Gartenwirtschaft, sondern auch eine große Kohlengrube, die eigentlich in einer sehr großen Lichtung im Wald lag. Weiter südlich lag dann in den Plesser Wäldern der Paprozaner See. Dort gab es nicht nur das Jagdschlößchen Promnitz. Da war auch einmal ein "Eisenhammer". Man konnte die Überreste noch sehen. Es wurde viel Holz und Holzkohle dafür gebraucht, aber jetzt war die Eisenverhüttung zu den Kohlenflözen gezogen, wo sie zu enormen Unternehmungen wurde, das oberschlesische Industrierevier. Es entstand aus alten Dorfgemeinden die Kette von Industrieortschaften. Vor allem an den Hauptverkehrsadern gingen sie ineinander über. Dazwischen waren größere und alte Städte wie Beuthen und die viel jüngere, erst im 19. Jahrhundert entstandene Stadt Kattowitz. Die Orte hatten eine oder mehrere Kohlengruben als wirtschaftliche Basis und einige hatten Eisenhütten und Stahlwerke oder Zinkerzgruben und ­hütten. Das war ein früher Eindruck meiner Kindheit. Wir lebten in Kattowitz, ein Teil der Familie in Beuthen, und wir besuchten sie dort oft. Das waren etwa eineinhalbstündige Wagenreisen, später nach 1918 nur noch halbstündige Autofahrten durch diesen Teil des Industriereviers, etwa fünfzehn Kilometer. Ich kannte bald die Namen der Orte, Gruben und Werke, an denen wir vorbeifuhren, alle mit Halden, besonders russig und rauchig. Meine ersten Kindheitserinnerungen an die Menschen in Oberschlesien zeigen kaum Spuren von den großen Konflikten späterer Jahre und wie man von Heute darauf zurückblickt. Ich war 1908 in Kattowitz geboren. Dazwischen liegen zwei Weltkriege, der Zerfall von drei Kaiserreichen, die so tragisch vergeblichen Existenzkämpfe der Weimarer Republik und des unabhängigen Polens und dann die Nazikatastrophe, die Deutschland, Europa und die ganze Welt, und noch so besonders unbeschreiblich uns Juden betroffen hat. Über den oberschlesischen Menschen ist oft geschrieben worden. Die Sprache hatte in breiten Schichten der deutschsprechenden Oberschlesier einen Akzent, der die Nachbarschaft mit den polnisch sprechenden Oberschlesiern durchscheinen ließ, und durchsetzt war mit manchen heimischen polnischen Kraftausdrücken. Es war eine recht hart klingende, aber eine gemütliche Sprache. Bei uns zu Hause, in der Schule und im Bekanntenkreis wurde Hochdeutsch gesprochen, die Kraftausdrücke und der Akzent waren verpönt, aber das oberschlesische Deutsch war doch um einen herum, man lebte damit. Auch das Polnisch hörte man. In der Stadt wurde ganz vorwiegend Deutsch gesprochen, aber polnisch hörte man als Kind zum Beispiel im Kontakt mit Bauern und Bäuerinnen der Umgebung, die man bei den täglichen Spaziergängen traf, oder wenn man auf den Markt mitging. Aber mir fehlte als Kind das Gefühl für eine starke Spannung zwischen deutsch und polnisch sprechenden Menschen in Oberschlesien, und ich glaube, nicht nur wegen meiner Kindheit, sondern auch, daß diese Spannung vor 1918 nicht so entwickelt war. Es ist richtig, Oberschlesien war bereits im Reichstag durch den polnischen Abgeordneten Korfanty vertreten, es gab polnische Vereine und Zeitungen, Wahlkämpfe, aber es gingen alle in den Krieg 1914. Wenn man über die Jahrhunderte zurückblickt, dann war Schlesien, und besonders Oberschlesien so stark und häufig ein Gebiet der Übergänge, mit wechselnden Siedlungseinflüssen und politischen Oberhoheiten. Die Bevölkerung, die die Umwelt meiner Kindheit war, trug noch die Zeichen davon. Es war auch ein Dialekt des Polnischen, bei uns Wasserpolnisch genannt, im heutigen Polen "gwara", der in Oberschlesien gesprochen wurde. Es hatte ja lange getrennt vom polnischen Hauptland und zeitweise unter böhmischen (tschechischen) und deutschen Einflüssen gelebt, die zu dieser Dialektbildung beigetragen hatten. Die Südostecke Oberschlesiens, wo Kattowitz lag, war so ganz besonders ein Grenzland. Wenn man an klaren Tagen nach Süden sah, oder gar südlich auf dem Wege nach Pleß fuhr, dann sah man die Gebirgskette der Beskiden, des nördlichen Teils der Karpaten, das war in Österreich. Es war das östereichische Schlesien, das der preußische König Friedrich der Große am Ende seiner Schlesischen Kriege der Kaiserin Maria Theresia noch belassen mußte. Wenn man auf einem größeren Ausflug nach Bielitz am Rande der Beskiden fuhr, dann ging man ins Kaffee Bauer, und das war, so wurde uns Kindern gesagt, wie ein richtiges Wiener Kaffeehaus, die Leute in der Stadt sprachen deutsch mit einem österreichischen Akzent. Sie waren in österreichische Schulen gegangen, bei uns in Kattowitz waren es preussische. Im Osten von Kattowitz aber war die russische Grenze. Nur etwa zehn Kilometer weg bei Myslowitz war die Dreikaiserecke, wo das deutsche, österreichische und russische Kaiserreich zusammenstießen. Für uns als Kinder war diese Idee natürlich faszinierend. Aber die russische Grenze lief noch näher bei Kattowitz vorbei, in wenigen Autominuten war man in Czeladz und Sosnowitz, wie es damals bei uns genannt wurde, aber es war natürlich die polnische Stadt Sosnowiec, die damals unter Herrschaft des russichen Zaren stand. Mein Großvater und Vater waren Bauunternehmer in Kattowitz. In Sosnowitz selbst hatten sich im l9. Jahrhundert mehrere sächsische Textilindustrielle niedergelassen. Mein Großvater und Vater hatten die Bauten ausgeführt, und waren mit der Familie Dietel befreundet. Ich erinnere mich an Besuche bei ihnen. Ihr Wagen mir Pferden wurde bei uns im Hof abgestellt, wenn jemand von der Familie nach Kattowitz zum Einkaufen kam. Dann sprachen wir mit dem Kutscher, der aus Rußland kam. Aber das sind Erinnerungen an das eher Fernere und Fremde aus der Welt meiner Kindheit und früheren Jugend. Es waren Dinge am Rande der Umwelt, denn die Umwelt war eben "Oberschlesien", so wie es sich in etwa 160 Jahren als ein Regierungsbezirk der preußischen Provinz Schlesien entwickelt hatte, und uns in unserer Jugend erschien. Man versteht Vieles besser, wenn man versucht, von dem Heute aus einen neuen, unbefangenen Blick auf die Geschichte zu werfen. Bereits für die vorgeschichtliche Zeit gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen deutschen und polnischen Historikern. Schriftliche Überlieferung beginnt spät, aber archäologische Forschung hat, verglichen mit meiner Schulzeit, das Bild der Frühgeschichte des östlichen Mitteleuropas sehr erweitert, bis weit vor der Völkerwanderung. Vor den Kelten und nachwandernden Germanen weiß man heute über die vorherige Bevölkerung und ihre Kulturen, sieht früheste Einflüsse über das Donaugebiet von Süden(1), mit eigenen Handwerkszentren und Metallverarbeitung in Schlesien. Nach polnischen Auffassungen (2) waren Träger dieser frühen Kulturen bereits indogermanische, nämlich slawische Stämme, so die bekannte Lausitzer Kultur, und die später erscheinenden Kelten und Germanen nur durchwandernde Völker, die vorübergehende Herrschaft über bestehende Urbevölkerung ausübten, ähnlich wie man es von Awaren oder Hunnen weiß. Andere bleiben bei früherer Auffassung, daß slawische Stämme erst den nach Westen weiterziehenden Germanen nachgerückt sind. Als frühe slawische Staatsbildung erscheint im 9. Jahrhundert n.Chr ein Großmährisches Reich, bald überholt vom Böhmischen Reich der Przemysliden Dynastie, das, durch Mission von benachbarten bayrischen Bistümern her zum römischen Christentum bekehrt, seinen Eintritt in die abendländische Welt findet und in diese auch Schlesien einbezieht, von wo 950 n.Chr. ein Missionar nach Posen geht. Dort hatte sich inzwischen der Kern eines polnischen Reiches unter dem Piasten Mieszko I. entwickelt. Unter dem Einfluß sowohl von Böhmen wie von Sachsen auch zum Katholizismus bekehrt, überragte es bald das ältere Böhmen und eroberte Schlesien, das für Jahrhunderte nun Gebiet wechselnder Einflüsse und oft erneuerten Streits zwischen Böhmen und Polen bleibt. Die polnischen Piasten teilten sich in verschiedene Linien, eine war in Schlesien, teilte sich weiter in mehrere schlesische Herzogtümer. Die kirchliche Oberhoheit blieb bei dem polnischen Bistum Gnesen und im südlichsten Oberschlesien bei Krakau, aber staatliche Oberhoheit wechselte und fiel schließlich durch Vertrag 1335 an die böhmische Krone, damals, nach Aussterben der tschechischen Przemysliden, in der Hand der Luxemburger, die auch mehrere deutsche Kaiser stellten. Die Mongoleneinfälle des 13. Jahrhunderts waren in Schlesien zum Benefit für ganz Europa gemeinsam von schlesischen, polnischen und deutschen Kräften aufgehalten worden, aber große Verwüstungen blieben. Vielleicht waren diese Anlaß für verstärkte Siedlung von Deutschland her, auf Einladung schlesischer Piasten und von Klöstern, bestehend aus bäuerlicher und städtischer Siedlung, beide unter aus deutschen Gebieten mitgebrachten Rechtsordnungen, von denen dann auch über Schlesien hinaus in polnischen Gebieten Gebrauch gemacht wurde. Die Welle deutscher Siedlung dauerte bis ins 14. Jahrhundert, hinterließ unterschiedliche Spuren in der Bevölkerung, das Bild verändert sich im Laufe der Jahre wieder, mancherorts sieht man fortschreitende Assimilation von Siedlern an die polnisch sprechende Umgebung. Deutsche Siedlung, ebenso wie zunehmende Verschwägerung schlesischer Piastenherzöge mit deutschen Fürstenfamilien könnten mit ein Antrieb gewesen sein für die Entscheidung schlesischer Piasten für böhmische statt polnischer Oberhoheit. Man muß aber wohl vorsichtig sein bei der Interpretation mittelalterlicher dynastischer Entscheidungen. Schlesien blieb nun bei der böhmischen Krone für 400 Jahre, hatte aber durchaus nicht so langen Frieden, es wurde in deren Konflikte einbezogen, so die Hussitenkriege mit tschechischen, ungarischen und dann polnisch­jagiellonischen Interregnen zwischen Luxemburgern und schliesslich den Habsburger Herrschern, die alles 1526 ererbten. Die Reformation drang früh in Schlesien ein. Die Struktur der Herrschaft hatte sich geändert. Die schlesischen Piastenherzogtümer fielen bei Aussterben der Linien als Standesherrschaften an auswärtige Fürsten, darunter auch Hohen­ zollern, oder wurden durch Prag an Neuankömmlinge vergeben. Die schlesischen "Stände" wurden somit eine immer komplexere Versammlung. Die adligen Stände Böhmens und Mährens hatten während der Wirren um die böhmische Krone sehr an Macht gewonnen. Das trug dazu bei, daß die Reformation in Böhmen und Mähren besonders große Fortschritte machte; auch in Schlesien breitete sie sich aus unter Einflüssen aus verschiedenen Richtungen. In Polen machte die Reformation zunächst auch Eindruck und findet Anhänger auch unter polnischen Adligen und Gemeinden in Oberschlesien. Es war nicht so, daß mit dem Übergang der Hoheit an Böhmen der wirtschaftliche und kulturelle Kontakt mit den angrenzenden polnischen Gebieten aufgehört hätte. Es bestand weiter die kirchliche Verflechtung der meisten oberschlesischen Dekanate mit dem Bistum Krakau. Auch zum Universitätstudium gehen Oberschlesier nach Krakau, aber man liest auch von einem polnischen protestantischen Geistlichen im zur Standesherrschaft Pless gehörigen Dorf Woschczytz, der zum Studium nach Wittenberg gegangen war (4). Die Erwähnung von Woschczytz interessierte mich, weil sich dann dort später die ersten Spuren unserer Familie Grünfeld in Oberschlesien finden. Die Gegenreformation, mit äußerster Strenge von den Habsburger Kaisern in Schlesien durchgeführt, reduzierte hier den Protestantismus bald, aber in Böhmen blieben die Beziehungen der Stände mit dem habsburgischen Kaiser so gespannt, daß von dort der dreißigjährige Krieg ausbrach, der das benachbarte Schlesien furchtbar in Mitleidenschaft ziehen sollte. Wallensteins und Mansfelds Heere zogen durch und kampierten, es dauerte lange, bis der Rückschlag im Wohlstand Schlesiens überwunden war. Eine notwendige Anmerkung Nach dem Rückblick auf geschichtliche Entwicklungen in Oberschlesien, der uns schon auf das engere Gebiet gebracht hat, in dem ich meine Familie dann im frühen l9. Jahrhundert anfinde, ist es Zeit, sich zu erinnern, daß dies eine jüdische Familie war, und das Schicksal der Juden in Oberschlesien, wie in Europa überhaupt, noch eine besondere Betrachtung erfordert. Einer mündlichen Tradition nach soll unsere Familie aus Mähren nach Oberschlesien gekommen sein und ursprünglich aus Iglau stammen. Wenn ich mir vorzustellen versuche, wie es meinen jüdischen Vorfahren in der Zeit ergangen sein könnte, von der wir gesprochen haben, denke ich vorerst an die Geschichte der Juden in Mähren. Früheste beurkundete Besuche von Juden als "beglaubigte Kaufleute" in Mähren gibt es von 903 AD., aber Beginn ihrer Ansiedlung wird erst für das 12. Jahrhundert angenommen (5). Man bemerkt sie als städtische Siedlung, wie in den deutschen Städten Speyer und Worms gibt es Rechtsschutz für Juden als Minderheit. In Prag wird er in einem Statut von ca. 1174 gemeinsam für deutsche, flämische und jüdische Kaufleute geregelt, und in Mähren zuerst im Stadtrecht von Iglau, einer schnell gewachsenen Stadt, die bald eine der größten jüdischen Gemeinden Mährens hatte, aber 1426 wurden die Juden aus der Stadt vertrieben, weil sie die Hussiten unterstützt hätten. Bald folgte Vertreibung aus den anderen selbstständigen Städten, wegen des mehr gebräuchlichen Vorwurfs des Wuchers. Gewiß hatte sich auch schon in Iglau wirtschaftlicher Neid der Städter mit religiösem Eifer neuer Herrscher gepaart. Die mährischen Juden fanden Refugium in kleineren, adligen Grundherren untertänigen Städten, konnten dort und auch den angrenzenden Dörfern, die oft demselben Adligen gehörten, Handel treiben (6). Sie konnten auch an den regelmässigen Märkten in den grösseren Städten, aus denen sie vertrieben waren, teilnehmen gegen Zahlung von Besuchergebühren. Die schon erwähnte unabhängige Eigenwilligkeit des Adels in Mähren zeigte sich nicht nur im starken Anteil von Protestanten, sondern auch im zähen Widerstand gegen Beschränkung ihrer Möglichkeiten, von wirtschaftlicher Tätigkeit von Juden Gebrauch zu machen. Juden betrieben nicht nur Handel, sie wurden Pächter oder Verleger für neue gewerbliche Betriebe adliger Güter, wie Gerbereien oder Branntweinbrennereien (7). Der Refugiumcharakter Mährens dehnte sich auch auf die Mähren benachbarten Gebiete der einstigen oberschlesischen Herzogtümer Ratibor und Oppeln aus (8). Mähren wurde auch Refugium für andere Juden, so bei Judenvertreibungen aus Wien, während der Wirren des dreissigjährigen Krieges und auch der blutigen Verfolgungen im östlichen Polen (Ukraine) 1648. In Schlesien hatte sich die vom gegenreformatorischen Eifer gegen alles "Akatholische" inspirierte und mit der wirtschaftlichen Gegnerschaft der Städte gegen die Juden gepaarte antijüdische Politik der Habsburger Kaiser bis ins 17. Jahrhundert soweit durchgesetzt, dass es Juden mit Aufenthaltsrechten nur noch in den beiden Städten Glogau und Zülz gab, aber sich im südlichen Oberschlesien eine kleine jüdische Bevölkerung auf dem Land erhalten konnte. Wirtschaftliche Bedürfnisse aber sprachen für Aufrechterhaltung jüdischer Teilnahme, vor allem aus Polen, an den städtischen Märkten, und es kam zu kleinen Ansiedlungen (9). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts versuchte Maria Theresia wie schon ihr Vater, die Beschränkungen gegen jüdische Residenz auch in Böhmen und Mähren wieder zu verstärken, und 1744 verfügte sie die Ausweisung aller Juden aus ihrem "Erbkönigreich Böheimb" wegen vermeintlicher preußenfreundlicher Haltung der Juden während des Schlesischen Kriegs (10). Das betraf auch Mähren. Die Fristen wurden örtlich verschieden verlängert. Es scheint also, daß Zuwanderung von mährischen Juden in das nahe, unterdeß zu Preussen gehörige südliche Oberschlesien gerade für diese Zeit gut erklärlich ist. Kapitel 2 Die Familie in Kattowitz Diese führt uns zu den Anfängen jüdischer Emanzipation, etwas vom Leben in einer der oberschlesischen, kleineren Städte wie Sohrau, dann der Entwicklung im oberschlesischen Industriegebiet und der Entstehung der Stadt Kattowitz. Die deutsch­polnische Problematik stellt sich vornehmlich in den durch die Teilungen Polens an Preußen gefallenen Provinzen Posen und Westpreußen, aber spielt auch eine Rolle im stark polnisch­sprechenden Oberschlesien. Wir denken an kulturelle und kommunale Entwicklung in der jungen Stadt Kattowitz, in der ich dann 1908 geboren wurde. Meinen Urgroßvater Hirschel Grünfeld findet man in der Liste der durch die Hardenberg'schen Reformen 1812 zu preußischen Staatsbürgern werdenden schlesischen Juden (1). 1817 zieht er mit seiner Frau und drei ihrer Kinder von Woschczytz nach der Stadt Sohrau. Nach dem Tod seiner Frau 1818 (3) heiratet er 1820 Lewine (später Louise) Huldschinsky (4). Diese neue Familie Grünfeld hat dann drei Söhne und fünf Töchter bis Hirschel Grünfeld 1840 in Sohrau stirbt. Ich habe kaum Anhaltspunkte, mir ein Bild von ihm zu machen, höchstens von der Umgebung, in der er gelebt hat. Das Dorf Woschczytz, schon von mir erwähnt, ist 1836 ausgewiesen mit einer Wasser­ und Sägemühle und einem Frischfeuer, 57 Häusern und 352 Einwohnern (5). Im Verlauf der wieder zunehmenden Ansiedlung von Juden in Oberschlesien wird es für 1693 erwähnt (6), aber bereits für 1678 erscheint ein jüdischer Messegast in Leipzig aus Woschczytz(7). Die Nähe der Stadt Sohrau hat vermutlich auch jüdische Kaufleute nach dem benachbarten Woschczytz gezogen, da Ansiedlung für sie in Sohrau begrenzt war. Wirtschaftlich wurde Sohrau stark durch seine Woll­ und später Leinwandweberei, und dazu kam schon im 16. Jahrhundert ein bedeutendes Schuhmachergewerbe(8), mit zeitweise 32 Meistern. Hirschel Grünfelds Beruf "Lederhandel" kann damit zu tun gehabt haben. Über Umfang und Erfolg seines Geschäfts haben sich in der Familie keine Informationen erhalten. Er starb mit etwa 60 Jahren, seine Frau war wesentlich jünger, das jüngste der acht Kinder wurde erst im selben Jahr geboren. Eine Schwester der Frau hatte den Gastwirt Hirschel Loebinger in Sohrau geheiratet. Mein Vater hat oft betont, daß die Familien eng zusammenlebten, auch daß die Familie Loebinger ebenso wie die Grünfelds von Mähren nach Oberschlesien gekommen waren. Die beiden älteren Söhne Hirschel Grünfelds verließen Sohrau bald nach seinem Tode, also noch sehr jung, nämlich Abraham, geboren 1823 und Isaak, später Ignatz genannt, geboren 1826, mein Großvater. Er wird später ein Maurerlehrling und hat dann verschiedene Stellungen als Geselle und Polier, bis er sich 1855 in der Dorf­ und Industriegemeinde Kattowitz als Meister niederläßt. Einen Abraham Grünfeld aber finden wir in Sohrau wieder, meist als Lehrer bezeichnet, manchmal als Kaufmann. Auch meine Urgroßmutter hat noch bis um 1870 in Sohrau gelebt, es blieb auch für meinen Vater eine Art Begriff eines Herkunftsorts der Familie, ich konnte mir auch heute nachträglich ein gewisses Bild vom Leben dort machen, denn es gibt eine sehr ausführliche Stadtgeschichte (9). Meine Heimatstadt Kattowitz gab es ja noch gar nicht als Stadt in der 1.Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber Sohrau war eine alte Stadt mit althergebrachtem bürgerlichem und Zunftleben, überwiegend katholisch geblieben. Ich fand es interessant zu sehen, wie zur Zeit meiner Urgroßeltern das Leben sich da veränderte, mit zunehmender Gewerbefreiheit, und was man über die Emanzipation der Juden und ihre Probleme dabei sehen kann. Juden waren mit dem Wirtschaftsleben von Sohrau wohl lange verbunden. Schon für 1511 werden "Judenacker" neben der Stadt erwähnt (10). Die Städte ließen Juden zu ihren Märkten zu, auch wenn sie sich lange Zeit nicht ansiedeln durften. Erst für das 18. Jahrhundert hören wir dann von jüdischen Einwohnern. 1791 leben aber an Juden erst 34 Personen in der Stadt, 103 in den "Vorstädten". 1856 waren es dann schon 471, nach der Emanzipation hatte Sohrau starken Zuzug jüdischer Familien vor allem aus den Dörfern der Kreise Rybnik und Pless erhalten. Anfang des 19. Jahrhunderts wird eine Synagoge gebaut, ein Friedhof eingerichtet, ein Rabbiner engagiert, und es gab jüdische Lehrer. Die Schulung der Kinder ist gerade auch nach der Emanzipation ein gewisses Problem in kleinen Gemeinden. Unter den schlesischen Landjuden, wo ja oft nur wenige, oft nur einzelne jüdische Familien in einem Dorf lebten, gab es die Einrichtung der Hauslehrer, und Privatlehrer gab es dann auch zunächst in Sohrau. Die öffentlichen beaufsichtigten Schulen, die eingerichtet wurden, waren konfessionell, auch der jüdischen Gemeinde oblag nach Emanzipation, für die vorschriftsmäßige Schulung ihrer Kinder zu sorgen. Für kleinere Gemeinden war es finanziell nicht einfach, den neuen behördlichen Verpflichtungen für die Erziehung ihrer Kinder nachzukommen. Ein System, junge jüdische Leute als Hauslehrer aufzunehmen, hatte wohl gutsituierten Landjuden geholfen. Um der Schulpflicht nach der Emanzipation zu genügen, wurden aber an dazu befugte Lehrer ganz andere Anforderungen gestellt, und die jüdische Gemeinde hatte einen dauernden Kampf, für die von ihr angestellten Lehrer behördliche Genehmigung zu bekommen. Viele konnten die nachträglich abzulegenden Examen nicht bestehen. So gab es einen häufigen Wechsel. Zeitweise konnte die Gemeinde eine jüdische Volksschule oder sogar einige Klassen einer fortgeschrittenen Schule unterhalten. Wenn in katholischen Volksschulen Platz war, konnten jüdische Kinder auch aufgenommen werden, schon in den 1820er Jahren scheinen manche jüdischen Familien das sogar bevorzugt und sich für die Aufrechterhaltung jüdischer Schulen gar nicht mehr so interessiert zu haben. Aber noch 1858 muß eine jüdische Schule wieder errichtet werden, da in der katholischen kein Platz ist. Dazwischen gab es auch einen christlichen Privatlehrer, der eine Schule für die protestantischen und jüdischen Kinder unterhielt. Wenn Kinder in nichtjüdische Schulen gingen, mußte die Gemeinde für ihren Religionsunterricht durch einen hinreichend qualifizierten Lehrer sorgen. Als solcher wird fortlaufend A. Grünfeld erwähnt (11), auch noch für 1858. Als Religionslehrer tätig, blieb er also wohl der jüdischen Tradition verhaftet. In der jüdischen Bevölkerung sehen wir das bekannte Bild fortschreitender Emanzipation und Assimilation. Schon in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts finden wir zwei in der Stadt allgemein angesehene jüdische Ärzte (Wachsmann und Karfunkel), mehrere Fabrikbesitzer, aus der Mühlenbesitzer Familie Stern kommt der spätere Nobelpreisträger für Physik Otto Stern (1943 geboren in Sohrau). Auch in den Gremien der Stadtverwaltung finden wir früh jüdische Namen, und ebenso in verschiedenen städtischen Vereinen, z.B. Frauenverein und Freiwillige Feuerwehr. Im 18. Jahrhundert gab es noch die alten Strukturen in der Stadt Sohrau. Industrie ist ein handwerkliches Gewerbe, und die Zünfte kennzeichnen die Organisation des städtischen Lebens. Im 19. Jahrhundert ändert sich das Bild. Auch unter den in die Stadt ziehenden oder dort aufwachsenden Juden gibt es manche Handwerker, recht spezifisch für Oberschlesien. Über den beruflichen Werdegang meines Großvaters Ignatz Grünfeld bis er sich 1855 in Kattowitz niederließ, haben sich einige seiner Zeugnisse erhalten. Nur mündlicher Überlieferung nach war er zunächst als Lehrling bei dem ebenfalls jüdischen Maurermeister Lubowski in Gleiwitz angestellt. 1847 ist er bereits Maurergeselle und arbeitet bei Maurermeister Petzholtz in Potsdam beim Kuppelbau der dortigen Nikolaikirche, danach weiter als Maurergeselle in Stettin (Münch) und Breslau (Hoseus), von 1850 als Maurerpolier in Gleiwitz (Wachter und Lubowski). Als Meisterbau wird im Zeugnis vom 16. September 1857 ein Wohnhaus für Simon Goldstein in Kattowitz genannt, das später durch das Café Otto bekannt wurde, und heute noch mit Kawarnia Krysztalowa an der Hauptstraße in Katowice steht. Seine Umwelt und Erfahrungen waren deutlich verschieden von denen des Lehrers A. Grünfeld in Sohrau. Mit einigem Stolz wurde noch uns Enkeln erzählt, daß er in Potsdam an der Kuppel der Nikolaikirche gearbeitet hatte. Die "Wanderschaft" auch außerhalb Oberschlesiens hatte sicher dazu beigetragen, seinen Blick zu erweitern für die erfolgreiche Unternehmerschaft seiner späteren Jahre. Aber das Kattowitz, in dem er sich 1855 niederließ, war zunächst noch ein Dorf (13). Der benachbarte Bogutzker Hammer war seit 1756 nicht mehr in Betrieb. Diese Form der Eisengewinnung war gegenüber neueren Entwicklungen nicht mehr konkurrenzfähig, sowohl wirtschaftlich wie in Qualität des Produkts, auch war die Beschaffung von Holz und Erz schwieriger geworden. 1799 wurde das Rittergut an Kommissionsrat Koulhaass verkauft, von dem es seine Tochter Frau Wedding erbte, und das sind schon Namen, die mit der rapiden Entwicklung des Berg­ und Hüttenwesens in Oberschlesien eng verbunden sind. Nachdem die aus England kommende sensationelle erste Dampfmaschine (sogar Goethe kam, sie zu besichtigen) auf einer Grube bei Tarnowitz 1788 und der erste Kokshochofen in Preußen 1792/96 errichtet worden waren, kamen diese Entwicklungen noch näher an Kattowitz durch den Bau der gleichfalls staatlichen Königshütte (1798/1802), deren Direktor (bis 1818) Hütteninspektor Wedding es unternahm, den Bogutzker Hammer durch Bau eines Hochofens zu modernisieren. Die Herrschaft erwarb 1839 Franz Winkler, Absolvent der Tarnowitzer Bergschule, nach einer schon erfolgreichen Karriere reich verheiratet. Er entwickelte entscheidende Initiative für den wirtschaftlichen Fortschritt von Kattowitz und wurde 1840 geadelt. Für die Kontinuität der Verwaltung und des Beitrags zur Entwicklung von Kattowitz sorgte Winklers Studienfreund und Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Grundmann, der später zusammen mit seinem in Kattowitz als Arzt niedergelassenen Schwiegersohn Dr. Holtze als Gründer der Stadt Kattowitz, das heißt, die Vorkämpfer für die Stadtwerdung des Dorfes 1865 angesehen werden. Mein Großvater war also seit 1855 dort ansässig, und heiratete die 1837 im benachbarten Dorf Zalenze geborene Johanna Sachs, Tochter des Arendators der Gutsherrschaft Zalenze, Peretz Sachs (14). Die industrielle Entwicklung hatte sich durchaus nicht auf den Gutsbezirk Bogutzker Hammer mit Dorf Kattowitz beschränkt. Nach der Königshütte war in Welnowiec 1809 die Hohenlohehütte mit Kokshochofen, dann an der Grenze zwischen Kattowitz, Zalenze und Domb 1828 die von dem Engländer John Baildon (15) erbaute Baildonhütte für Stahlerzeugung in Betrieb gekommen und in Zalenze auch 1840 die Kohlengrube Kleofas von Giesche. Das Restaurant, das zur Arende meines Urgroßvaters Peretz Sachs gehörte, konnte sich also auf ein wachsendes Publikum stützen. Jakob Grünfeld aus Sohrau, der jüngere Bruder meines Großvaters, heiratete eine andere Tochter, Maria, des Peretz Sachs, und übernahm später das Restaurant. Es wurde als "Grünfeld's Garten" für viele Jahrzehnte sehr bekannt. Die Großmutter ging in den 1840er Jahren in Zalenze in die katholische Dorfschule. Ich habe versucht, mir im Zusammenhang mit dieser Familienüberlieferung ein Bild von damaligen Schulverhältnissen zu machen. Dabei stößt man gleich auf die Sprachenfrage zwischen preußischer Verwaltung und stark polnisch sprechender Bevölkerung. Ich habe keine Daten für Zalenze gefunden, aber im benachbarten Dorf Kattowitz war 1827 eine zunächst einklassige Schule eröffnet worden, und zwar zweisprachig (16). Die Kinder von Kattowitz gingen vorher zur Schule in Bogutschütz, die schon für 1804 erwähnt wird (17). Die preußische Politik gegenüber der großen polnischen Bevölkerung, in den durch die Teilungen Polens zugefallenen Gebieten unterlag im 19. Jahrhundert mehrfachen Stimmungs­ und Zielwechseln. Unter dem Einfluß der Stein­Hardenberg'schen Reformideen, besonders verkörpert durch den Schulminister Altenstein, war die Einstellung konziliant gewesen (18). Er begünstigte den Aufbau eines polnischen Schulwesens, vornehmlich in Posen, das ja ein Kernland des Königreichs Polen gewesen war. Der polnische Aufstand in Russisch­Polen 1830/31 führte zu einem völligen Umschwung gegenüber den Polen auch in Preußen, der aber in den 1840er Jahren wieder einer liberaleren Haltung Platz machte. Die polnische Sache war ja zu einem Lieblingsthema der liberalen Freiheitskämpfer in Europa geworden, und der neue preußische König Friedrich Wilhelm IV. entzog sich diesen Stimmungen nicht (19). Die polnische Bevölkerung Oberschlesiens wird schon damals in diesen innerpreußischen Argumenten erwähnt (20). Im März 1848 gehörte es jedenfalls auch zu den Ideen in der Paulskirche, daß mit der ersehnten deutschen Einigung auch die Teilung Polens rückgängig gemacht werden sollte, in die sich Preußen seinerzeit verwickelt hatte. Aber es kam ja 1848 nicht zu dieser deutschen Einigung. In Preußen verstärkten sich danach die antiliberalen Tendenzen wieder, und als es 1871 zur deutschen Einigung unter preußischer Führung kam, gab das neue deutsche Nationalbewußtsein der preußischen antipolnischen Politik sogar eine ganz neue Note. Es war nun nicht mehr nur die Loyalität der polnischen Einwohner gegenüber der preußischen Monarchie gefordert, sondern das Ziel mußte ihre vollkommene Germanisierung sein. So verschärfte sich zur Zeit Bismarck's die ganze Preußische Nationalitäten­ und Schulpolitik so rigoros wie sie dann später in Erinnerung geblieben ist. Es war überdies auch die Zeit des "Kulturkampfes", dem sich die deutsche katholische Zentrumspartei ausgesetzt fand. Aus der offiziellen Politik verschwand der Sinn für Berechtigung des Schutzes der gesamtpreußisch gesehen nationalen und sprachlichen polnischen Minderheit, und aller staatlicher Schutz wurde dem wachsenden deutschen Bevölkerungsanteil in den fraglichen Provinzen gegeben. Ein interessanter Gedanke von M.Broszat dazu ist (21), daß die Erwartung von Loyalität seitens der Minderheit für die staatliche Oberhoheit eigentlich strikter Neutralität des Staates auch dort bedurft hätte, wo es um die örtlichen Belange der deutschen Bevölkerung ging. Aber die verblassende Staatsideen von Imperium und Krone waren eben von der Omnipräsenz nationalstaatlichen Denkens verdrängt worden, und das schien keinen Raum zu lassen für Vorstellungen von pluralistischen Ordnungen auch für das Zusammenleben von verschiedenen Nationalitäten. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts scheinen daran wenig geändert zu haben, obwohl die Verwirklichung von Hoffnungen auf eine europäische Einigung davon abzuhängen scheint. Auf diesen Gedankenflug sind wir gekommen von der Vermutung, daß die Dorfschule meiner Großmutter möglicherweise damals noch zweisprachig war. Ich weiß auch, daß beide Großeltern das oberschlesische Polnisch sprechen konnten; mein Vater erzählte, daß sie es benutzten, wenn ihre rein deutschsprachig aufwachsenden Kinder etwas nicht verstehen sollten. Das Dorf Kattowitz war in der 1.Hälfte des 19. Jahrhunderts erstaunlich gewachsen (22). 1846 wurde es eine wichtige Station der neuen Eisenbahn Breslau­Myslowitz als ein Umschlagplatz für Zweigverbindungen zu einem großen Umkreis von vielen Gruben und Werken mit ihren zugehörigen Ortschaften. Schließlich war Kattowitz so gewachsen, daß es 1865 zu einer Stadt gemacht wurde. Dies geschah aber erst nach scharfen Auseinandersetzungen zwischen den alteingesessenen Dorfbewohnern und den Neuankömmlingen. Unter der Dorfverfassung herrschte die "Gromada", die Versammlung der Grundbesitzer, also der alteingesessenen Bauern, d.h. Gärtnerstellenbesitzer und denjenigen unter den Neuzugezogenen, die unterdessen Hausbesitz hatten erwerben können. Ursprünglich kamen auch alle Gemeindesteuern nur von diesen Einwohnern, aber 1856 änderten sich die Steuergesetze, alle Einwohner zahlten Gemeindesteuern, aber die Dorfverfassung wurde nicht geändert, und die immer noch von den polnisch sprechenden Bauern beherrschte Gromada konnte allein über die Verwendung der Einnahmen entscheiden. Unter einer städtischen Verfassung wäre das anders gewesen. Für ein Stadtparlament gab es das allgemeine Wahlrecht nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht mit Stimmen zugunsten der höheren Einkommen gewogen. Der Streit mit der Gromada kam, weil es unter den Neuankömmlingen viele Anspruchsvollere und Besserverdienende gab mit eigenen Ideen allein schon über Straßenpflasterung und Beleuchtung etc. Für die eingesessenen Bauern hätte es schon eine naheliegende Idee sein können, daß der Ort mit den Gegebenheiten und Anforderungen der großen industriellen Entwicklung zum eigenen Nutzen Schritt halten sollte. War nun bäuerlicher Widerstand dagegen und gegen Erwerb der Stadtrechte eine ganz übliche Situation und aus dem Gegensatz der sachbezogenen Interessen beider Seiten gut verständlich, oder war es eine besondere Situation durch die nationalen Gegensätze in Oberschlesien? Vom heutigen Blickpunkt des späten 20. Jahrhunderts könnte man auch sagen, diese Bauern waren anscheinend ganz frühe Umweltschützer, die ihre Dorfwelt nicht von der sich breitmachenden Industrie verdrängt sehen wollten. Aber wie so oft, die deutschpolnische Spannung wird hier, sowohl von Zeitgenossen, wie in späteren Rückblicken, von beiden Seiten als der Hauptgrund angeführt. Schon Dr. Holtze berichtet in seiner Stadtgeschichte von 1871, daß die polnischen Bauern alle Forderungen der, wie sie sagten, "Deutschen und Juden" mit einem "nie chca" ablehnten, und der Gymnasialdirektor G.Hoffmann kommentiert in seiner Stadtgeschichte von 1895 dazu: "Es war eben der Widerstand des polnisch­bäuerlichen Elements gegen den von deutscher und jüdischer Seite vertretenen Fortschritt" (23). Heutige polnische Stimmen aus Katowice erinnern an den Widerstand der Bauern gegen die Germanisierungstendenzen der Neuankömmlinge, denen allein die Verleihung der Stadtrechte dienen sollte, und an den letzten polnischen Dofschulzen Kazimierz Skiba, der bis 1859 20 Jahre im Amt gewesen war, für polnische Sprache und Schule gekämpft und eine große polnische Bibliothek für sich gesammelt habe (24). Also wird seiner jetzt als Seele des damaligen nicht nur bäuerlichen, sondern nationalen polnischen Widerstands gegen die Stadtwerdung gedacht. Inzwischen ist das kleine Dorf aber nicht nur zur Hauptstadt Oberschlesiens, sondern auch zu einer der bedeutendsten Städte des heutigen Polen mit etwa 500.000 Einwohnern angewachsen. Deutsche und Juden werden dabei zwar separat identifiziert, aber sitzen auf derselben Bank als Gegner der ursprünglichen Dorfbewohner. Obwohl Juden schon 1702 und 1737 erwähnt sind, wird als erster jüdischer Ansiedler im Dorf Kattowitz Hirschel Fröhlich erwähnt (25), der 1825 die Arrende pachtete. Seinen Sohn Heimann Fröhlich finden wir prominent in den Berichten über den Streit zwischen Bauern und Zuzüglern, der sich von 1859 bis zur Stadtwerdung 1865 hinzog. Als mein Großvater 1855 nach Kattowitz zog, lebten dort unterdessen 105 jüdische Personen, 1865 waren es 573 unter 4815 Einwohnern, also 11. 9%, ihr Anteil an den Gemeindesteuern aber betrug 36.7% (26). Durch die Industrialisierung und als Folge der jüdischen Emanzipation zogen die sich stärker entwickelnden Industriestädte viele Juden aus kleineren oberschlesischen Städten und Dörfern an. Kattowitz, die sich so rasch entwickelnde Industriegemeinde, bis dahin ohne größeren eingesessenen Bürgerstand bot ihnen besonders guten Raum für Tatkraft und Profilierung. Der Geist der Emanzipation, wie überall in Europa, mit der Anziehung an Leben und Kultur der Umwelt aktiv teilzunehmen und sich in sie mehr zu integrieren, führte im damaligen Oberschlesien zu jüdischer Hinneigung und zunehmender Identifizierung mit dem deutschen Element. Das war ja vielerorts so im östlichen Mitteleuropa; für Kattowitz ist mir aufgefallen, daß dieses Zusammenleben damit auch angefangen hatte, daß sie zusammen auf einer Bank gesessen und den Kampf um die Stadtwerdung geführt hatten. Ein Argument für das preußische Dreiklassenwahlrecht für Stadtparlamente war, daß die beruflich und wirtschaftlich Erfolgreichsten auch zur Leitung der Geschicke einer Stadt beigezogen werden sollten. In vielen Teilen Preußens führte dies zu einem verhältnismäßig hohen Anteil von Juden in Stadtparlamenten. Sie müssen sich auch unter ihren Kollegen recht oft ausgezeichnet haben, denn oft wurde ein Jude zum Stadtverordnetenvorsteher gewählt. Das war nicht nur so in Oberschlesien, wir finden es auch in Breslau und Berlin. Im jungen Kattowitz war ihr Anteil in der Bevölkerung und in städtischen Organen noch höher als in anderen oberschlesischen Städten und wuchs noch nach der ersten Wahl von 1866 (27), bei der unter den ersten 18 gewählten Stadtverordneten sieben Juden waren (28), darunter auch Ignatz Grünfeld, der bis zu seinem Tod 1894 Stadtverordneter blieb. Der Bruder meiner Großmutter, Elias Sachs, wurde noch aktiver in der Stadtverwaltung. Nach einer frühen meteorischen Karriere, er fing an mit dem Sammeln von Pferdekutteln als Brennstoff und Bindemittel für die Hüttenindustrie, dehnte das auf bedeutenden Kohlenhandel aus, gründete das erste Bankgeschäft in Kattowitz und beteiligte sich mit zwei anderen Kattowitzer Stadtverordneten, Rosse und Hammer, an der Gründung der Kattowitzer AG für Eisenhüttenbetrieb in Hajduck (28), in deren Aufsichtsrat er bis zu seinem Tod in Berlin 1908 aktiv blieb. Er war seit 1872 Stadtrat in Kattowitz und wurde 1892 vor seinem Wegzug nach Breslau zum Stadtältesten ernannt. Das von meinem Großvater Ignatz Grünfeld gegründete Baugeschäft war auch sehr erfolgreich. Es wurde unter seinem Namen noch bis in die 1930er Jahre fortgeführt (29). In dem steten Wachstum der Stadt Kattowitz hatte es noch zwei neue Entwicklungen gegeben, die ihre zunehmende Bedeutung innerhalb des oberschlesischen Industriebezirks kennzeichnen. 1882 wurde der Sitz des Oberschlesischen Berg­ und Hüttenmännischen Vereins, der Zentralorganisation der oberschlesischen Schwerindustrie von Beuthen nach Kattowitz verlegt, und 1895 wurde Kattowitz zum Sitz der neuzubildenden eigenen Eisenbahndirektion für den oberschlesischen Industriebezirk bestimmt. Dem gingen längere Verhandlungen mit der Stadtverwaltung voran, die Schaffung des notwendigen Wohnraums für die neuen Beamten garantieren mußte. Hierbei soll mein Großvater noch auf Seiten der Stadtverwaltung eine aktive Rolle gespielt haben. Von den sechs Söhnen des Ignatz Grünfeld wählten zwei auch das Baufach. Der zweitälteste, Max, studierte Architektur und blieb im Regierungsdienst, kehrte dann als Regierungsbaumeister a.D. nach Kattowitz zurück. Der drittälteste, mein Vater Hugo Grünfeld, besuchte die Baugewerkschule und trat dann mit dem Titel Baumeister noch sehr jung in das Baugeschäft seines Vaters ein. Nach dem Tod meines Großvaters 1894 führten diese beiden Brüder sein Baugeschäft weiter und wurden auch in Ämter in der Stadtverwaltung gewählt. Max war einige Jahre als Stadtbaurat Mitglied des Magistrats, mein Vater wurde Stadtverordneter (30). Wie weit die Parteipolitik Deutschlands schon im 19. Jahrhundert zu Zeiten meines Großvaters eine Rolle bei Stadtparlamentswahlen in Kattowitz gespielt hat, konnte ich nicht mehr feststellen. Die liberalen bürgerlichen Kreise in Deutschland hatten sich nach 1848 in verschiedene Richtungen entwickelt: die Nationalliberalen wurden ganz systemtreu auf Seiten Bismarcks, die Freisinnige Volkspartei stand, mehr fortschrittlich, links davon, also blieben die eigentlichen Vorkämpfer der 1848er Ideale. Rechts von den Nationalliberalen gab es dann noch die Konservativen und Alldeutschen als radikale Nationalisten. Die führenden Leute der oberschlesischen Schwerindustrie gehörten zum mehr rechtsgerichteten Lager der Nationalliberalen, wenn nicht noch weiter rechts, und die große gut etablierte Tageszeitung "Kattowitzer Zeitung" stimmte mit dem vorherrschenden Trend von Industrie und Beamtentum überein. Das freisinnige Bürgertum hatte ja in der Stadtverwaltung von Kattowitz eine starke Stellung, ebenso wie in Breslau und Berlin, aber dort gab es auch freisinnige Zeitungen (die "Breslauer Zeitung" und mehrere sehr bekannte in Berlin). Bei den beiden Brüdern Grünfeld war das politische Engagement zu Beginn des Jahrhunderts jedenfalls schon sehr ausgesprochen. Sie unternahmen einen Versuch, im "0berschlesischen Tageblatt" eine den Gedanken der Freisinnigen Partei ergebene Zeitung aufzubauen. Als Redakteur war Balder Olden, Bruder des später bekannter gewordenen Schriftstellers und Journalisten Rudolf Olden, engagiert worden. Die Zeitung konnte sich aber nicht halten, und mußte mit 300.000 Mark Verlust aufgegeben werden, wie mir mein Vater erzählt hat. Das großväterliche Baugeschäft hatte sich aber weiter gut entwickelt. Ein neuer Zweig, Lieblingsprojekt meines Vaters, war eine große Ziegelei, die 1895 im Gebiet des früheren "Vorwerks" von Kattowitz, Karbowa, ausgestattet mit den letzten technischen Neuerungen gebaut wurde, auch für Spezialprodukte wie glasierte Ziegel und andere Ziersteine, die man noch heute an manchen Fassaden in Katowice sehen kann. Daneben wurde auch eine Bautischlerei und Schmiedewerkstatt eröffnet. Mein Onkel Max Grünfeld aber zog dann schon früh nach Berlin und eröffnete eine Filiale der Firma, die dort eine ganze Reihe von Wohnhäusern baute, vor allem in Charlottenburg und Wilmersdorf, aber eins auch Unter den Linden. Er praktizierte auch als Architekt, wurde ein sehr aktiver und prominenter Freimaurer, baute auch das bekannte Logenhaus in der Emser Straße in Wilmersdorf. Er heiratete erst im Alter, 1925, hatte sich schon vorher aus dem Geschäft zurückgezogen und starb 1932 in Berlin. Von den vier anderen Brüdern meines Vaters waren zwei Mediziner, der älteste, Hermann, als praktischer Arzt in Berlin­Kreuzberg (31), und Ernst (32) orthopädischer Chirurg in Beuthen. Die anderen zwei studierten Jura, Bruno war Justizrat in Berlin, aber der jüngste, Paul, trat nach seinem Studium in die Erzhandelsfirma Rawack & Grünfeld in Beuthen ein, beteiligte sich später an einer chemischen Fabrik in Nürnberg, aus der sich die Gesellschaft für Elektrometallurgie (GfE), führend in der Ferrolegierungsindustrie, entwickelte. Er war ein sehr unternehmerischer und weitsichtiger Mann, in einem Industriezweig, der im Laufe des 20. Jahrhunderts große Bedeutung und Möglichkeiten errang. Von den vier Schwestern des Vaters heirateten drei Juristen, Martha den Justizrat Ernst Kaiser in Beuthen, Minna den Justizrat Salomon Epstein in Kattowitz, wo er auch bis zu seinem frühen Tod 1908 kurze Zeit Stadtverordnetenvorsteher wurde, und Luzie den Landgerichtsrat Max Hirschel in Gleiwitz. Die jüngste Tochter, Ida, heiratete Felix Benjamin, einen Neffen des Geheimen Kommerzienrats Louis Grünfeld, Chef der Firma Rawack & Grünfeld, dessen Nachfolger er auch wurde. Die Familien Grünfeld und Sachs waren aber noch viel größer. Jakob Grünfeld in Zalenze hatte acht Töchter und zwei Söhne, Elias Sachs vier Söhne und Tochter Grete, und es gab noch einen Bruder Abraham und weitere Schwestern Sachs meiner Großmutter. Heirat meines Vaters mit Margarete Oettinger Mein Vater war lange Junggeselle geblieben, bis er 1906 mit 41 Jahren meine Mutter, die 18 Jahre jüngere Margarete Oettinger aus Breslau heiratete. Ihre Familie kann ich bis auf meinen Ururgroßvater Josef Oettinger in Rackwitz (Rakoniewice) in der Provinz Posen verfolgen (33). Einer seiner Söhne, mein Urgroßvater Albert, wurde Arzt, promovierte an der Universität Berlin 1835 (34), und ließ sich in Neustadt bei Pinne (Lwowek) nieder, verheiratet mit Ettel Schiff (35). Das Ehepaar hatte drei Söhne und eine Tochter, die den Arzt Dr. Riesenfeld in Breslau heiratete. Alle drei Söhne gingen auch nach Breslau und mein Urgroßvater starb dort 1860. Bei seinem ältesten Sohn Richard war ungewöhnlich, daß er als Junge bei einem der polnischen Aufstände mitgemacht haben soll. Dann heiratete er eine deutsche, nichtjüdische Schauspielerin, war im Flachsgroßhandel sehr erfolgreich, so daß er zeitweilig als der reichste Mann Breslaus angesehen wurde. Sein Sohn, Richard, wuchs als Protestant auf und war Rittmeister bei den Gleiwitzer Ulanen. Die beiden anderen Söhne, Siegmund und mein Großvater Max Oettinger, gründeten zusammen ein Flachsgroßhandelsgeschäft und brachten es zu Wohlstand, Siegmund später in Berlin. Mein Großvater führte das Geschäft in Breslau weiter, wo er auch ein angesehener Mitbürger wurde, viele Jahrzehnte Stadtverordneter, einer von vier Abgeordneten der Stadt Breslau im Schlesischen Provinziallandtag und lange Jahre Direktor der "Gesellschaft der Freunde", einer bürgerlichen Vereinigung, in der die liberalen Kreise zusammengeschlossen waren, im Gegensatz zu der bekannten sehr alten Kaufmannsvereinigung des "Zwinger". Er heiratete Minna Weinstein aus Insterburg in Ostpreußen, wo ihr Vater Direktor einer Spinnerei war (36). Meine Mutter war das jüngste der drei Kinder. Die ältere Schwester Frieda war verheiratet mit Dr. Paul Gerber in Königsberg, Arzt und auch Schriftsteller (37), Mutters Bruder Walter Oettinger war Arzt, Bakteriologe, außerordentlicher Professor an der Universität Breslau (38). Die Geschwister und einige der Vettern und Kousinen meiner Mutter wurden protestantisch. Eine der engsten Freundinnen meiner Mutter in ihrer späten Jungmädchenzeit in Breslau war Stella Whiteside, später verheiratet mit Dudley Braham, eine von zwei englischen Schwestern, die damals in Schlesien lebten und englischen Unterricht gaben. Sie hat mir viel später, als ich sie nach dem 2. Weltkrieg in London wiedersah, erzählt, daß sie dabei war, als meine Eltern sich zum ersten Mal sahen (39). Kapitel 3 Kindheit und frühe Jugend Nachdem ich nun versucht habe, ein Bild von Vorgeschichte und "background" zu skizzieren, kehre ich wieder zu meinen eigenen Kindheits­ und Jugenderinnerungen zurück, mit denen wir begonnen hatten. Wir wohnten in einer großen Villa, von der Friedrichstraße, Hauptverkehrsader der Stadt, durch einen Vorgarten, mit Bäumen und Sträuchern dicht bewachsen, Blumenbeten und Spazierwegen dazwischen, abgeschirmt. Im ersten Stock war aber auf diesen Garten und die Friedrichstraße hinaus ein großer Balkon, von dem man die Straße gut sah und so am Leben, das da vor sich ging, Anteil nehmen konnte. Da zogen vorbei die jährliche große Fronleichnamsprozession und andere festliche Umzüge, viele lange Beerdigungszüge, oft mit ein oder mehreren Musikkapellen, manchmal Gruppen von schön uniformierten Bergleuten dabei, Truppen marschierten ein und aus, Demonstrationen und auch Schlimmeres. Gegenüber unserem Vorgarten, an der anderen Ecke der Schulstraße lag die evangelische Kirche, auch mit großem Vorgarten, aber doch so, daß das Kommen und Gehen auch zu unserer kindlichen Umwelt gehörte, ebenso wie bei den beiden Mittelschulen uns gegenüber an der Schulstraße. Westlich angrenzend, an der Friedrichstraße, war in meiner frühen Kindheit das Haus der Großeltern Grünfeld, 1870 gebaut, in dem bis 1913 die Großmutter wohnte, mit zwei verwitweten Schwestern des Vaters und deren Kindern. Nördlich von beiden Häusern zog sich ein großer Garten bis zum Rawafluß hin, mit einer Spielwiese an der Rawa, einem Tennisplatz, viel Obstbäume und Gemüsegarten, Holunder, Jasmin und dann waren da auch Ställe für die Pferde und Haustiere. Wir Kinder hatten also ein Paradies und immer viel Besuch von anderen Kindern, die beinahe täglich zum Spielen kamen. Auch sonst war immer viel Besuch. Das Haus war nicht leer, denn es brauchte ja viel Hilfe, und diese Menschen waren auch Teil der kindlichen Welt. Unser Haus hatte 14 Zimmer und war nicht nur in meiner Erinnerung, sondern auch nach dem Urteil vieler Besucher, die kamen, ein besonders schönes Haus. Im Erdgeschoß zog sich eine große Diele beinahe durch die ganze Länge des Hauses, links waren ein Eßzimmer, mit angrenzender Anrichte, Küche etc., rechts drei weitere Wohnräume, Herrenzimmer, Salon und Damenzimmer. Im 1.Stock waren die Schlaf- und Kinderzimmer und zwei Gästezimmer. Da das Haus so groß war, hatten wir von bald nach Kriegsbeginn dauernd Einquartierung. Das zog sich bis etwa 1925 hin, und die Wechsel der politischen Geschicke spiegelten sich auch für uns Kinder dabei wieder. Wir waren aber gar nicht auf das Haus und den großen Garten begrenzt. Spazierengehen spielte eine große Rolle. 1910 wurde meine Schwester Lotte und 1912 Marianne geboren, wir waren dann zu dritt, auch hatten wir für lange Zeit immer ein Kinderfräulein. Bei der Ziegelei der väterlichen Firma draußen in Karbowa war auch ein Garten eingerichtet, hauptsächlich Gemüsegarten, auch mit Obst und Beeren. Morgens wurde wochentags immer ein Spaziergang nach Karbowa gemacht, oft mit der Mutter, dann spielten wir morgens dort und gingen zum Mittagessen wieder nach Haus. Das waren diese Spaziergänge durch die Felder zwischen Kattowitz und dem "Vorwerk" Karbowa, wo man mit den Bauern und Bäuerinnen bekannt wurde, die meist polnisch sprachen, aber mit uns deutsch. Wir machten aber auch Spaziergänge in den "Südpark" von Kattowitz oder in die Stadt. Zu frühesten Erinnerungen gehört ein Besuch bei uns von Mutters englischer Freundin Stella Braham mit Sohn Harold, wenig älter als ich. Es verwirrte mich, als er in meiner Badewanne gebadet wurde. Dann erinnere ich mich auch an verschiedene Einzelheiten von Ferien in Rauschen in Ostpreußen im Sommer 1912, so auch wie wir in Königsberg bei den Verwandten Gerber im Garten saßen und der Onkel Paul Gerber dazukam und wir ihm Guten Tag sagten. Das sind solche blitzartigen Erinnerungen einzelner Szenen aus kindlicher Vergangenheit. Zu den Erinnerungen aus frühester Kindheit gehören auch die regelmäßigen Besuche bei den Großeltern Oettinger in Breslau. Damals fuhren wir immer mit dem Zug, erst einige Zeit nach dem ersten Weltkrieg wurde das auch schon mal im Auto gemacht. Die Großmutter holte uns am Bahnhof ab, und wir fuhren in einer Droschke in die Wohnung der Großeltern. Die Großmutter war immer ganz außer sich, wenn wir ankamen, und überfiel uns mit vielen Küssen. Sie war eine sehr lebhafte und, ich glaube, recht kapriziöse Frau, hielt immer viel auf elegantes Aussehen und elegante Kleidung. Mutters sowohl wie unsere Kindergarderobe wurde immer als recht unzureichend empfunden, und es folgten große Einkaufsexpeditionen in Breslau, wo es ja auch größere und elegantere Geschäfte als in Kattowitz gab. Meine Mutter war weit weniger modebewußt als die Großmutter, ja ihr lag eigentlich viel eher eine betonte Einfachheit, so mußten diese Einkaufsexpeditionen ihr manchmal aufgezwungen werden, aber die Großmutter war sehr lebhaft und energisch. An den Großvater erinnere ich mich als sehr ruhig, ausgewogen und verständnisvoll, er konnte auch manchmal sehr böse werden, das war dann schlimmer, als wenn er es immerfort beim kleinsten Anlaß geworden wäre. Er bleibt mir von frühester Kindheit an in sehr lieber Erinnerung. In unserem Leben in Kattowitz gab es dann, bis ich Ostern 1915 in die Schule kam, zwei einschneidende Ereignisse. Zunächst in der Familie: Im Herbst 1913 starb die Großmutter Grünfeld. Der Großvater war schon 1894 gestorben, ich hatte ihn nur von den großen Portraits gekannt, die in Wohnung und Büro des Vaters hingen. Auch die Großmutter Grünfeld habe ich nur wenig gekannt. Wenn wir sie besuchen durften, saß sie fast immer in einem Sessel. Ich weiß, daß ich sie gerne besuchte und daß es mich beeindruckte, aber meine Erinnerungen bleiben vage. Meine Tante Grete Grünfeld, Tochter des Bruders der Großmutter des Elias Sachs, und später nicht nur ihre Nichte, sondern auch ihre Schwiegertochter, als sie den jüngsten Bruder des Vaters, Dr. Paul Grünfeld heiratete, beschreibt die Großmutter Grünfeld als "eine schöne, naturhaftkraftvolle und dominierende Persönlichkeit" und dann noch: " Die große Verwandtschaft. .. vereinigte sich im schönen Grünfeldschen Heim in Kattowitz beim allwöchentlichen Freitagabendessen um die dominierende Schwiegermutter. Diese naturhafte Frau strömt in meiner Erinnerung immer noch einen Waldduft aus, den sie von ihren alltäglichen Spaziergängen mitbrachte. Zu ihrer außerordentlich kraftvollen Konstitution hatte ihr das Schicksal den "sacro egoismo"...mitgegeben. Schönes Haus, prächtiger Garten, reichliche Dienerschaft hielten sie nicht ab, alljährlich viele Monate in ihrem geliebten Marienbad zu verbringen, wo die Kinder sie abwechselnd besuchten. Niemand konnte ihrer imponierenden Persönlichkeit etwas versagen oder sie beeinflussen". Das Haus der Großeltern aber war mir ganz vertraut, der Garten war ja gemeinsam, und da war ein großes Maiglöckchen Beet, das sie besonders liebte, und ich erinnere mich auch, daß sie in den Garten kam. Die verwitweten Töchter, die mit ihr im großelterlichen Haus lebten, waren Lucie Hirschel, deren Mann, Landgerichtsrat Max Hirschel, 1904 in Gleiwitz starb, mit den zwei noch jugendlichen Kindern Hans und Gretel, und Minna Epstein, deren Mann Justizrat Salomon Epstein, seinerzeit auch Stadtverordnetenvorsteher von Kattowitz, 1909 dort starb. Von ihren zwei schon erwachsenen Töchtern wollte die jüngere Ellen Pianistin werden, die ältere Margot war im Pestalozzi­Froebel Haus in Berlin als Kindergärtnerin ausgebildet und hielt einen großen Kindergarten im Hause ab. Frühe Versuche, mich dort hinein zu bringen, scheiterten. Es tut mir noch jetzt leid. War ich so scheu oder so schwierig? Ich bin doch dann ein sehr geselliger und jedenfalls Gesellschaft suchender Mensch geworden. Ich erinnere mich auch an ein Gartenfest, zu dem die Großmutter einlud. Wir kleinen Kinder nahmen eigentlich nicht teil, aber am Anfang durften wir es uns ansehen. Es war ein Kostümfest mit vielen Lampions und Musik. Gretel Hirschel führte uns hin, nachdem wir vorher noch gesehen hatten, wie sie ihr Kostüm anzog. Sie war einige Jahre älter als ich, ich war noch nicht fünf Jahre. Bei dem Fest war viel Jugend. Die beiden Epstein Töchter und die Geschwister Hirschel und ihre Freunde machten überhaupt den Garten belebter, und es wurde auch viel Tennis gespielt. Als ich gerade 5 Jahre war, starb die Großmutter Grünfeld. Es wurde uns zunächst nichts gesagt. Aber an einem Nachmittag sollten wir ins Nebenhaus gehen, es gab einen direkten Durchgang von unserem Eßzimmer in eine Art Loggia im Großelternhaus. Es waren furchtbar viel Menschen dort, viel Famìlie, und Tante Lucie Hirschel begrüßte uns, ich fragte nach der Großmutter, und sie machte eine Handbewegung zur Decke hinauf. Jetzt verstand ich, Großmutter war nun im Himmel. Das wußte ich also schon vom Tode. Man hatte tote Tiere gesehen, es gab so oft Beerdigungszüge, auf unserem Weg nach Karbowa kam man am evangelischen und am katholischen Friedhof vorbei, wir gingen mit dem Kinderfräulein auch manchmal da durch. Am katholischen brannten zu Allerheiligen und Allerseelen auf allen Gräbern kleine Kerzen, ein starker Eindruck schon der frühesten Jugend. Der jüdische Friedhof lag ganz woanders, es dauerte noch lange, bis ich davon wußte. Religion wurde im Elternhaus nicht sehr groß geschrieben. Wir lernten, ein Nachtgebet zu sagen, nicht nur das Kinderfräulein, auch die Mutter hielten darauf, daß wir es nicht vergaßen, es wurde Weihnachten mit großem Baum und viel Kerzen und Geschenken gefeiert für uns Kinder und natürlich das Hauspersonal mit Familien, und noch Verwandte oder Bekannte, die dazu kamen. Aber ich habe eigentlich keine Erinnerung, daß der liebe Gott selbst dabei so eine Rolle spielte. Daß wir jüdisch waren, erfuhr ich eines Tages eigentlich durch Zufall, ohne eine Vorstellung zu haben oder je gehört zu haben, daß es so etwas gab oder was es bedeutet. Es war ein Tag des Großreinemachens gewesen, und unsere Matratzen und Bettzeug lagen alle auf unserem Balkon und ein Teppichklopfer auch. Es war Spätnachmittag, als ich auf den Balkon kam und nicht widerstehen konnte, mit dem Teppichklopfer auf die Matratzen einzuhauen, so wie ich es vorher von den Hausmädchen gesehen hatte. Ich war wohl grade sechs Jahre. Da kam das Kinderfräulein ganz aufgeregt, ich muß sofort aufhören, was sollen denn die Leute draußen denken, der jüdische Feiertag hat doch schon angefangen und siehst Du, dort auf der Straße geht grade Dein Vater vorbei auf dem Weg in die Synagoge. Und richtig, er ging dort im Zylinderhut und schwarzem Gehrock. Am nächsten Tag war Vater noch einmal gegangen, und ich sah den Zylinder unten in der Diele liegen. Ich weiß nicht, was und wieviel mir die Eltern damals erklärten. Es war mir in späterer Zeit klar, daß es der Versöhnungstag war und der Vater am Vorabend zum KolNidre Gottesdienst gegangen war. Etwas mehr von der Bedeutung von Religion und, daß wir jüdisch waren, sollte mir eigentlich erst klar werden, als ich Ostern 1915 in die Schule und damit auch zu jüdischem Religionsunterricht kam. Nach dem Tod der Großmutter gab es große Veränderungen. Von ihren zehn Kindern hatten mein Vater und zwei schon erwähnte Schwestern in Kattowitz gewohnt, die älteste Schwester Martha Kaiser und der jüngere Ernst, orthopädischer Chirurg lebten in Beuthen, und dort lebten auch die beiden jüngsten Kinder, Dr. Paul Grünfeld, Direktor bei der Erzhandelsfirma Rawack & Grünfeld und Ida Benjamin, deren Mann Felix Benjamin bei Rawack und Grünfeld führend wurde. Rawack & Grünfeld hatte beschlossen, ihren Hauptsitz von Beuthen nach Berlin zu verlegen, und die beiden Familien Paul Grünfeld und Felix Benjamin sollten Anfang 1914 nach Berlin ziehen. Nun nach dem Tod der Großmutter wurde das großelterliche Haus verkauft und zwar an die Deutsche Bank, und die beiden Tanten mit ihren Kindern zogen auch nach Berlin. Also von den zehn Geschwistern blieben nun nur noch drei in Oberschlesien. Für meine Eltern war das wohl noch eine viel größere Veränderung als für uns Kinder. Meine Mutter hatte sich mit Margot Epstein angefreundet, die auch später zu Besuch kam oder mit Mutter und uns auf Ferienreisen ging. Die Deutsche Bank baute lange um, ihr Direktor war Herr Böhnert, und die Böhnerts, die dann im 1.Stock im Nebenhaus wohnte, hatten zwei Kinder, Horst und Vera, in Lottes und meinem Alter, und wir haben dann viel mit ihnen gespielt. Das weitere Ereignis, das dann kam, war einschneidender in viel weiterem Sinn, der Ausbruch des 1.Weltkriegs. Ich hatte schon in den Tagen vorher etwas von Krieg gehört, es war eine große Spannung, und man spürte Angst und Aufregung in der Umgebung. Am Tag davor, als wir in der Stadt waren, lief ein älterer Offizier mit einem dicken roten Streifen an den Hosen, wie ich sie noch nie gesehen hatte, es war ein Generalstabsoffizier, wurde gesagt, ganz schnell über die Straße, und die Mutter sagte, na da wird es wohl Krieg geben, wenn der es so eilig hat. Die Szene ist bei mir immer mit der Erinnerung an den Kriegsausbruch verbunden geblieben. Am nächsten Tage war es nun Krieg. Es wurden so viele Leute, auch aus unserer Bekanntschaft in Kattowitz eingezogen. Vater war bald 49 Jahre und war dispensiert. Auch hieß es, alle guten Pferde müßten abgegeben werden. Wir fuhren mit den Eltern nach Karbowa am Bezirkskommando des Militärs vorbei, mein Vater hatte es gebaut, und man winkte, daß wir mit den Pferden gleich hineinfahren sollten. Das tat mein Vater nicht, aber dann mußten wir die Pferde doch bald abgeben. Sie hießen Wolfram und Ingram und ich war ihnen sehr zugetan. Sie gehörten sehr zu unserem Leben, und wir besuchten sie oft in ihrem Stall. Nun war ich untröstlich. Bald erkundigte ich mich, ob man gehört hat, wie es ihnen geht. Man hatte noch nichts gehört, aber dann sagte der Diener Karl Glowig zu jemandem so zur Seite, wahrscheinlich sind sie schon längst zerschossen. Wieder eine merkwürdige Erinnerung an die ersten Kriegswochen, aber nichts hatte mir zunächst so klar gemacht, als die Seitenbemerkung, die ich nicht hören sollte, was der Krieg ist. Dabei brauchte es dies sehr bald nicht mehr. Der russische Vormarsch in Ostpreußen war durch die Schlacht bei Tannenberg aufgehalten worden, aber im Süden waren die Russen in Galizien gegen die Österreicher für längere Zeit erfolgreich und versuchten auch nach Schlesien vorzudringen. Wir hörten Kanonenfeuer, wie es hieß von Olkusz, die Stadt füllte sich mit Verwundeten, Hilfslazarette wurden uns gegenüber in den Mittelschulen eingerichtet, man sah viel mehr Soldaten in der Stadt und wir bekamen Einquartierung. Ein oder beide Gästezimmer waren dann während des ganzen Kriegs von deutschen Offizieren als Einquartierung belegt, aber die erste, an die ich mich gut erinnere, war viel größer. Im Erdgeschoß wurden Salon und Damenzimmer dem Oberstleutnant v.d.Mölbe und seinem Stab überlassen, der vorübergehend mit Truppen in Kattowitz inmitten der Krisensituation stationiert war. Schon Tage vorher hatte es geheißen, daß wir alle nach Berlin abreisen müßten, es wurden große Kabinenkoffer herausgeholt und provisorisch gepackt. Die beiden Wohnzimmer, in denen die Offiziere waren, gingen durch eine weite Schiebetür, die meist offen war, in unsere große Diele, es war ein Kommen und Gehen. Einmal kam ein neuer Offizier zu den Eltern, wurde dem Oberstleutnant vorgestellt, der sehr erstaunt war. Erst viel später wurde mir erklärt, der war auf Veranlassung von Onkel Walter Oettinger gekommen, der hatte seine Stellung an der Universität Breslau aufgegeben und war damals als Stabsarzt im nahen Oppeln stationiert. Er ließ sagen, wie man die Lage in Oppeln sah, sollten wir nach Berlin abreisen. Er hatte ja nicht gewußt, daß wir unterdeß auch so gut informierte Einquartierung hatten. Die waren dann der Ansicht, daß die Gefahr weiteren russischen Vordringens einstweilen behoben sei, und wir blieben. Aber der Alarm wiederholte sich noch mehrmals, und die Koffer blieben einige Zeit gepackt. Die v.d.Mölbe Einquartierung, die sich meinem Gedächtnis so eingeprägt hat, war bald vorüber. Die Offiziere, die dann als Einquartierung bei uns wohnten, aßen auch oft bei den Eltern. Sie wechselten oft, auch verschiedene Ränge, manchmal auch gar keine Berufsoffiziere, einer war aus Frankfurt a. Main, kam beinahe täglich, sein Dialekt machte mir Spaß, es gab immer Wein. Inzwischen kam ich im April 1915 in die städtische Knabenmittelschule als meine Vorschule. Mein Vater war sehr stolz, daß die Stadt diese Art Schulen unterhielt. Die meisten Schüler würden dort ihre Schulbildung nur bis zur mittleren Reife beenden, er fand das sehr gut, daß ich in so einer Schule anfing. Ich weiß nicht mehr, ob ich Schule gleich gern hatte, aber sehr bald hatte ich es, nur mit dem Schreiben war es schwer. Ich war nämlich vorzugsweise Linkshänder, manches machte ich automatisch rechtshändig, manches nicht, und beim Schreiben hatte ich unwiderstehlichen Vorzug für die linke Hand, aber das wurde nicht erlaubt, und es kostete mir mehr Mühe es zu lernen, ich bekam eine schlechte Schrift, noch für Jahre mahnte der Vater immer, ich sollte Schönschreibeunterricht nehmen. Das Kriegsgeschehen machte sich natürlich auch in der Schule bemerkbar. Es gab Siegesfeiern und Apelle für Sammlungen. Ich konnte nun auch an der Tätigkeit und den vielen Interessen des Vaters schon mehr Anteil nehmen. Er wollte das sehr, und ich bin dankbar dafür. Trotz seinem vielfältigen Engagement im öffentlichen Leben glaube ich doch, daß seine berufliche Tätigkeit als Baumeister ihm wirklich am Herren lag. Morgens ging er täglich zunächst auf Besuche der Bauten, dann in die Ziegelei und zu anderen Nebenbetriebe, nach Karbowa, und schließlich nach Hause ins Büro, das dem Wohnhaus angegliedert, auf dem Grundstück nunmehr der Deutschen Bank war. Ich wurde schon manchmal mitgenommen bei Besuchen zu Bauten und der Ziegelei und immer mehr, je älter ich wurde, besonders zu Fahrten über Nikolai nach Lazisk, wo das Elektrizitäts­ und Karbidwerk der Prinzengrube gebaut wurde. Auch über Vaters Rolle als Stadtverordnetenvorsteher wußte ich bald mehr. Auf dem Ring der Stadt gab es Siegesfeiern und Apelle, eine große Hindenburgbüste wurde aufgestellt, und das Publikum sollte Nägel je nach gestifteten Beträgen aus verschiedenen Metallen kaufen und selbst einschlagen. Der Vater als Stadtverordnetenvorsteher mußte auf einer Eröffnungsfeier den ersten Nagel einschlagen und eine Rede halten, auch im Zylinder und Gehrock. Natürlich wurde in der Schule dann auch darüber gesprochen. Beginn der Schulzeit hieß für mich das Aufhören der täglichen Morgenausflüge nach Karbowa und dadurch ein Stück weniger von der Naturnähe, in der wir, obwohl wir Industriestadtkinder waren, aufwachsen durften. Der Garten hinterm Haus sorgte immer noch dafür, daß dies keineswegs verschwand, der Krieg brachte sogar, als die Verpflegung schwieriger wurde, einen Zuwachs des Tierbestandes. Ingram und Wolfram waren durch zwei schwerere Brabantertype Pferde ersetzt worden, die aber keine kindlichen Zuneigungen mehr hervorriefen. Aber jetzt gab es auch Ziegen, eine Kuh, viele Hühner, Enten, Gänse und dann auch Schweine. Es ist eine vielleicht erstaunliche Tatsache, aber ich empfinde es noch heute so, daß die ersten Religionsstunden, die ich in der Schule hatte, auf mich einen überwältigenden Eindruck gemacht haben. Der Lehrer Weissmann, mit einem kleinen weißen Bart, sah so etwa wie ein Patriarch aus, und erklärte alles über den lieben Gott anhand des alten jüdischen Gebets Adon olam, ein sehr schönes Gebet, das die Macht Gottes beschreibt. Ich war sehr beeindruckt durch alles Religiöse und natürlich eingenommen für alles Jüdische, durch das mir diese Welt der Religion nahegebracht worden war. Wir wurden aufgefordert, Sabbath nachmittags die Jugendgottesdienste zu besuchen, die Eltern erlaubten es mir schließlich, sie verstärkten meine Faszinierung mit Religion und Jüdischsein. Der Vater trug mir auf, dem alten Rabbiner Dr. Jakob Cohn guten Tag zu sagen und ihn zu grüßen, ein angeheirateter Vetter des Vaters. Auch stellte sich bald heraus, daß der Vater auch dem Vorstand der Synagogengemeinde angehörte. Da meine Begeisterung für diese Sphäre aber beiden Eltern zu viel wurde, mußte ich nach einiger Zeit die Besuche der Jugendgottesdienste immer mehr einschränken, durfte auch zu den Feiertagen nur nach harten Kämpfen zum Gottesdienst gehen, aber am Versöhnungstag konnte ich mit dem Vater zusammen in die Synagoge gehen, eine wirkliche Versöhnung. Es blieb ein großer Schmerz, daß meine Mutter dem so fern stand. Die anderen jüdischen Kinder gingen nach einiger Zeit auch noch nachmittags in die hebräische Unterrichtsanstalt im Gebäude der Jüdischen Gemeinde, wohl so etwas wie ein alter jüdischer Cheder. Ich durfte das nicht. Es wurde gesagt, ich könnte dann ein Jahr vor meiner Barmitzwah Privatstunde in Hebräisch haben. Unter den Freunden meiner Eltern erinnere ich mich aus dem engsten Kreis an den Frauenarzt Dr. Ernst Speier mit seiner Frau Rosa, deren Großvater Fröhlich 1825 der erste jüdische Einwohner des Dorfes Kattowitz war. Sie war sehr begabt und anerkannt für ihre öffentliche Tätigkeit. Sie hielt gute Reden und organisierte, war Vorsitzende des Vaterländischen Frauenvereins, der im Krieg mit Fürsorge und Lazaretten besonders aktiv wurde. Meine Mutter war auch im Vorstand, und wir haben als Kinder da auch viel darüber gehört und miterlebt. Dann waren andere Arztehepaare, unser damaliger Hausarzt Dr. Proskauer, Dr. Max Koenigsfeld, Augenarzt Dr. Ernst Lubowsky, dessen Bruder Ingenieur Heinrich Lubowski. Frau Dr. Lubowski und Dr. Koenigfeld gehörten auch sehr aktiv zum Vaterländischen Frauenverein. Frau Speier, Lubowsky und Mutter sangen auch regelmäßig mit im Meisterschen Gesangsverein und waren im Vorstand. Der Vorsitzende des Vereins, Dr. Ehrenfried, gehörte auch zum engeren Bekanntenkreis, ebenso der Direktor der Kunigunde­Zinkhütte Zoellner, mit seiner österreichischen Frau, die mit einer sehr schönen Altstimme konzertierte. Sie hatten zwei Söhne und Koenigfelds zwei Töchter in unserem Alter, und bei Dr. Lubowski war es Sohn Karl Heinz und den andern Lubowskis Horst, die alle regelmäßig zu uns zum Spielen kamen und den Kern der Freunde der Kindheits­ und Schulzeit bildeten. Am 3.Oktober 1915 feierte mein Vater seinen 50.Geburtstag, es kamen viele Leute, der Oberbürgermeister Pohlmann hielt eine Rede, ich konnte schon soweit zählen, daß ich feststellte, der Frühstückstisch für den Empfang nach der Gratulationskur war für 50 Personen gedeckt. Für uns Kinder warf der Tag schon vorher seine Schatten voraus: Rosa Speier hatte ein langes Gedicht gemacht, für uns drei Kinder mit verteilten Rollen aufzuführen, auch Marianne, noch nicht ganz drei Jahre, hatte etwas zu sagen. Das ging weit über die kleinen Gedichte heraus, die man bisher bei Geburtstagen usw. aufzusagen hatte. Wir waren uns also der Bedeutung des Tages schon vorher wohl bewußt. Ich erinnere mich auch, daß Frau Speier um diese Zeit ein Gedicht für einen der öffentlichen Appelle geschrieben hatte, gebt Gold für Eisen oder so etwas ähnliches. Es war uns schon zu Hause gezeigt worden, und ich war begeistert. Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter es auch war. Dann wurde es an alle Schulklassen verteilt, ich war wieder begeistert, aber unser Lehrer hängte es auf die Innenseite des Schulschranks. So mußte man immer zum Schulschrank gehen und die Tür aufmachen, wenn man das Gedicht sehen und sich patriotisch ermahnen lassen wollte. Ich fand das schon damals als Kind etwas merkwürdig und enttäuschend und natürlich unbequem aber war ganz arglos. Heute frage ich mich, hatte der Lehrer etwas dagegen aus pädagogischen Gründen, daß man so etwas in eine Vorschulklasse hängt, oder war ihm der Kriegspatriotismus allgemein schon zu viel geworden, fand er das Gedicht schlecht, konnte er die Frau Speier nicht leiden, oder, und das fällt mir eigentlich erst heute ein, war es vielleicht einfacher Antisemitismus? Ich wußte damals noch nicht, wie kompliziert das Leben sein kann. Die jüdischen Freunde der Eltern Dr. Speiers und Koenigsfeld machten von jüdischer Religion eher noch weniger Gebrauch als mein Vater. Dr. Ehrenfried zum Beispiel ging nur alle paar Jahre am KolNidre Abend in die Synagoge, er ging ja ganz auf in seinen musikalischen Interessen und der Präsidentschaft des Meisterschen Gesangvereins, und so hatte er einen gesellschaftlichen Kreis, in dem kaum nach Religion oder Herkunft gefragt wurde. Aber er war ein sehr bewußter Jude, hatte der jüdischen Studentenverbindung KC angehört und blieb ihr aktiv verbunden. Mein Vater war auch ein bewußter Jude, aber er war gegen betonte jüdische Absonderung. Die beiden Brüder Lubowski waren getauft, die Frauen nichtjüdisch. Frau Else Lubowski, Frau des Augenarztes, Tochter eines Oberstleutnant Knecht, der aus dem Elsaß stammte, ihre Mutter aus der Schweiz. Der Sohn Karl­Heinz wurde damals unter unseren Spielgefährten mein nächster Freund. Nur in puncto Religion zogen wir in verschiedene Richtungen. Seine Mutter gehörte auch zum Vorstand der Evangelischen Kirchengemeinde, später sogar auch sein Vater Pastor Voss, ein enger Freund der Familie. Karl­Heinz wollte als Junge immer Pastor werden, bei uns im Garten war ein großes Schaukelgestell, da stellte er sich manchmal eine Leiter auf und wollte zu uns predigen, während ich im Herbst immer wollte, daß wir alle eine Laubhütte in unserem Garten zum jüdischen Laubhüttenfest bauen sollten. Im Sommer 1916 fuhren wir mit Mutter auf Sommerferien nach Heringsdorf, blieben unterwegs in Berlin und trafen alle Verwandtschaft dort, wohnten aber in Hotels. Diese und die enorme Stadt machten noch einen größeren Eindruck als Breslau. Die Ferien an der See waren eine ganz andere Welt, es war wunderbar und erfrischend, man traf auch ganz andere Kinder, viele waren aus Berlin, es war schwierig mit ihnen fertig zu werden. Als weitere Horizontbereicherung: in einem Hotel, dem sehr eleganten Hotel Monopol, hatten wir auch einmal in Breslau gewohnt, als wir mit beiden Eltern hinfuhren. Der Vater hatte Sitzungen, es gab eine Eröffnungsfeier mit Paraden und später als ich mehr wußte über solche Sachen, erfuhr ich, daß das damals eine Eröffnungssitzung des Schlesischen Provinziallandtags war, in dem mein Vater die Stadt Kattowitz vertrat und dem auch mein Großvater Max Oettinger als einer von vier Vertretern der Stadt Breslau angehörte. 1917 kam ein neues Kinderfräulein, Else Jeppesen. Vorher hatten wir einen richtigen Gouvernantentyp, diese aber kam aus dem Pestalozzi Froebel Haus, von Margot Epstein arrangiert. Sie hatte in dem Reber'schen Frauenchor mitgesungen, den Margot Epstein in Berlin leitete. Eigentlich hätte ich ja kein Kinderfräulein mehr haben sollen, aber die Schwestern waren jünger. Irgendwie gab es mit ihr einen frischeren Ton. Sie war nach Pestalozzi Froebel Art sehr gut und darauf aus, uns Handfertigkeit beizubringen. Alle Freunde, die im Sommer zum Spielen und Tennis kamen, mußten mit uns im Herbst und Winter Laubsägearbeiten, Klebereien usw. machen, ganze Dörfer und Tierparks wurden angesammelt und zu Weihnachten wurde alles armen Kindern geschenkt. Meine Mutter war damals Betreuerin von zwei städtischen Kinderhorten. Ich weiß nicht mehr, ob das mit Vaters Stellung in der Stadtverwaltung zu tun hatte oder mehr mit Mutters Rolle im Vaterländischen Frauenverein. Wir gingen öfters mit ihr hin, die Hortleiterinnen kamen oft zu uns ins Haus, und zu Weihnachten gingen Alles was wir laubgesägt oder anderweitig fabriziert hatten zu den Einbescherungen der Kinder in diese beiden Horte. Weihnachten mit Else Jeppesen wurde noch viel perfekter gefeiert, mit Singen und Vorspielen, es war ja auch herzerwärmend und hatte wirkliche Schönheit. Wir waren ja auch gar nicht die einzige jüdische Familie, die sich diesem Zauber nicht versagte. Das Jahr 1917 stand aber auch zusehends im Zeichen der Lebensmittel­ und anderer Verknappung: Es gab viel Erdrüben, bei uns Klacken genannt, das Brot wurde dunkel und kleiig, Fleisch, Butter und Eier selten, wir gingen in Holzpantoffeln. Dann gab es auch die ersten Lebensmittelunruhen, die ersten Ausschreitungen für mich überhaupt, und ich habe ja dann in späteren Jahren noch so oft unruhige, tobende Mengen miterleben müssen. Diesmal kam es zweifach sehr nahe. Bei uns hörte man von der Friedrichstraße die lauten Demonstrationen, und morgens waren uns gegenüber die Läden geplündert, die meisten Scheiben zerschlagen. Es gab auch antijüdische Untertöne, wurde uns gesagt. Diese 1917er Unruhen waren nicht auf Oberschlesien beschränkt. Es gab auch anderswo antijüdische Beitöne. Ich erinnerte mich aber an das, was ich eher für besonderen Umstände in unserer nächsten Nachbarschaft hielt. Trotz der Nähe Galiziens und Kongreßpolens waren eigentlich Ostjuden in ihrer traditionellen Kleidung nicht so häufige Erscheinungen im Kattowitzer Stadtbild gewesen. Im Verlauf des Krieges kam das bisherige Russisch­Polen unter deutsche Besetzung, die Grenze war leichter geworden. Im letzten Haus auf unserer Schulstraße hatten sich einige ostjüdischen Familien eingemietet, Geschäftsleute, die auch viel Besuch von Familie und Geschäftsfreunden aus dem galizischen Auschwitz oder dem kongreßpolnischen Bendzin hatten. Das hatte sich erst seit ganz kurzer Zeit so entwickelt. Ich erinnere mich, diese armen Leute wurden um die Zeit der Unruhen belästigt und waren ein Thema. Es wurde aber auch erwähnt, daß es Ausrufe von Demonstranten einfach gegen Juden gegeben hatte. Ich bin mir nicht bewußt, daß diese Unruhen etwas mit polnischer nationaler Agitation zu tun hatten, sie wurden als Arbeiterunruhen beschrieben. Es gab natürlich auch, wie es einem bald klar werden sollte, eine starke polnische sozialistische Bewegung. Daß es zu Unruhen kam, war nicht verwunderlich, Elend, Knappheiten und Gesundheitslage waren entsetzlich geworden, die Stimmung schlug um. Ich las damals auch schon Zeitungen, und es wurde über alles, was den Krieg und Politik betraf, viel gesprochen. So wußte ich über die Russische Niederlage und Revolution, den Eintritt der Amerikaner in den Krieg und die Debatten in Deutschland über die Stellungnahme zu Friedensinitiativen. Eine Zeit lang hatte das Oberkommando der deutschen Armee mit dem Kaiser und Generalstab seinen Sitz im oberschlesischen Pleß beim Fürsten von Pleß. Der fatale deutsche Beschluß zur Erklärung des "unbeschränkten U­Bootkrieges", auf den Amerikas Eintritt in den Krieg folgte, wurde am 8.Januar 1917 in Pleß gefaßt (2). Die Büros des Generalstabs waren teilweise in Kattowitz im Gebäude der Fürstlich Pleßschen Bergwerksdirektion. Als Einquartierung hatten wir damals Offiziere des Generalstabs. Sie kamen nicht oft zum Essen, engeren Kontakt hatten die Eltern dann mit dem letzten deutschen Offizier, der bei uns einquartiert war, ein Major v.Brunn. Viel hörte ich immer über die politische Lage, wenn die Freunde der Eltern zu Besuch kamen. Der Vater war aktiver Anhänger der Freisinnigen Volkspartei. Außer der damals eher rechtsstehenden oder nationalliberalen Kattowitzer Zeitung abonnierten die Eltern die freisinnige Breslauer Zeitung und das Berliner Tageblatt. Dr. Speier und die Brüder Lubowski standen weit mehr rechts, und es gab heftige Debatten, in denen mein freisinniger Vater oft ganz isoliert schien, aber zu meiner Begeisterung heftigst argumentierte. Bis weit in die frühen Tage der Weimarer Republik haben mich diese Debatten zu Hause immer sehr interessiert. Zu Ostern 1918 kam ich dann in das Humanistische Gymnasium und bin noch heute dafür dankbar. Ich hatte mich bald für Latein erwärmt. Der Gymnasialdirektor war Geheimrat Hoffmann, ein ganz alter Herr und immer noch im Amt, der auch in Vertretung einige Lateinstunden in meiner Klasse gab (3). Ich hatte damals schon ein lebhaftes Interesse nicht nur für die politischen Vorgänge um uns herum, sondern auch für alles Geschichtliche. So bekam ich schon mit neun Jahren eine zweibändige "Deutsche Geschichte" (Otto) geschenkt, ich wurde überhaupt ein eifriger Leser von Büchern. Beide Eltern waren es und hatten jeder eine große Bibliothek. Es gab da nicht nur die ledergebundenen vollzähligen deutschen Klassiker und Romantiker, in Übersetzungen auch französische und die meiner Mutter besonders nahe russische und skandinavische Literatur, die ja alle im frühen 20. Jahrhundert im deutschen Kulturleben großen Nachhall hatten. Natürlich waren da auch damals moderne Deutsche Schriftsteller, auch viel Geschichte, Kunst und andere "Sachbücher". Das wurde für mich bald eine wunderbare Fundgrube. Die Mutter war immer mit Anregungen bereit, was ich als Nächstes lesen könnte. Im Herbst 1918 nahm sie mich auf einen Spaziergang in den Südpark und fing an, über die Lage des Kriegs zu sprechen. Sie sagte mir in so vielen Worten, daß Deutschland den Krieg verloren hat und es zu einer Revolution kommen würde. Ich war wie versteinert. Das hatte ich nicht gewußt. Es war ja immer wieder, noch im August 1918, von neuen Offensiven und Schlachten die Rede. Vater hatte zwar schon lange keine der patriotischen Reden gehalten, aber daß es so kam, war kaum vorstellbar. Meine Mutter erklärte mir, daß das schon einige Zeit vorauszusehen war, und sie daher für die Einstellung der Sozialdemokraten zum Krieg schon lange die meiste Sympathie gehabt hätte. Die Unterhaltung war eine notwendige und heilsame Vorbereitung für mich auf die turbulenten Ereignisse, die nach einigen Wochen einsetzten mit dem deutschen militärischen Zusammenbruch und der Revolution. Sie ließen lange Gesichter, große Ängste vor unbekannten Untiefen. Für Oberschlesien hieß das Kriegsende auch, daß das deutsch­polnische Problem nun weit aufbrach und im Laufe der Jahre darum immer wieder viel Blut fließen würde. Natürlich hatten wir auch die innenpolitischen Unsicherheiten, Unruhen von den extrem Linken, Zeichen von Umtrieben rechtsgerichteter Freischärler und die Inflation, aber der deutsch­polnische Konflikt, die Besatzung durch interalliierte Truppen und dann die Teilung Oberschlesiens wurden bei uns die dominierenden Ereignisse. Zunächst gab es auch hier die ersten Konsolidierungserscheinungen der Weimarer Republik. Es gab Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung, auch zum preußischen Landtag und zur Stadtverordnetenversammlung. Der Oberbürgermeister Pohlmann ging als Abgeordneter der neuen Deutschen Demokratischen Partei, der Nachfolgerin der Freisinnigen Volkspartei, in die Weimarer Nationalversammlung, mein Vater als deren Spitzenkandidat und dann Fraktionsführer ins neue Stadtparlament. Für dieses gab es einen lebhaften Wahlkampf. Nach der Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts war die Zusammensetzung des Stadtparlaments ganz anders geworden. Die katholische Zentrumspartei stellte als stärkste Fraktion den Arzt Dr. Max Reichel als Stadtverordnetenvorsteher. Wegen der langjährigen Amtszeit, Erfahrung und das Prestiges meines Vaters nannte sich Dr. Reichel manchmal scherzhaft den Stadtverordnetennachsteher. Es gab nun auch eine polnische Fraktion im Stadtparlament, geführt von dem Frauenarzt Dr. v.Mielecki. Ich habe ja schon bemerkt, daß einem als in der Stadt Kattowitz lebenden Jungen bis 1918 die einschneidende politische Bedeutung der polnischen Frage für Oberschlesien gar nicht so bewußt geworden war (4). Oberschlesien hatte ja schon lange nicht mehr zu dem unabhängigen polnischen Staat gehört, dessen Teilung und Verlust der Unabhängigkeit bei der Bevölkerung der entstandenen Teilgebiete einen starken Widerstandswillen und Sehnsucht nach Wiederherstellung ihres unabhängigen Polens wach hielten. So hatten sich auch die verschiedenen polnischen Aufstände des früheren 19.Jahrhunderts nicht auf Oberschlesien ausgedehnt. In Oberschlesien vertrat die katholische Zentrumspartei lange auch die Interessen der polnisch sprechenden Bevölkerung, aber es bildeten sich polnische Vereine und Genossenschaften, bis 1903 zum ersten mal Wojciech Korfanty als ein polnischer Abgeordneter in den Reichstag gewählt und 1907 von weiteren gefolgt wurde. Nach dem Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg wurden die 14 Punkte ihres Präsidenten Wilson offizielle Friedensziele der Alliierten, Punkt 13 sah die Wiederherstellung eines unabhängigen Polens vor (6). Für Oberschlesien stellte sich der "Kleindruck" als das Wichtigste heraus. Es waren nicht mehr die historischen Grenzen vor Polens Teilungen gemeint, sondern alle "von einer unbestreitbar polnischen Bevölkerung bewohnten Gebiete". Damit war nun auch Oberschlesien, obwohl es nicht ein Teilungsgebiet war, deutlich anvisiert. Nachdem wir in Kattowitz zunächst im November die Aufregungen und Veränderungen der deutschen Revolution von 1918 mitmachten, wurde es langsam klar, daß die Friedensbedingungen, mit denen Deutschland konfrontiert war und für die noch das kaiserliche Kabinett des Prinzen Max von Baden Anfang Oktober die 14 Punkte Wilsons als Basis hatte annehmen müssen (7), ganz ernstlich die Einverleibung Oberschlesiens in den neuerstehenden polnischen Staat einschlossen. Es entwickelte sich bald eine lebhafte gegenseitige Propaganda mit Demonstrationszügen und Protestkundgebungen, an denen auch die Schuljugend beteiligt wurde. Vor Wohnungen oder Geschäften von polnischen Führern wurde demonstriert, die, wie gesagt, oft aus Posen stammten und bis dahin garnicht so bekannt waren, aber die Gemüter wurden weitgehend beherrscht von dem Namen Korfantys. Der war ja nun wirklich ein Oberschlesier. In meiner Familie war er nicht unbekannt. Als Gymnasiast hatte er dem jüngsten Bruder meines Vaters, Paul, Nachhilfestunden gegeben. Die Familie Grünfeld stand damit nicht allein. Ruth Storm, Tochter des Verlegers und Buchhändlers Carl Siwinna, Herausgeber der Kattowitzer Zeitung, berichtet (in ihrem Buch "..und wurden nicht gefragt" S.50), daß der Pfarrer sich bei ihrer katholischen Großmutter für den intelligenten, aber armen Jungen Korfanty eingesetzt hatte, und er den Geschwistern ihres Vaters Nachhilfestunden gab. Im Reichstag wurde er bald prominent unter den polnischen Abgeordneten. Nach dem Zusammenbruch im November 1918 kam es in Posen gleich zur Bildung eines polnischen Volksrats. Korfanty gehörte zu seiner Leitung, profilierte sich also schon damals über seine oberschlesische Stellung hinaus auf der gesamtpolnischen Szene. Der Friedensvertrag von Versailles sah ebenso wie für einen Teil Westpreußens vor allem für Oberschlesien eine Volksabstimmung vor (9). In Vorbereitung und während der Abstimmung sollte Oberschlesien von deutschen Truppen geräumt und von alliierten Truppen besetzt werden. Der Versailler Vertrag vom 28.Juni 1919 trat aber erst nach seiner Ratifizierung am 10.Januar 1920 in Kraft und die Besetzung Oberschlesiens durch alliierte Truppen erfolgte Ende Januar 1920. Inzwischen hatte es im August 1919 einen polnischen Versuch gegeben, mit dem 1.polnischen Aufstand ein "fait accompli" zu schaffen und die Abhaltung einer Abstimmung in Oberschlesien hinfällig zu machen. Er dauerte nur wenige Tage und wurde von den Deutschen niedergeschlagen. Zu dieser Zeit gab es bereits Gruppen von Freikorps beider Seiten, die in die Kämpfe verwickelt waren und von nun an bis zur Durchführung der späteren Teilung Oberschlesiens nicht mehr von der Szene verschwinden sollten. Dieser erste polnische Aufstand war doch ein blutiger Zwischenfall und erregte auch nachträglich Beunruhigung und Bedrücktheit. Es kamen dann noch die Kommunalwahlen vom 28. November 1919, die starken Zuwachs polnischer Stimmen zeigten (10). In der Deutschen Demokratischen Partei wurde Otto Ulitz, anfänglich noch in seiner Uniform des Polizeikommissars, sehr aktiv und ein häufiger Besucher meines Vaters und Begleiter an Wochenendspaziergängen, zu denen ich ja oft mitgenommen wurde. Er wurde dann zu einer Schlüsselfigur bei den deutschen Vorbereitungen für die Abstimmung. Ich nahm regen Anteil an all diesem Geschehen, und das taten auch alle in der Schule. Meine Klasse war wie alle in diesem Gymnasium gut gemischt. Die meisten waren aus oberschlesischen Familien, viele auch Söhne von preußischen Beamten, Leuten aus der Industrie und Wirtschaft oder auch freien Berufen, die aus anderen Teilen Deutschlands gekommen waren. Katholiken waren in der Überzahl, ebenso gab es einen verhältnismäßig hohen Anteil von Protestanten und einige jüdische Mitschüler. Religionsunterricht hatten wir nun bei dem Rabbiner Dr. de Haas, und es interessierte mich immer noch sehr. Karl­Heinz Lubowski blieb ein guter Freund, trotzdem er ein Jahr früher ins Gymnasium gekommen war und immer eine Klasse über mir blieb. Er hatte dort einen sehr aufgeweckten und anregenden Kreis und ich war diesem dann im Laufe der Jahre eher näher als meiner eigenen Klasse, und das traf auch für die jüdischen Mitschüler zu. Wir waren dann bald in einem Alter, wo wir etwas von dem kulturellen Leben in Kattowitz mitbekommen konnten. Das moderne Stadttheater am Ring, das die Stadtväter Anfang des Jahrhunderts erbaut hatten, präsentierte sich als ein Wahrzeichen der so schnell aufgewachsenen Stadt, die ja nicht reich an repräsentativen Bauten war. Freunde der Eltern, wie Dr. Speiers und das Ehepaar Pohlmann waren auch mit Direktor Lischka­Raul und anderen im Theater befreundet. Meine Eltern allerdings interessierten sich mehr für Besuch der Vorstellungen als hinter den Kulissen. Wir Kinder hörten doch schon darüber, was im Theater gerade gespielt wurde, manchmal durften wir auch hin. Zu den Volks­ und Wanderliedern, die schon lange die Kinderlieder abgelöst hatten, kamen nun auch Operetten und andere Schlager, die populär wurden. Bei der Operette war auch Mizzi Will, die Tanzstunden für Kinder unseres Alters veranstalten wollte. Das sollte sich abwechselnd in verschiedenen Häusern abspielen, und es gehörten zu dem Kreis, der sich fand, auch Kinder aus einigen jüdischen Familien. Es war ganz spaßig, richtige Salontänze für ganz jugendliche Paare. Ein Mädchen, das teilnahm, aber mit der wir dann kaum Kontakt behielten, war Lotte Altmann, in deren Haus wir auch waren. Ihre Mutter war aus der Familie des orthodoxen Frankfurter Rabbiners Samson Raphael Hirsch, Gründers der religiös sehr orthodoxen, aber sonst für Assimilation stehenden Gruppe des deutschen Judentums, die sich "Austrittsgemeinde" nannte. Es gab manche Familien in Oberschlesien, die sich zu dieser Gruppe rechneten, und die große Familie Altmann war prominent unter ihnen. Ich erinnere mich an den Senior der Kattowitzer Familie, Leopold Altmann, der nach Vaters 50. Geburtstag zu ihm kam, um ihm zu gratulieren. Er war viel älter als mein Vater, war nicht zum Empfang und Frühstück gekommen. Es bestand eine deutliche Distanz in der privaten Sphäre zwischen diesen orthodoxen Familien und denen, die wie meine Eltern jüdischen Gebräuchen fernstanden, aber es gab gegenseitigen Respekt und eine gemeinsame Gemeinde. Die Eltern der Lotte Altmann zogen bald weg von Kattowitz nach Frankfurt. Ich erinnere mich an sie als ein damals sehr ernstes und stilles Mädchen und habe sie hier erwähnt, weil sie in ihren späteren Jahren bekannt wurde als Sekretärin des österreichischen Dichters Stefan Zweig, mit dem sie, dann mit ihm verheiratet, im 2.Weltkrieg in Brasilien aus dem Leben schied. Das anziehende und lebhafte kulturelle Klima von Kattowitz ist oft gerühmt worden, man nannte es manchmal Klein­Paris. Aus einer rückblickenden Betrachtung Arnold Zweigs, der zwar in Glogau geboren wurde, aber in Kattowitz aufwuchs, möchte ich hier zitieren (11). Er rühmt erst die "freiheitlichen Deutschen", die seine Lehrer an der Oberrealschule waren einschließlich des Direktors Hacks. Dazu möchte ich erwähnen, daß diese Schule städtisch war und ihr Direktor Hacks 1908 Vorgänger meines Vaters im Amt des Stadtverordnetenvorstehers. Arnold Zweig fährt dann fort: "das wirkliche Leben vollzog sich im Kreise von Jugendfreunden und ­freundinnen; von den ersteren sind einige bekannt geworden: der Maler Ludwig Meidner, der Dichter Arnold Ulitz, der bei Langemarck verschollene Philologe Rudolf Clemens. Ich nenne diese Namen, um einen geringen Hauch des geistigen und musikalischen Lebens jener Stadt Kattowitz anzudeuten, die in Professor Oskar Meister und seinen Nachfolgern Organisatoren eines echten Musiklebens besaß und einen wirklichen Kritiker von Geschmack, Urteil und Können fand in dem Geiger und Weinhändler Paul Rappaport, Freund vieler Musiker, Kenner moderner Literaturen...". Es gab noch einige andere Namen von jungen Leuten jener Zeit, die später bekannt wurden, so der katholische Philosoph Pater Erich Przywara. Es gab in Kattowitz den Buchhändler Georg Hirsch, dem nachgesagt wurde, daß er diesen Kreis heranwachsender Schüler sehr angeregt und gefördert habe. Seine Buchhandlung spielte auch in meinen Zeiten, ja bis in die späten 30er Jahre eine Rolle. Meine Eltern waren eifrige Käufer von Büchern und Kunden von Georg Hirsch. Unter anderem hatte er auch die Auslieferung der "Fackel" von Karl Kraus, die mir aber fremder blieb als zum Beispiel die "Weltbühne". Der Meistersche Gesangverein spielte in unserem Leben weiter eine große Rolle. Meine Mutter hatte eine schöne Altstimme, nahm auch weiter Gesangstunden, ihr Mitsingen im Meisterschen Gesangverein hieß, daß sie zweimal in der Woche abends zu Proben ging, später auch meine Schwester Lotte. In Konzerte durften wir schon früh gehen, nicht nur die Chorkonzerte, es kamen auch Solisten, Quartette und Orchester, und mit der Zeit lernte man die meisten damals im deutschen Konzertleben bedeutenden Künstler kennen. Der von Arnold Zweig erwähnte Musikkritiker Rappaport war besonders mit dem Violinisten Josef Joachim befreundet gewesen. Seine Tochter Hannah Rappaport nahm auch an unserer Tanzstunde für Halbwüchsige teil, und mit ihr und ihrem Mann war ich dann in späteren Jahren sehr befreundet. Nach diesem Rückblick auf die erfreulicheren Seiten des Lebens muß ich mich wieder den Erinnerungen an die weitere Entwicklung in den Kämpfen um das Schicksal Oberschlesiens zuwenden. Die Ankunft der französischen Besatzungstruppen in Kattowitz brachte für uns zu Hause eine große Veränderung. Da Oberschlesien auf französisch Haute Silesie hieß, brachten die Franzosen Gebirgstruppen. Sie bliesen muntere Weisen aber benahmen sich zunächst eben wie fremde Besatzungstruppen. Etwas weiter weg in der Friedrichstraße war die Villa der Frau Else Silberstein, Inhaberin einer großen Kohlenhandlung, mit der Firma Emanuel Friedländer liiert; wir kannten uns gut, sie war mit den Eltern befreundet. Sie war schon lange verwitwet, hatte ein besonders schönes und sehr gastfreies Haus. Die Franzosen beschlagnahmten es, um dort ein Offizierskasino einzurichten. Sie durfte dort bleiben, mußte aber fast das ganze Haus für das Kasino zur Verfügung stellen. Als sich bald Differenzen ergaben, wurde sie ihres Hauses verwiesen und mußte ins Hotel ziehen. Wir waren also verwarnt. In der Tat, sehr bald kamen sie zu uns, um ein Kasino einzurichten. Wir durften bleiben, in einem der vier Wohnzimmer des Erdgeschosses, unsere Köchin durfte zunächst auch in der Küche für uns kochen, aber als der französische Koch ein großes Stück Fleisch ins Feuer warf, weil es ihm nicht gefiel, und sie (es war ja noch große Knappheit bei uns) es retten wollte, wurde sie aus der Küche geworfen und mußte versuchen, für uns in der Waschküche im Dachgeschoß zu kochen. So bekamen wir es also alle gleich wirklich mit, daß wir jetzt unter französischer Besatzung waren. Die große Diele war ihrer Lage nach für die Passage beider Parteien da, also sahen wir viele französische Offiziere. Bald zog das Kasino aber aus, und wir bekamen wieder jeweils einen Offizier als Einquartierung. Oben im Gastzimmer wohnte immer noch der Herr v.Brunn, der nach seiner Demobilisierung eine Stelle beim Berg­ und Hüttenmännischen Verein, der Zentralorganisation der oberschlesischen Schwerindustrie hatte. Ohnehin mußten wir größere Räume, nämlich zwei der Wohnzimmer im Erdgeschoß, Damenzimmer und Salon, für den französischen Offizier hergeben. Das waren dieselben, die auch zu Beginn des Krieges der Oberstleutnant v.d.Mölbe hatte. Diesmal sollte es 1925 werden, bis wir sie wieder selbst bewohnen konnten. Die Vorbereitungen beider Seiten für die Abstimmung waren schon in Gang gekommen. Korfanty wurde zum Chef des polnischen Plebiszitkommissariats mit Sitz in Beuthen ernannt, das deutsche übernahmen nacheinander die Landräte a.D. Urbanek und Dr. Hans Lukaschek. Der Kampf zwischen Deutschen und Polen verschärfte sich, die gegenseitigen Demonstrationen nahmen an Häufigkeit und Hitze zu, all dies drang immer mehr in unseren Alltag ein. Wie schon erwähnt, es gab auf beiden Seiten heimlich bewaffnete Gruppen, auf deutscher gehörten sie zu den Freikorps, die nach der 1918er Revolution sich in Deutschland gebildet hatten. Auf polnischer Seite waren es Gruppen von polnischen Oberschlesiern, von Korfantys Plebiszitkommisariat organisiert, aber auch von Polen infiltrierte Angehörige von Pilsudskis POW. Diese beiden Gruppen waren nicht immer einer Meinung (12). In den deutschen Zeitungen, die wir lasen, stand viel über blutige Gewalttaten der polnischen Gruppen, mit Verschleppungen und manchmal tödlichen Mißhandlungen von Einzelnen, die sich für die deutsche Sache einsetzten. Aber es gab große Gewalttätigkeit auch von der deutschen Seite, voran diesen Freikorps, wofür sie ja auch anderswo in Deutschland einen traurigen Ruhm sich erworben hatten. Als wir Kinder einmal mit unserer Mutter im abseits am Wald gelegenen "Stauweiher" badeten, war dort eine Gruppe junger Deutscher, die provokativ ein Lied der "Brigade Ehrhardt" sangen, mit gewalttätigem antisemitischem Refrain, und der alte Förster mit dem langen anheimelnden Bart, der den Stauweiher beaufsichtigte, er tat nichts gegen sie. Man wußte von ihrer Rolle z.B.in Bayern. Ein anderes deutsches Freikorps, von dem man viel hörte, war die "Orgesch" (Organisation Escherich). Man sah sie auch in den Straßen. Das Bild ist aber nicht vollständig, ohne sich auch zu erinnern, daß sich dies in Oberschlesien ja noch in der Zeit der Nachwehen der 1918er Revolution abspielte. Die oberschlesische Arbeiterschaft blieb auch in sozialistischer Kampfstimmung. Es gab viele Streiks und Protestumzüge. Man sah häufig rote Fahnen. Ein großer Teil der Bergarbeiterschaft war polnisch sprechend, und es gab eine starke polnische sozialistische Partei, die auf der polnischen Seite im Abstimmungskampf sehr prominent und mitverantwortlich war, aber in Arbeitskämpfen mit den deutschen Sozialisten zusammen agierte. Links von diesen gab es auf deutscher Seite damals noch die Unabhängigen Sozialisten, die mit den Spartakustendenzen in Deutschland sympathisierten und daher prosowjetisch waren. Das wurde ein sehr brennendes Thema im Sommer 1920. Beide Seiten warfen sich vor, einen Putsch vorzubereiten, um durch ein "fait accompli" die Abhaltung der Abstimmung hinfällig zu machen. Zu dieser Zeit war die Ostgrenze Polens noch viel mehr umkämpft als im Westen, und Polen hatte, nach längeren Verhandlungsphasen, im April 1920 einen neuen Angriff auf Rußland begonnen, der zunächst zur polnischen Besetzung von Kiew führte. Aber das Blatt wandte sich, und im August standen die Russen vor Warschau. Die Existenz des neuen Polens schien gefährdet. Was mir für immer von diesen Tagen so lebhaft und schrecklich in Erinnerung blieb, war der gewalttätige Mord an dem polnischen Arzt Dr. v.Mielecki, der sich in Kattowitz am 17.August 1920 in nächster Nähe unseres Hauses abspielte. Die unheimliche Brisanz dieses tragischen Vorgangs blieb für mich immer der größte Schock all dieser umstrittenen und blutigen Jahre. Es war uns Kindern gesagt worden, daß große Demonstrationen, größer und vielleicht gefährlicher als bisher angesagt waren, und wir sollten unter keinen Umständen das Haus verlassen. Die Eltern hatten jeder etwas vor, und wir waren allein mit dem Personal. Das Haus hatte ein großes, ganz flaches Dach, das gerade ganz neu mit weißem Kies ausgelegt worden war, und wir hatten dort unerlaubterweise öfters gespielt, bis es uns ganz streng verboten wurde. Man hörte nun am Nachmittag schon Unruhe von der Friedrichstraße, und da mußte man doch schnell aufs Dach. Leute vom elterlichen Haushalt entdeckten uns dort bald, der Tumult war schon so angewachsen, daß einige auch mit uns oben blieben, von unten kamen immer laufende Kommentare, was draußen vor sich ging. Eine tobende Menge hatte sich vor dem Haus der französischen Kommandantur angesammelt. Das war schräg gegenüber dem benachbarten Haus, der früheren Villa Sachs, Ecke Sedan­ und Friedrichstraße. Man hörte Rufe, Schreie, Singen von Liedern, Schüsse, dann wurde berichtet, man habe den Dr. v. Mielecki aus seiner Wohnung gegenüber der Kommandantur geholt (13), er wurde auf der Straße schwer mißhandelt. Dann kam eine Droschke, es hieß, er werde nun weggefahren, tobende Leute aus der Menge folgten der Droschke, an unserem Gartenzaun entlang. Dann hieß es, er sei erschlagen worden. Um unser Haus wurde es langsam ruhiger, aber vor der Kommandantur dauerte der Aufruhr noch für Stunden. Mein Vater kam nach Hause, als wir noch auf dem Dach waren und kam auch dort herauf, ich berichtete ihm sehr aufgeregt, was wir gehört und zum Teil gesehen hatten. Ich habe ihn nie so erschüttert gesehen, er war bleich und sprachlos. Er hatte Dr. v.Mielecki gut gekannt, als Führer der polnischen Stadtverordneten, ein gut angesehener Mann in Kattowitz. Wir wurden nicht einmal ausgeschimpft, daß wir trotz aller Verbote wieder auf dem Dach waren und so das alles aus nächster Nähe hatten miterleben müssen. Es wurde dann gesagt, daß "Orgeschleute" an dem gewaltsamen Verlauf der Protestkundgebung und dem Mord an Dr. v.Mielecki schuldig waren. Die Zusammenhänge waren aber viel komplizierter (14). Es hatte Berichte gegeben, daß die französischen Besatzungstruppen Waffenvorräte und sogar Truppen nach Polen abgezweigt hätten, um der polnischen Regierung in ihrem Kampf gegen die auf Warschau vorrückenden Russen zu helfen. Arbeiterkreise wurden zum Protest dagegen mobilisiert, daß die Franzosen die "Neutralität Oberschlesiens" im polnischen Kampf gegen die Sowjetunion gebrochen hätten. Zu dieser Kundgebung hatten die Gewerkschaften aufgerufen als eine Aktion gegen die französische Besatzungsmacht. Die französische Kommandantur wurde hart bedrängt und mußte sich mit dem Abzug ihrer Truppen aus dem Gebäude und der Stadt einverstanden erklären. Es verhandelten darüber die Gewerkschaftsführer. Aber ganz eindeutige nationalistische Töne hatten die Oberhand gewonnen, mit bekannten deutschen patriotischen, antifranzösischen Schlagworten und Liedern in höchster tumulthafter Erregung, was ganz klar zeigte, daß die Kundgebung, ursprünglich von Sozialisten veranstaltet, von gewalttätigen rechtsradikalen Elementen unterlaufen worden war. Im deutschen Reichstag hatte bereits am 27.Juli der Ostexperte der Deutschnationalen Volkspartei Dr. Hoetzsch erklärt, er persönlich stehe dem russischen Kriegsziel mit voller Sympathie gegenüber (15). Proteste gegen die Franzosen als Mitbesetzer und Forderungen, daß sie abziehen und die Besetzung allein den Engländern und Italienern überlassen sollten, waren schon früher erhoben worden. Diese mündeten nun auch in die Demonstration für die "Neutralität" Oberschlesiens im polnisch­russischen Krieg ein, zu der die Gewerkschaften für ganz Oberschlesien aufriefen, verbunden mit einem Generalstreik. Die Schlesische Arbeiterzeitung, das Parteiblatt der Unabhängigen Sozialdemokraten schreibt am 19.August: "Die blutigen Zusammenstöße in Kattowitz sind ohne Zweifel auf das Verhalten deutscher Nationalisten zurückzuführen, die die proletarische Demonstration gegen den polnischen Eroberungskrieg und für Räterussland in verbrecherischer Weise benutzen, um ihrem Chauvinismus Luft zu machen" (16). Weiter noch ging eine Erklärung des sozialistischen Reichtstagabgeordneten Breitscheid, der, allerdings "unter lebhaftem Widerspruch des Grafen Westarp" mitteilte, den Unabhängigen Sozialisten in Oberschlesien seien von nationalistischen Offizieren ganze Lastautos mit Waffen angeboten worden, wenn sie gegen die Polen und die Entente losgehen wollten (17). Die demokratische "Vossische Zeitung" vom 27.August 1920 schließlich kritisiert die Gewerkschaften, daß sie auf bloße Verdachtsgründe über französische Truppenverschiebungen hin, zu der scharfen Waffe des politischen Generalstreiks griffen, "ohne Fühlungnahme mit der stärksten deutschen Partei, der Katholischen Volkspartei(Zentrum)" (18). Auf der polnischen Seite wurde der Krieg gegen die Sowjetunion hauptsächlich von Pilsudski und seinen Anhängern betrieben, einem ehemaligen Sozialisten, dessen Regime und Parteiungen damals im innerpolnischen Leben Polens als links gerichtet angesehen wurden. Der Aufruf, den das Polnische Plebiszitkommittee nach dem blutigen 17. August erließ, klagt die preußischen Militaristen an, daß sie gemeinsam mit den Sozialisten, Nationalen Bolschewisten und Kommunisten den Plan hatten, sich Oberschlesiens zu bemächtigen (19). Dieser Aufruf war nicht nur unterschrieben von Korfanty, wir finden auch den Namen von J.Biniszkiewicz für die Polnische Sozialistische Partei, Michael Grajek für die polnische Bergarbeitergewerkschaft und mehrerer anderer polnischer Gewerkschaftsführer. Man sieht also, es gab auf beiden Seiten Flügel, deren nationalistischer Eifer viel größer war als ihre vermeintliche Bindung an politische Ideologien. Während bei Ausbruch der Unruhen am 17.August es schon Gerüchte über den Fall Warschaus gab, hatte die Wende durch einen erfolgreichen Gegenangriff Pilsudskis schon begonnen und im Laufe der Woche war sein "Wunder an der Weichsel" komplett, die Russen waren geschlagen und die Polen gewannen damals die ihnen von Rußland bestrittenen Ostprovinzen wieder. In Oberschlesien brach der 2. polnische Aufstand unmittelbar nach den Unruhen des 17.August aus, verschiedene Landkreise waren von den polnischen Aufständischen besetzt. Während in Kattowitz die französischen Truppen hatten abziehen müssen und erst nach 2 Tagen die interallierten Fahnen auf dem Kreiskommando wieder aufziehen konnten, fand nun die deutsche Sicherheitspolizei ihre Position in vielen Teilen des Landes unhaltbar, es wurden Bürgerwehren in vorwiegend polnischen Orten gebildet. Schließlich kam es zu Verhandlungen zwischen den beiden Plebiszitkommissariaten in Beuthen. Von polnischer Seite war es Korfanty, von der deutschen Sanitätsrat Dr. Bloch aus Beuthen, der mit Ulitz für die Deutsche Demokratische Partei im Deutschen Plebiszitausschuß saß. Am 27.August wurde ein Abkommen abgeschlossen, das den polnischen Aufstand beendete, wogegen die deutsche Sicherheitspolizei aus Oberschlesien zurückgezogen werden und durch eine 50/50 deutsch­polnische "Abstimmungspolizei", aus Oberschlesiern gebildet, ersetzt werden sollte (20). Das war eine beträchtliche Veränderung auch für unser tägliches Leben. Die Polizei sollte nun aus zum großen Teil nicht vorgebildeten Kräften bestehen, das Abkommen sah auch Zusammenarbeit bei Beendigung politischen Terrors und Waffenzufuhr vor, aber es litt die normale Verbrechensbekämpfung, und das vertiefte das immer größer werdende Gefühl um sich greifender Auflösung. Es bewegte sich nun Alles auf die Abstimmung am 20.März 1921 zu, mit Kundgebungen, an denen auch Schulklassen teilnahmen, ebenso wie Adressenschreiben im deutschen Plebiszitkommissariat. Die Leitung der Abstimmung in Kattowitz hatte eine dreiköpfige Kommission unter dem französischen "Kreiskontrolleur" mit dem Gewerkschaftssekretär Josef Rymer, nachmaliger Wojewode, als polnischem und meinem Vater als von allen deutschen Parteien ernannten deutschen Vertreter. Wir waren also durch seine Rolle den Vorgängen nahe. Auch alle in Oberschlesien geborenen aber nicht mehr wohnhaften Personen sollten am Geburtsort abstimmungsberechtigt sein, und die ganze Familie kam, die nach Berlin gezogen war, ein unbekannter Verwandter aus München meldete sich auch. Unser Haus war voll von Familienbesuch, und das gab dem Abstimmungstag für uns noch ein besonderes Gepräge. Es waren auch außerhalb der Familie viele alte Bekannte der Familie nach Oberschlesien gekommen. Ich erinnere mich, daß ich die Tante Lucie Hirschel auf einem Spaziergang begleitete. Sie traf eine große Gruppe von Mitgliedern der Cassirer Familie aus Berlin. Sie waren auf dem Rückweg von Rybnik, wo sie herkamen und abgestimmt hatten. Hans Hirschel hatte schon einen Ruf in der Familie als angehender Literat, und ich bat ihn, ein Gedicht zur Abstimmung zu machen, das ich dann vortragen wollte. Das kam aber nicht zustande, und was ich dann vorsang, war von mir, voller Ressentiment gegen Korfanty, und Tante Ida Benjamin, die jüngste Schwester des Vaters, zum Beispiel konnte ihren Abscheu gegen diesen jugendlichen Chauvinismus nicht verbergen. Die Benjamins und Paul Grünfelds waren nur den Tag über da, waren die Nacht über gefahren und fuhren abends wieder nach Berlin zurück, andere Verwandte blieben etwas länger. Aber in der Atmosphäre der Abstimmung war das keine Zeit, ein schönes Wiedersehen mit der Familie zu feiern. Die Abstimmung und auch die Tage und ersten Wochen danach verliefen ruhig. In der Stadt Kattowitz selbst hatten 85% für Verbleib bei Deutschland gestimmt, im Landkreis 55% für Polen, beide zusammengerechnet ergab 51.7% für Deutschland, aber die benachbarten Kreise Pleß und Rybnik hatten, abgesehen von den ja kleineren Städten viel größere Mehrheiten für Polen, während Stadt­und Landkreis Beuthen zusammen gerade 50.3% für Deutschland entschieden. Das oberschlesische Gesamtergebnis war 59.6% für Deutschland. Laut dem Versailler Vertrag (21) sollte für "die als Grenze Deutschlands in Oberschlesien anzunehmende Linie....sowohl der von den Einwohnern ausgedrückte Wunsch, wie auch die geographische und wirtschaftliche Lage der Ortschaften Berücksichtigung" finden. Die Alliierten Mächte, durch ihre Botschafterkonferenz, sollten darüber befinden. Die Abstimmungsergebnisse gaben ein sehr komplexes Bild, der polnische Stimmenanteil, besonders in den südlichen Gebieten, war sehr viel höher als die deutsche Seite erwartet hatte (22). Alles deutete nun darauf hin, das es zu einer Teilung Oberschlesiens kommen würde. Von deutscher Seite wurden aus Oberschlesien im April Delegationen nach England, Frankreich und Italien gesandt, "um einflußreiche politische Kreise zuverlässig zu unterrichten" (23). Mein Vater gehörte der vierköpfigen Delegation nach Italien an. Sie bestand außerdem aus Pfarrer Ulitzka aus Ratibor, Reichstagsabgeordneter der katholischen Zentrumspartei, in der er später sehr prominent wurde, dem Generaldirektor Pistorius der Fürstlich Plessischen Bergwerksdirektion Kattowitz, wo er auch stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher gewesen war, und dem sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretär Franz. Warum der Vater in den aufgeregten Zeiten nach der Abstimmung wegfuhr, wurde uns natürlich ausführlich erklärt, und so erinnere ich mich auch, daß er eine Einführung an den Chef der Banca Commerciale in Milan, Toeplitz, hatte, der damals ziemlich bekannt war. Als Vertreter der Deutschen Demokratischen Partei war Vater wohl allgemein für Kontakte mit den damals einflußreichen "laizistischen" Parteien zuständig, er war ja auch Freimaurer. So kam es denn auch, daß unser Vater nicht da war, als am 3.Mai der große 3.polnische Aufstand ausbrach. Das wurde nun für unsere Jugend eine weitere Bekanntschaft mit Gewalt, Gefahr und der Ungewißheit, was die nächste Stunde, geschweige denn die weitere Zukunft bringen würde. Die Umgebung der Stadt war sofort in den Händen der Aufständischen, als wir am 3.Mai aufwachten. Der Chauffeur, mit dem deutschen Namen Adler, der bei uns im Haus wohnte, war fort mit dem Hausschlüssel, es stellte sich heraus, daß er sich den Aufständischen angeschlossen hatte. Draußen in Karbowa waren auch die Aufständischen, ein guter Geist für die Familie, der Portier des Werks Theodor Walla, hielt die Verbindung aufrecht; manchmal bekamen wir Gemüse, aber sein ältester Sohn Heinrich hatte sich auch den Aufständischen angeschlossen. Das war eben Oberschlesien. Der Aufstand war gut organisiert und vorbereitet mit Hilfe und starkem Zuzug von der POW aus Polen, aber der Stamm der Aufständischen waren eben polnische Oberschlesier. Es ging rücksichtslos und zum Teil grausam zu. Die Stadt war wie belagert, aber es bestand hier und in anderen Städten eine Art modus vivendi der Aufständischen mit den alliierten Besatzungstruppen, daß die Städte selber nicht angegriffen oder von den Aufständischen besetzt werden sollten. Aber bei uns war dieser Ring sehr eng, und es wurde viel und auch in die Stadt hineingeschossen, vor allem nachts. Unser großer Garten hinter dem Haus grenzte an die Rawa; dahinter waren Bruchfelder, eine Art Niemandsland, auf der anderen Seit gehörte die Ferdinandgrube schon den Aufständischen. Auch von dort wurde manchmal geschossen. Zuerst durften wir überhaupt nicht mehr in den Garten, dann zeitweise, aber wenn man anfing, Schüsse zu hören, mußten wir sofort ins Haus. Aber man weiß ja, wie das ist. Wenn die Risiken über eine Zeit andauern, dann wird man abgestumpft und fängt an, sie leichter zu nehmen. Schlimm war, daß nachdem nachts ganz systematisch für einige Zeit geschossen wurde, man am nächsten Tag las, daß Kinder in ihren Betten erschossen worden waren, auch von derselben Seite her, auf die unser Garten ging. Wir hatten ja noch immer französische Einquartierung und zwar seit einiger Zeit den französischen Platzkommandanten Colonel Ardisson, der auch noch seine Frau und zeitweise den erwachsenen Sohn und die Tochter hatte nachkommen lassen. Der Herr v. Brunn war schon ausgezogen, und so hatten wir Platz genug. Natürlich empfand man die französische Besatzung als einen gewissen Schutz, aber man wußte doch nie, was der nächste Tag bringen konnte. Von der Ferdinandgrube war es kaum mehr als fünf Minuten zu Fuß und einen Sprung über die kleine Rawa bis zu unserem Garten, und überhaupt wer wußte, wie lange der Waffenstillstand über Nichtbesetzung der Städte anhalten würde. Im Industriegebiet waren die Landkreise alle in den Händen der Aufständischen. Eisenbahn­ und Straßenverkehr waren praktisch lahmgelegt, die Aufständischen bildeten ad hoc Verwaltungen dafür, auch ein interalliierter Zug, der täglich von Kattowitz nach Oppeln und zurück ging, konnte nur mit ihrer Erlaubnis benutzt werden. Unser Vater war unterdessen von Italien wieder nach Breslau und auch bis Oppeln gekommen, durfte aber nicht nach Hause kommen. Nach einiger Zeit konnte er aber für uns eine Genehmigung "zur Ausreise" arrangieren, und so fuhren Mutter, wir drei Kinder und Else Jeppesen mit dem interalliierten Zug nach Oppeln. Diese Reise war natürlich eine ziemliche Aufregung. Man wußte von Einigen, die sie gemacht hatten, aber erst kurz vorher war zum Beispiel der Pastor Voss von den Aufständischen aus dem Zug geholt, allerdings dann nach einem Verhör wieder freigelassen worden. Bei uns aber ging es ohne Zwischenfall. Wir wurden dann nach einem Besuch in Breslau im Riesengebirge in Krummhübel für die nächsten Monate "parkiert", aber Vater war vorwiegend in Breslau und Oppeln. Natürlich war es sehr schön so lange im Riesengebirge zu sein, wir hatten es schon im Vorjahr bei einem kürzeren Ferienaufenthalt in Brückenberg kennengelernt, aber diesmal war doch alles von so großer Unsicherheit über die Zukunft umwittert. Die Verwandtschaft in Berlin plädierte stark mit Vater, daß er den Familienbesitz in Kattowitz verkaufen und nach Deutschland ziehen sollte. Onkel Felix Benjamin war im Aufsichtsrat der Lübecker Hütte, an der Rawack & Grünfeld damals maßgeblich beteiligt waren, und schlug vor, daß Vater die Leitung von deren Zementfabrik übernehmen sollte und wir nach Lübeck übersiedeln würden. Bei all dem blieb aber doch im Vordergrund die Sorge, wie es wohl zu Hause aussieht. Man hörte und konnte sich vorstellen, die Not und Versorgungsknappheit in der "belagerten aber nicht angegriffenen Festung Kattowitz" war ganz schlimm geworden. Es wurde ein besonders heißer und trockener Sommer, und rund um die Stadt brachen große, verheerende Waldbrände aus. Als wir nach Beendigung des Aufstandes im Juli zurückkehrten, war das Bild der Umgebung südlich nach Pleß hin zunächst vollkommen verändert und trug noch weiter bei zu der Trostlosigkeit der Situation und Stimmung. Der 3.polnische Aufstand hatte zu einem Wiedereinmarsch der deutschen Freikorps nach Oberschlesien geführt, die nach dem 2.Aufstand sich samt ihren Waffen hatten zurückziehen müssen. In einer Kampfhandlung am Annaberg am 21.Mai wurde ein Sieg über Kräfte der Aufständischen errungen, und auf deutscher Seite sah man das als die Wende an, die schließlich zur Beendigung des polnischen Aufstands, offiziell am 1. Juli, führte. Die Vorgänge gelten aber als zu kompliziert für solche Beurteilung (24). Die Engländer wandten sich gegen die polnischen Versuche, durch den Aufstand die für das weitere Schicksal Oberschlesiens ausstehende Entscheidung der Alliierten Botschafterkonferenz in Paris zugunsten Polens zu forcieren, und drohten, englische Truppen zur Unterstützung der französisch/italienischen Besatzungen zu senden. Zu Hause war das Leben wieder mehr im gewohnten Gleis, aber die Unsicherheit über die bevorstehende Entscheidung der alliierten Botschafterkonferenz über Oberschlesien beherrschte die Stimmung. Unsere "Hausbesatzung", der Colonel Ardisson schien wieder in Kontrolle der Stadt als Platzkommandant, seine Familie war nach Frankreich zurückgekehrt. So hatten wir wenigstens wieder Verfügung über das Gastzimmer im oberen Stock. Das war gut, denn am 2. Oktober kam mein 13. Geburtstag und damit meine Barmitzwah, und es wurde dazu Familienbesuch erwartet. Ich sollte ein Jahr vorher mit Vorbereitungsstunden anfangen und die hatte ich beim Lehrer Willner, den ich sehr gern hatte. Er war einerseits ein jüdischer Gelehrter, aber auch preußischer Volksschullehrer mit großer Allgemeinbildung. Abgesehen von hebräischer Schrift und Sprache galt der Unterricht auch Grundkenntnissen in jüdischen Bräuchen und Gesetzen. Die Zeit von einem Jahr war knapp bemessen, und da von Mai bis August wegen des polnischen Aufstands die Stunden wegfielen, blieb meine Kenntnis der hebräischen Sprache sogar noch viel mangelhafter als vorauszusehen war. Ich hatte diese Stunden mit großen Erwartungen begonnen, sie gaben meiner Anhänglichkeit an jüdische Religion und damit auch jüdische Geschichtsverbundenheit mehr Substanz. Die Barmitzwah Zeremonie blieb eine gewichtige Erinnerung. Sogar die Mutter kam in die Synagoge. Der Onkel Max Grünfeld aus Berlin als Miterbauer der Synagoge und für den architektonischen Entwurf damals verantwortlich wurde als Dritter zur Thora aufgerufen. Zu Hause kamen dann sehr viele Gratulanten, auch einige noch sehr fromme entferntere Verwandte, mit denen wir sonst kaum Kontakt hatten. Nachmittags waren auch meine Freunde eingeladen. Ich bekam, neben anderen Geschenken, sehr viel Bücher, Grundlage einer noch wachsenden, recht vielfältigen Bibliothek, die ich dann bei Ausbruch des 2. Weltkriegs mit einem Schlag mit soviel anderem verlieren sollte. Kapitel 4 Kattowitz kommt zu Polen Die Botschafterkonferenz hatte zunächst keine Einigung über die Zukunft Oberschlesiens erreicht und im August den Völkerbundsrat um ein Gutachten gebeten. Es handelte sich dabei natürlich nicht nur um eine möglichst gerechte Auswertung der lokal so buntgewürfelten Abstimmungsergebnisse, sondern auch um wirtschaftliche und geographische Argumente, nachdem wohl von Anfang an die Möglichkeit einer Teilung nicht ausgeschlossen worden war. Den Abstimmungsresultaten nach wurde bald als gegeben angenommen, daß die Kreise Rybnik und Pleß zu Polen kommen würden. Sie allein hätten Polen wichtige Kohlegruben und ­vorkommen gegeben, aber nichts von der Eisen­ und Stahlindustrie oder Zinkhütten. Es wurde aber auch von einer Abrundung durch einen Teil des Kreises Kattowitz gesprochen, wo der Landkreis eine polnische Mehrheit gebracht hatte, wodurch beides für Polen dazu kommen würde. Die Engländer und im Allgemeinen auch die Italiener waren gegen eine Teilung des Industriegebiets oder seine Abtrennung von Deutschland, von der man annahm, daß es die Wirtschaftskraft des Gebiets schwächen würde, und auch Deutschlands Möglichkeiten, die ihm in Versailles auferlegten Reparationen zu bezahlen. Die Polen besaßen eine Kohle­ und Stahlindustrie im östlich an Oberschlesien angrenzenden Dombrowaer Gebiet, wo französisches Kapital stark beteiligt war. Die Franzosen waren vor allem an einem auch wirtschaftlich starken Polen an der deutschen Ostgrenze interessiert. Basierend auf den Empfehlungen des Völkerbundsrats beschloß die Botschafterkonferenz am 20.Oktober 1921 einen Teilungsplan, in dem Polen auch der ganze Kreis Kattowitz und ein Teil des Kreises Beuthen zugesprochen wurden. Die beiden großen Industriestädte Kattowitz und Königshütte, die mit großen Mehrheiten für Deutschland gestimmt hatten, sollten also zu Polen kommen und wirtschaftlich weit mehr als die Hälfte der Kohleproduktion und der Hochöfen, die Hälfte der Stahlwerke, fast die ganze Zinkindustrie. Das Industriegebiet sollte mitten durchgeschnitten werden, mit seinem dichten Eisenbahn­ und Straßenbahnnetz, Wasser­ und Stromversorgung, ja auch unter Grund wurden Gruben durchschnitten, mit einem Schacht auf der polnischen und einem anderen auf deutscher Seite. Die praktischen Probleme waren enorm, für die menschlichen wurde vorgesehen, daß beide Teile ein Minderheitenschutzabkommen abschließen würden, um die Rechte der sprachlichen Minderheiten zu schützen. Das junge Polen hatte ein solches Abkommen mit den Alliierten Mächten in Versailles am 28.Juni 1919 zum Schutz seiner verschiedenen Minderheiten abschließen müssen, und es wurde ihm nun auferlegt, dies entsprechend auf die neu entstehende deutsche Minderheit in dem polnisch werdenden Teil Oberschlesiens auszudehnen, während Deutschland gehalten wurde, ein entsprechendes Abkommen für die polnische Minderheit im deutsch bleibenden Teil Oberschlesiens zu schließen. Es war nur wenige Tage nach meiner Barmitzwah, daß diese Entscheidungen bekannt wurden und eine ganz neue Situation schufen. Mit der Ungewißheit hatte man ja schon drei Jahre gelebt. Nun war der gordische Knoten durchhauen, es kam etwas ganz Neues auf einen zu. Vater war schon in den Wochen davor in viele Sitzungen und Gespräche zur Lage verwickelt, nun wurden sie für die Stimmung beherrschend. Die Ideen vom frühen Sommer während des polnischen Aufstands, daß man eventuell weggehen würde, waren ganz verflogen. Unter den ansäßigen Deutschen verbreitete sich die Stimmung, daß man sich mit der neuen Situation abfinden und eben auf ein Leben als deutsche Minderheit im polnischen Teil Oberschlesiens und damit im polnischen Staat einrichten müsse. Durch die Auflage eines Minderheitenschutzabkommens, das nun eifrig ausgearbeitet und dann auch am 22.Mai 1922 in Genf unterzeichnet wurde, war man ja ganz klar so angesprochen. Es gehörte dazu, daß die Vertreter der deutschen Seite im Polen zugesprochenen Teil Oberschlesiens sich nun zusammentun und ihre eigenen Reaktionen und Ideen zu ihrer zukünftigen Haltung ausarbeiten und aussprechen mußten. Dazu gehörte auch die ehrlich gemeinte Zusicherung der Loyalität für die neue staatliche Souveränität, und das Alles geboren aus einem Heimatgefühl, daß nämlich, was aufgebaut und erworben war, nicht zu Grunde gehen, sondern weiter gedeihen sollte. Es liegen darüber mannigfache Äußerungen von maßgebenden deutschen Funktionären aus dem polnisch werdenden Teil von der Zeit nach der Entscheidung vor. Deutlich erinnere ich mich, daß mein Vater von einer Sitzung in Beuthen oder Gleiwitz schon kurz nach der Entscheidung nach Hause kam und sehr erregt erzählte, ein aus Berlin anwesender Minister hätte gesagt, was die künftige deutsche Politik zu dem abzutretenden Teil anbelangt, wären doch wohl Alle mit der in Berlin herrschenden Auffassung einig: "abschnüren und vernichten". Ich nehme an, daß es eine Sitzung der Deutschen Demokratischen Partei Oberschlesiens war. Auf Provinzebene waren Sanitätsrat Bloch in Beuthen und Justizrat Kochmann in Gleiwitz, der auch im preußischen Landtag saß, prominenter gewesen, für das Gebiet des künftigen Polnisch­Oberschlesiens aber war mein Vater wohl nun der führende Exponent geworden. Er hatte diesem Reichsminister sehr scharf widersprochen, und ich habe ihn selten so erregt gesehen, wie er uns darüber erzählte. Für die Deutschen im künftigen Polnisch­Ober­schlesien mußte es andere Wege des Denkens in ihrer neuen Situation geben. Es brachte sie in die Linie des Denkens der nationalen Minderheitenbewegung, die sich in Europa nach dem ersten Weltkrieg entwickelte. Mich haben diese neuen Begriffe und Vorstellungen auch später im Zusammenhang mit manchen anderen Problemen des 20. Jahrhunderts immer wieder sehr interessiert. Der Übergang des Gebiets an Polen sollte durch einen feierlichen Einzug der polnischen Truppen in Kattowitz am 20.Juni 1922 vollzogen werden. In der Zwischenzeit hatte es zunehmende Zeichen von Auflösungsstimmung gegeben, Beamte gingen weg, Behörden waren im Übergang, wir merkten das auch in der Schule. Laut Genfer Abkommen mußte der polnische Staat auch deutsche Minderheitsschulen unterhalten. Unser Gymnasium sollte das neue staatliche Gymnasium sein, ein großer Teil des bisherigen Bestands seine Minderheitsabteilung. Viele der Lehrer wollten weg nach Deutschland gehen, doch einige, vor allem jüngere, waren bereit zu bleiben. Man wußte noch nichts Genaues. Als das letzte Abitur um Ostern abgehalten war, wozu auch der Oberschulrat aus der bisherigen Provinzhauptstadt Oppeln kam, konnte man fühlen, daß der traditionelle Bierabend der Lehrer mit den Abiturienten auch eine Art Abschiedsfeier für den Lehrkörper wird. Als wir Jüngeren am nächsten Morgen in die Schule kamen, waren nur wenige Lehrer da, man sah die Meisten herumwanken, kaum einer konnte ganz grade stehen. Die Schule fiel aus, wir wurden nach Hause geschickt. Es war gewiß auch ganz komisch, aber eigentlich war es niederschmetternd. Das Gefühl der Auflösung nahm übergroße Proportionen an. Die polnische Regierung bestimmte den General Stanislaw Szeptycki zur Führung des feierlichen Einzugs der polnischen Truppen. Sein Name war uns damals neu, aber bald danach wurde er zeitweilig polnischer Kriegsminister, also mußte er ein prominentes Mitglied der polnischen Generalität sein. Der Name der Familie ist unterdeß bekannter geworden, eine ostgalizische Adelsfamilie, die starke Bindungen an die dortige westukrainische Bevölkerung hatte. Sein Bruder Andrzej wurde Metropolit der mit Rom Uniierten Slawisch­Orthodoxen Kirche (1). Der General selber hatte im 1.Weltkrieg große Erfolge im Kampf gegen russische Truppen im östlichen Polen errungen, er war zum österreichischen General gemacht worden, hatte mit Pilsudski zusammengearbeitet. Es kam also jemand wirklich von der ganz anderen Seite Polens. Der Gewerkschaftssekretär Josef Rymer, zum ersten Wojewoden der neuen Wojewodschaft Schlesien mit Sitz in Kattowitz, von nun an Katowice, ernannt, begrüßte den General mit seinen Truppen an der schlesischen Grenze bei Schoppinitz. An der Stadtgrenze sollte der neue Oberbürgermeister Gornik, ein oberschlesischer Pole, ihn zusammen mit dem deutschen Stadtverordnetenvorsteher Dr. Reichele begrüßen. Von unserem Balkon aus konnten wir ihn in einer Droschke allein auf seiner einsamen Fahrt zur Stadtgrenze vorbeifahren sehen. Er hatte, da er erst so kurz im Amt war, meinen Vater gebeten, es doch mit ihm zusammen zu tun, aber mein Vater entzog sich dem. Er sollte den General ohnehin noch treffen. Da der Colonel Ardisson schon weg war, wurde der General bei uns einquartiert. Er machte bald einen formellen Höflichkeitsbesuch. Wie schon oft bei den französischen Offizieren wollte mein Vater auch damals, daß ich dabei bin. Ich erinnere mich nur, daß zuerst einige etwas verlegene Worte waren, wie man sprechen sollte, und die Unterhaltung spielte sich dann auf Französisch ab. Sonst bestand für uns sein kurzer Aufenthalt nur aus gelegentlichem Zunicken, aber dann kam ein Schock, er erschien plötzlich mit einem kleinen Foxterrier. Mein Gott, seufzte meine Mutter, die schönen Salonmöbel, sie waren mit Damast bezogen. Aber der General fuhr bald ab, ohne größeren Schaden anzurichten. Die beiden Wohnzimmer wurden aber nicht freigegeben. Wir bekamen als zivile Einquartierung den neuen polnischen Präsidenten der Eisenbahndirektion Sikorski, der noch einige Jahre dort wohnte, ein sehr ruhiger Mitbewohner, er blieb praktisch ohne jeden Kontakt mit uns. Der größte Wechsel kam für uns Jungen, als die Schule wieder anfing. Der neue polnische Direktor beider Abteilungen hieß Wolff. Die meisten der bisherigen Schüler wollten in die deutsche Minderheitsabteilung gehen. Die Meldungen für die polnische Abteilung waren vorerst kleiner, der Zuzug polnischer Beamten und anderer Familien entwickelte sich erst. Herr Wolff verfügte, daß alle Jungen mit polnischen oder polnisch klingenden Namen in die polnische Abteilung übergehen müßten, und er kam selbst, um uns einzuteilen. Es entstand Verwirrung und Aufruhr. Die meisten der so betroffenen konnten kein Wort polnisch sprechen, und so gab es lange Gesichter in beiden Abteilungen, und es gab wohl sofort Protestschritte des Deutschen Volksbunds, der der Genfer Konvention nach zum Schutz der Minderheitenrechte auftreten sollte. Diese Frage, wer zur deutschen Minderheit gehörte und wer nicht, brachte sehr klar ein Problem und einen Gefahrenpunkt des ganzen Konzepts der Minderheitsrechte für Volksgruppen zum Vorschein. Hier wurde also von deutscher Seite darauf bestanden, daß die Zugehörigkeit zur Minderheit eine Sache freier Wahl, als des "Bekenntnisses" sein muß. Die Erinnerung an dieses Jugenderlebnis erweckt bei mir eine ganze Reihe weiterer Gedanken. Schließlich standen da bei uns in der Untertertia unsere Mitschüler, ein guter Teil von ihnen, und Herr Wolff wollte ihnen nicht mehr erlauben, weiter in die deutsche Schule zu gehen. Die Freiheit, die er für sich selbst als polnischer Gymnasialdirektor mit deutschem Familiennamen nahm, wollte er unseren Mitschülern aus Familien mit polnischem Namen, aber oft wohl schon seit Generationen deutschsprachig, nicht zuerkennen. Die Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zu einer Minderheit habe ich immer als sehr entscheidend empfunden. Es entspricht wichtigen liberalen Grundsätzen. Die Forderung nach autonomer Verwaltung für Minderheiten, jedenfalls auf kulturellem Gebiet, wurde ein zentraler Punkt der Minderheitenbewegung in Europa, aber ich fand sie nur vertretbar, wenn das auf freiwilliger Assoziation beruhte. Menschen zwangsweise in solche Kompartments einzuordnen, würde neue Elemente von Unfreiheit einführen. Daß die deutsche Seite und dann auch die Führung der Minderheitenbewegung dieses Bekenntnisprinzip vertrat, war ja eigentlich ein Abrücken vom strikten Sinn völkischer Denkweise. Die Konzeption des Nationalen war eben tatsächlich vielmehr verwandt mit dem Begriff der Kulturkreise, um den Geist von Arnold Toynbee zu berufen. Dieser aber relativiert gleichzeitig die Nationale Idee und bringt einen so zu einer Annäherung an europäische Wirklichkeit zurück. Man liest oft über anscheinend bedauernswerte Gebilde: Vielvölker­ oder Gemischtvölkerstaaten, so die alte Donaumonarchie, ja in deutscher Sicht, dann die 1918 entstandene Tschechoslowakei. Genealogisch gesehen waren es ja auch weite Gebiete Ostdeutschlands, mehr als man davon Kenntnis genommen hatte. Da war nichts bedauernswertes daran, wenn man nicht inkongruente völkische Ideologien dahinein brachte. Ich glaube, es hat in der Minderheitenbewegung auch manche liberale Kräfte gegeben, die Sinn hatten für die europäische Bedeutung und liberale Grundnote der Sache. Aber es gab wohl auf deutscher Seite auch Viele, die das Bekenntnisprinzip in Sachen Nationalität hochhielten, weil das für den Besitzstand der deutschen Volksgruppe z. B. in Polen zahlenmäßig so wichtig war. Man sieht wieder, wenn es um klare Interessenlage ging, hier gar nicht wirtschaftliche, sondern einfach Macht­ und Bedeutungsinteressen der Volksgruppe, da verschwanden Ideologien in den Hintergrund. Dann blieb nur noch der Antisemitismus als Kaffeesatz der völkischen Idee. Die Qual meiner Untertertia Schulkameraden war bald vorüber, ja es entbehrte nicht einer gewissen komischen Wirkung, als sie so schnell wieder in unsere Klasse zurück durften und das normale Schulleben unter dem neuen Regime begann. Dieser Vorfall war beigelegt. Auf längere Sicht waren aber die Polonisierungsmaßnahmen auf anderen Wegen erfolgreicher. Nach einiger Zeit gab es auch in der Stadt Kattowitz eine polnische Bevölkerungsmehrheit. 1932 war die deutsche Minderheitenabteilung des staatlichen Gymnasiums schon viel kleiner geworden, schließlich wurde sie geschlossen, und es gab dann nur noch ein deutsches Privatgymnasium. Der Direktor Wolff blieb nicht lange, unser nächster polnische Direktor hieß Steuer, und unter ihm habe ich noch 1926 dort mein Abitur gemacht. Kurz nachdem wir in Kattowitz die Übergabe an Polen erlebt hatten, wurde in Berlin der damalige deutsche Reichsaußenminister Walter Rathenau ermordet. Für uns waren und blieben die Ereignisse in Deutschland immer noch ganz hautnah. Das Berliner Tageblatt und die Breslauer Zeitung kamen weiter jeden Tag, und dazu kam noch die Ostdeutsche Morgenpost aus Beuthen, denn man mußte ja auch mit dem deutschgebliebenen Teil Oberschlesiens Kontakt behalten, und sie kam früh morgens am selben Tag. Die Erregung dieser Tage in Deutschland erlebten wir sehr stark mit. Man erinnerte sich an die Ermordung des katholischen Finanzministers Mathias Erzberger im August 1920, auch durch rechtsradikale Freischärler. Rathenau war Jude, er war für mich als 14jährigen etwas wie ein Idol geworden, ich hatte einige seiner Bücher gelesen. Es war die menschliche Tragödie dieses Mordes an Rathenau, und eben auch das Licht, das da auf die Turbulenz der Lage in der jungen Weimarer Republik fiel, für die es dann mit vernichtender Inflation, französischer Ruhrbesetzung und dem Hitlerputsch November 1923 kaum eine Atempause gab. Dieser Hitlerputsch damals war aber ein theatralischer Fehlschlag. Die Republik hatte doch schon Muskeln, eine Regierung der Großen Koalition (Deutsche Volkspartei, Zentrum, Demokraten und Sozialdemokraten) unter Stresemann war am erfolgreichsten mit der Konsolidierung, unterstützt vom Erfolg der Schacht'schen Währungsreform. Nicht nur wegen politischen Geschehens, sondern vor allem auf kulturellem Gebiet war man, auch nach der Abtretung Ostoberschlesiens, mit dem Leben in Deutschland weiter stark verbunden. Für uns heranwachsende Jungen blieben auch die Ideen der Jugendbewegung in Deutschland, des Wandervogels, eine Anziehung. Wandervögelbünde selber hatten sich in Kattowitz nicht so entwickelt während der Zeit der Besetzung und politischen Kämpfe. Es gab aber eine Gruppe des jüdischen Jugendbundes "Kameraden", und einige meiner Schulfreunde gehörten dazu. Es war ein nichtzionistischer Bund. Beide Eltern widersetzten sich meinen sehr dringenden Wünschen, da auch beizutreten, ich sollte stattdessen in den "Alten Turnverein" gehen, der mich gar nicht begeisterte, und den ich bald verließ. Bedeutsam wurde, daß ich mit einigen Freunden, meist aus der nächst höheren Klasse, zu einem Lesezirkel gehörte, in dem gelesen, aber auch viel diskutiert wurde. Es waren Klassiker und zeitgenössische Literatur und eben manches, das mit der Jugendbewegung zusammenhing, und wir hatten einige der Zeitschriften der Jugendbewegung. Wir trafen uns abwechselnd zu Hause. Einige der "Kameraden"­Mitglieder spielten auch eine Rolle, so Manfred Danziger, und von anderer Seite erinnere ich mich besonders an den alten Freund Karl­Heinz Lubowski und an Wolfgang Juretzek. Zu den starken Anregungen in Richtung Jugendbewegung gehörte auch für mich ein Besuch bei uns zu Hause von Dr. Rudolf Trevenfels aus Breslau. Das war eigentlich eine Familienfreundschaft, er war zehn Jahre älter, aber noch ganz erfüllt mit solchen und anderen Ideen und hatte viele enge Kontakte mit einigen Schlüsselfiguren aus dieser Welt (2). Auch das kulturelle Umfeld blieb für uns eigentlich ganz unverändert und weiter sehr reich und aktiv. Das Stadt­Theater wurde nun zwischen deutschem und polnischem Theater geteilt, an den der neugebildeten Deutschen Theatergemeinde zustehenden Tagen wurde es von der ebenfalls neuentstehenden Landesbühne aus dem deutschgebliebenen Oberschlesien "bespielt". Das war dann doch eine sehr starke, auf den ganzen Industriebezirk sich stützende Unternehmung, und es gab ein interessantes Programm und Kräfte. Die Theatergemeinde, in der Rosa Speier bald eine führende Rolle übernahm, veranstaltete auch in mehreren Jahren jeweils für einige Wochen Gastspiele der Wiener Volksoper. Bis dahin hatte ich Opern nur bei Besuchen bei den Großeltern in Breslau erlebt, jetzt wurden es ganze wochenlange Festspiele, mit uns besonders verknüpft, weil mehrmals Künstler der Wiener Volksoper bei uns wohnten. Auch wurde der Meister'sche Gesangsverein für einige Opern zu Chorszenen hinzugezogen, und dann konnte ich meine Mutter auch verkleidet auf der Bühne sehen. Überhaupt wurde der Meister'sche Gesangverein eine große Quelle musikalischen Miterlebens. Ich trat dem Chor zwar nie bei, kaum einer von uns, die dann zum Studium weggingen, tat es, aber aus Chorwerken und Opern spielte ich im Klavierauszug vor und nachher, und für die Aufführungen kamen Solisten, von denen jemand bei uns wohnte, ebenso für Solistenkonzerte, Pianisten, Violinisten, Kammermusik­ und Gesang. So hatten wir im Laufe der zwanziger Jahre viele sehr bekannte Künstler, die bei uns als Gäste wohnten. Unverändert machten wir auch die regelmäßigen Besuche bei den Großeltern in Breslau. Es gab auch ganz spezielle Gelegenheiten, den 70. Geburtstag der Großmutter, 80. des Großvaters und ihre Goldene Hochzeit, mit einem großen Abendessen im Hotel Monopol, eine selten schöne und sehr große Familienfeier. Wir drei Kinder spielten ein von Rosa Speier in Form eines kleinen Theaterstücks verfaßtes, langes Gedicht. Es gab viele brilliante Reden. Besonders erinnere ich mich an die Damenrede des zur nahen Bernstein Familie gehörigen Herrn Jakobowitz, er war, die Brust mit Orden übersät, ein Kampfflieger im 1.Weltkrieg gewesen. Meine Großeltern waren unterdessen in eine viel kleinere Wohnung gezogen, der Großvater war nicht mehr so aktiv und prominent im bürgerlichen Leben Breslaus, aber zu den morgendlichen Gratulationskuren bei diesen Festen kamen immer der Oberbürgermeister Wagner, sein Stellvertreter Tiktin, der auch für die in Breslau bekannte "Gesellschaft der Freunde" kam, deren Direktor mein Großvater für über 25 Jahre gewesen war, der Oberrabbiner Dr. Vogelstein und immer auch der Geheimrat Pfeiffer, unter dem der Sohn Oettinger an der Universität gearbeitet und gelehrt hatte. Bis ins hohe Alter blieb der Großvater geistig rege und sehr interessiert und nahm an seinem Stammtisch im Café Fahrig teil. Er gehörte aber zu denen, die die Inflation schlecht überstanden, fast das ganze Vermögen war in Staatspapieren angelegt, und er war danach auf die Unterstützung seiner Kinder angewiesen. Er starb Mitte der zwanziger Jahre. Ich fuhr mit zur Beerdigung. Es rührte mich, meiner Mutter zu kondolieren und sie am Grab ihres Vaters zu sehen, es war ein neuer Eindruck. Ich selbst habe ja dann während des 2.Weltkriegs und danach nie an den Gräbern meiner Eltern stehen können. Nach der Beerdigung des Großvaters wurde mir auf dem Friedhof in Breslau auch das Grab meines Urgroßvaters Dr. Albert Oettinger gezeigt. Die Schulzeit von Untertertia an brachte natürlich auch ein zunehmendes Maß von Bekanntschaft mit polnischen Dingen. Polnisch als Sprache gab es zunächst nur zweimal die Woche. Die Regierung fand erst, die Deutschen sollten gar nicht polnisch lernen, sondern weggehen, aber das änderte sich im Lauf der Jahre. Natürlich interessierte einen bald, etwas über polnische Geschichte, ja auch Literatur zu hören, und das spielte dann auch eine zunehmende Rolle im Unterricht auch in der deutschen Minderheitabteilung, und man fuhr nach Krakau zu den sehr schönen Sehenswürdigkeiten aus polnischer Vergangenheit. Die polnische Politik dieser frühen zwanziger Jahre nahm auch einen sehr turbulenten Verlauf. Es gab immer wieder die scharfen Spannungen zwischen Ost­ und Westschwergewicht, einst durch den Gegensatz Pilsudski­Dmowski gekennzeichnet, es war auch einer zwischen rechts und links, klerikal und nicht so klerikal, die Spaltung zwischen klerikal und laizistisch in anderen katholischen Ländern widerspiegelnd. Es ging gewaltätig zu, auch mit Putschversuchen. Die Rechte hatte 1922 einen Wahlvorteil errungen, und Pilsudski trat als Staatspräsident zurück; als Nachfolger wurde Dr. Narutowicz, der linkeren Bauernpartei und auch Pilsudski nahestehend, gewählt, aber er wurde schon bald im Dezember 1922 ermordet, nur wenige Monate nach dem Mord an Rathenau in Deutschland. Als Einführung zu regelmäßiger Anteilnahme an politischen Entwicklungen in Polen war das ein beunruhigendes Erlebnis. Wirtschaftlich war Polen auch schweren Finanz­ und Inflationswirren ausgesetzt, hatte dann aber unter Führung von Grabski von Ende 1923 bis 1925 eine nichtparlamentarische "Experten"regierung mit besserer Stabilität. Auch in Polnisch­Oberschlesien entwickelte sich die Industrie zunächst bis 1925 ganz hoffnungsvoll. Das Baugeschäft des Vaters hatte auch aktive Zeiten. Abgesehen vom Regierungssektor hatte Kattowitz ja durch die Teilung Oberschlesiens auch als industrielles Verwaltungszentrum noch an Bedeutung gewonnen, und es war in der Nachkriegszeit ohnehin schon an Wohnungsbau einiges nachzuholen. Mein Onkel Max Grünfeld schied aus der Firma aus und ging in Ruhestand. Der große Hausbesitz in Berlin hatte in der Inflationszeit verkauft werden müssen. Die politische Lage und Spannungen in Polnisch­Oberschlesien aber wechselten, und das war nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich bedingt. Es gab etwas in Oberschlesien, was man als "schwebendes Volkstum" bezeichnet hat (3). Ein Teil der damaligen oberschlesischen Bevölkerung fühlte sich auch bei polnisch­oberschlesischer Umgangssprache politisch nicht so festgeschrieben. Die wirtschaftliche Lage konnte dadurch auch Stimmverhältnisse zwischen deutschen und polnischen Parteien leicht beeinflussen, wie sie eben beeinflußt werden, wenn Wähler wirtschaftlich unzufrieden und geneigt sind, die bestehende Regierung dafür verantwortlich zu machen. In den ersten Wahlen zum Schlesischen Sejm hatten die polnischen Parteien gut abgeschnitten. In Kattowitz selbst blieb aber die Mehrheit deutsch. Die Regierung löste das Stadtparlament auf und die Stadt wurde für zwei Jahre kommissarisch regiert. Die wirtschaftlichen Verhältnisse hatten sich 1925 in Polen verschlechtert, der Regierung Grabski folgte zunehmendes politisches Chaos, das durch einen Staatsstreich Pilsudskis und seine Wiederkehr, nun als Diktator, beendet wurde. In Oberschlesien hatte sich die Wirtschaftslage besonders verschlechtert, da der bei der Teilung 1922 abgeschlossene Vertrag für Einfuhr polnisch­oberschlesischer Kohle nach Deutschland im Juni 1925 ablief, und Deutschland sich nicht beeilte, ein neues Abkommen abzuschließen (8). Polen konnte dann neue Märkte finden, begünstigt durch den englischen Bergarbeiterstreik von 1926 vor allem in Skandinavien, aber unterdeß litt die Beschäftigung in den Kohlengruben. Für November 1926 waren Wahlen für ein neues Kattowitzer Stadtparlament ausgeschrieben. Umliegende, viel stärker polnische Industriedörfer waren unterdeß eingemeindet worden, was eine polnische Mehrheit hätte sichern sollen. Der Eindruck verstärkte sich aber, daß die deutsche Seite doch stark an Rückhalt gewonnen hatte (4). Der Ausgang der Wahlen brachte der neuen polnischen Pilsudski­Regierungspartei, der "Sanacja", gleich zwei Enttäuschungen: die Deutschen gewannen 34 der 60 Sitze, die namentlich von Korfanty und den polnischen Sozialisten vertretene polnische Opposition erhielten 14, die Sanacja nur 5 Sitze. Da der älteste gewählte Stadtverordnete, der deutsche Katholikenführer Senator Thomas Szczeponik kurz vorher gestorben war, mußte mein Vater, der auch wieder auf der deutschen Liste kandidiert hatte, die erste Sitzung als Alterspräsident eröffnen, und das war eine Amtshandlung, in Polnisch, das er wirklich gar nicht sprach. Ich half mit meinen Schulkenntnissen bei der Übersetzung und schrieb dann den Text für ihn phonetisch auf. Es war nicht erfolgreich. Nach Vaters Rede verlangte der besonders kämpferische Führer der polnischen Sozialisten, Biniszkiewicz, daß die Rede nun ins Polnische übersetzt werde, sie sei in einer ihm unbekannten Sprache, vielleicht auf Chinesisch gehalten worden. Die Sitzung verlief auch sonst sehr stürmisch, da die Deutschen als stärkste Fraktion darauf bestanden, einen Deutschen, den katholischen Gewerkschaftssekretär Jankowski, der gut Polnisch sprach, als Stadtverordnetenvorsteher zu wählen, und die Polen daraufhin die Versammlung verließen. Die "Kattowitzer Zeitung" aber bestätigt in ihrem Bericht (5), daß "bei der deprimierenden Atmosphäre des 1.Teils der Sitzung" die polnischen Herren Widuch und Rechtsanwalt v.Kobylinski meinem Vater (bei seinen weiteren Amtshandlungen als Alterspräsident) mit ihren polnischen Übersetzungen taktvoll und hilfsbereit zur Seite standen. Mein Vater war dann bis 1930 Vorsitzender der deutschen Fraktion im Stadtparlament und blieb Stadtverordneter, bis er 1933 zurücktrat. Nachdem er 1922 an der Gründung des Deutschen Volksbunds mitgewirkt hatte, gehörte er auch dem Verwaltungsrat an und wurde später einer der beiden Vizepräsidenten, bis zu seinem Rücktritt 1933. Bis dahin nahm er an vielen Sitzungen und Besprechungen teil, aber die Mitglieder des Verwaltungsrats traten in der Öffentlichkeit kaum auf. Es kamen aber im Zusammenhang damit manche interessante Besucher ins Haus, so Herbert Weichmann, der zu Beginn seiner Karriere Chefredakteur der "Kattowitzer Zeitung" war. Eine besondere Aufgabe des Vaters, an die ich mich erinnere, hing mit dem Prozeß zusammen, den die Regierung gegen verschiedene Beamte des Deutschen Volksbunds einleitete. Die polnische Politik gegenüber der deutschen Minderheit hatte sich seit 1926 sehr verschärft. Das wird erklärt mit der Weigerung der deutschen Regierung, den Locarnovertrag von 1925 auch durch eine entsprechende Regelung im Osten zu ergänzen, was in Polen unvermeidlich verstärkte Furcht, Wachsamkeit und Abwehrstimmung gegen deutschen Revisionismus hervorrufen mußte (6). Der neue schlesische Wojewode Grazynski war 1926 eingesetzt worden, um der deutschen Minderheit ganz entscheidend Schach zu bieten, aber auch, um die Stellung der Sanacja gegenüber dem nationaldemokratischen Korfanty zu stärken. Die von der polnischen Polizei vorbereitete Anklage gegen Ulitz stand auf schwachen Füßen, nämlich Dokumenten, die dem Verdacht der Fälschung ausgesetzt waren. Der Schlesische Sejm unter dem alten polnischen Vorkämpfer, Rechtsanwalt Wolny, einem Korfanty­Anhänger, lehnte eine Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Ulitz ab, aber der Leiter des Deutschen Schulvereins Dudek kam vor Gericht. Für seine Verteidigung war aus Warschau ein Führer der polnischen Sozialisten, Dr. Hermann Liebermann, gewonnen worden, und mit den Abmachungen dafür hatte mein Vater zu tun. Dr. Liebermann wohnte auch bei uns, und das war auch wieder ein interessantes Erlebnis für mich. Er war schon als Anwalt und politisch im österreichischen Galizien aktiv gewesen. Als später Pilsudski scharf gegen seine Opposition in Polen vorging, wurde er auch in das Internierungslager Bereza Kartuska gesperrt, wo auch Korfanty hinkam. Dr. Liebermann war während des 2.Weltkriegs dann Mitglied der polnischen Exilsregierung in London (7). Zur Zeit der Prozesse, bei denen er mitwirkte, war die Haltung des Deutschen Volksbunds sehr klar, daß er sich ganz als Minderheitenvertretung fühlte und auftrat. Dr. Liebermann gehörte eben zu denen, die im eigenen Lager gegen polnische Verletzungen der Minderheitenverträge waren (8). Es gab damals schon in Deutschland auch außerhalb der Rechtsradikalen unterschwellige revisionistische Gedanken, die solches Verständnis der Deutschen in Polen als Minderheit zu unterlaufen drohten. Die aggressive Politik der polnischen Regierung nach 1926 gegen die deutsche Minderheit spielte solchen Tendenzen in Deutschland in die Hände, wie man so oft findet, daß die Radikalsten auf beiden Seiten sich unwissentlich/wissentlich Bälle zuwerfen. Nun will ich meinen Rückblick auf die Jugendjahre in Kattowitz noch mit ganz persönlichen Erinnerungen abschließen. So zum Beispiel, daß da auch lauter Mädchen heranwuchsen, es Tanzstunde und viele Parties gab, Verliebtheiten und Spaziergänge. Es wurde so absorbierend, daß der Lesezirkel und Gedanken der Jugendbewegung zurücktraten und sich die Schwergewichte im Kreis der Freunde auch änderten. Man fing an, auch mit Vergnügen zu Bierabenden in Kneipen zu gehen. Viele aus diesem Kreis wurden später Korporationsstudenten. Ein guter Freund wurde Hans Kuhnert. Ein anderer neuer Freund aus den späten Schuljahren war Hans Werner Niemann. Er kam wie aus einer anderen Welt, war eine Klasse jünger, voll aggressivem, aufgeschlossenem Enthusiasmus in weltanschaulichen und literarischen Dingen, provozierte lebhafte Meinungsverschiedenheiten, so über meine damalige Heinebegeisterung, und war eher "jungkonservativ" eingestellt. Sein Stiefvater war Direktor der Kohlengrube Murcki, wir waren oft dort, das einzige Mal, daß ich eine Kohlengrube untergrund besuchte. Ein paralleles Erlebnis war mein Besuch in einer der großen oberschlesischen Eisenhütten und Stahlwerke, der Julienhütte in Bobrek, die im deutsch gebliebenen Teil Oberschlesiens lag. Diese erste Bekanntschaft mit dem Hüttenwesen interessierte mich sehr, die Umformung des Metalls von Erz über Roheisen zum Stahl, und was man das "bulk handling" der Materialien nennt. Ein Onkel, A. Tramer war der kaufmännische Direktor der Hütte, seine Frau Flora war Vaters Cousine, eines von den in meiner Jugend noch lebenden acht Kindern des Jakob Grünfeld und der Maria geb. Sachs in Zalenze (9). Mit den noch in Oberschlesien lebenden gab es immer Kontakt. Der jüngste Sohn Paul mit Frau Mimi aus Göttingen war gut situierter Eisen­ und Stahlkaufmann in Beuthen. Sie waren sehr lebenslustige Leute mit viel Stil. Er war Mitglied der Schlaraffia, die beiden waren gar nicht onkel- und tantenhaft mit uns und sie wurden gute Freunde. Häufige Ausflüge "über die Grenze" nach Beuthen wurden für uns ohnehin ein wesentlicher Bestandteil der zwanziger Jahre. Dort war der jüngere Bruder des Vaters, der Orthopäde Ernst, mit seiner netten, manchmal etwas rauhen Art und sein orthopädischer Turnsaal, und dann eben das soviel jüngere Ehepaar Paul Grünfeld. Aber es waren gar nicht nur solche Familienverbindungen, man fuhr eben oft nach Beuthen. Paul war ein eifriger Reiter in dem neuen Reitklub, der in Beuthen entstand. Mit einigen Freunden fuhren Lotte und ich auch dorthin zum Reiten. Mir gefiel diese Sportart, aber sehr gut war ich nicht, während Lotte bald Preise im Springen sammelte. Für die Geselligkeit im Hause der Eltern waren ein jährlicher Höhepunkt die Sylvesterabende, immer in recht großem Kreis, vor allem nachdem die Einquartierung endlich beendet und die zwei weiteren Wohnzimmer auch frei waren. Mit die ältesten Gäste waren Dr. Speiers, und sie blieben dann auch die letzten in den späten 30er Jahren vor Ausbruch des Krieges. Sie waren in den 20er Jahren sehr befreundet mit dem Ehepaar Lukaschek, und so kam es, daß die Dr. Lukascheks auch für einige Jahre, bis er sein Amt als deutscher Vertreter in der unter dem Genfer Abkommen mit Sitz in Kattowitz waltenden Gemischten Kommission aufgab, an unseren Sylvesterabenden teilnahmen, und mit ihnen später auch Freiherr v. Grünau mit Familie, der einige Jahre deutscher Generalkonsul in Kattowitz war. Manche unserer jungen Freunde kamen noch nach Mitternacht und es wurde getanzt. Der jüdische Religionsunterricht und die Gottesdienste waren für mich immer von ergreifendem Interesse geblieben. Als Rabbiner und Religionslehrer hatten wir in den frühen zwanziger Jahren den älteren Dr. Lewin aus Breslau, der mit dem dortigen Rabbinerseminar eng verbunden war. Wir waren schon etwas aufsässiger gewordene Gymnasiasten, und er hatte eine schwere Zeit mit uns; es waren nicht nur theologische Zweifel, mit denen wir ihn ärgerten. Wir waren bei jüdischer Geschichte. Wie können wir, so fragte man ihn, an den Entwicklungen der deutschen Geschichte ebensolchen Anteil nehmen wie andere Deutsche? Natürlich, sagte er, wenn ich vor der alten Kaiserpfalz in Goslar stehe, da bin ich genauso beeindruckt und bewegt wie alle Deutschen. Das sagte er. Es blieben Zweifel. Heute würde ich sagen: Vorfahren von heutigen Juden lebten auch dort zu dieser Zeit, sie hatten Teil an der Entwicklung der abendländischen Welt in Europa, und haben eine Beziehung zu diesen historischen Stätten, und eine besondere zu denen der abendländischen Nationalität, der sie sich selbst zugehörig fühlen. Wenn man genau hinsieht, ist das ein Teil auch des jüdischen Geschichtsbewußtseins. Dr. Lewin ging bald nach Breslau zurück. Der Übergang an Polen machte sich später bemerkbar. Unter seinen Nachfolgern kam aus ganz anderer Welt der junge Dr. Jechezkiel Lewin aus Galizien. Sein Vater war Präsident der ganz orthodoxen Agudath Israel, er selbst wurde später in Palästina und Israel einer ihrer Führer. Er war sehr gebildet und intelligent, und trotz abweichender Meinungen und unserem background waren es sehr interessante Stunden. Er blieb nicht lange in Kattowitz. Im Sommer 1926 bestand ich mein Abitur. Mit seinem Herannahen schon war meine Berufswahl dringend geworden. Ich war seit langem zwischen zwei Polen hin­ und hergerissen. Natürlich hatte mein Vater immer gewollt, daß ich, als dritte Generation, in das Baugeschäft eintreten und dafür Architektur studieren würde. Es war ein schöner Gedanke und ich versuchte immer, mich darauf einzustellen und vorzubereiten. Dahin gehörten die ja von früher Jugend her gewohnten Rundgänge durch Vaters Neubauten und Ziegelei, schließlich auch einfache Lehrbücher über Architektur, Fassaden und Grundrißlösungen, und Zeichen­ und Malstunden bei der Künstlerin Trude Willner, deren freundschaftliche Bekanntschaft auch später eine große Bereicherung war. Meine wirklichen Neigungen aber gingen eigentlich in andere Richtungen, ich wollte Jura studieren. Es gab sehr ernste Gespräche. Meine Mutter überraschte mich, sie fand, wenn ich nicht Architektur studieren will und mich auch nicht für sehr begabt für das Baufach halte, dann sollte ich doch meinen größten Interessen und anscheinender Begabung nach Geschichte studieren. Wahrscheinlich hatte sie recht. Ihr Bruder Walter und meines Vaters Vetter Hans Sachs, deren Vornamen mir gegeben worden waren, hatten sich beide in ihrem Fach Lorbeeren als Wissenschaftler erworben, und das war auch meiner Mutter Ehrgeiz für mich. Wenn nicht das, dann fand sie, Vaters Weg als erfolgreicher Baumeister wäre doch auch vielversprechend. Im letzten Schuljahr bekam ich einige Bücher über Nationalökonomie in die Hand und fand dies das Interessanteste und Zeitgemäße. Zunächst war ich aber bereit, bei meinem Vater im Geschäft bis April 1927 zu praktizieren, vorher hatte ich keine Zulassung zu Hochschulen in Deutschland. So machte ich noch einen Winter "Saison" in Kattowitz mit, lernte die väterlichen Betriebe besser, auch mit Handangreifen kennen. Ende 1926 starb mein Onkel Ernst Grünfeld in Beuthen; zur Beerdigung kam auch Felix Benjamin, der Chef der Erzhandelsfirma Rawack & Grünfeld aus Berlin. Er fragte nach meinen Berufsplänen, hielt aber gar nichts von einem Nationalökonomie Studium. Natürlich, wenn ich dem Vater zuliebe Architektur studieren will, könnte er nichts sagen, aber er lud mich ein, für einige Wochen nach Berlin zu kommen, und das tat ich auch. Die Benjamins wohnten in einem hochherrschaftlichen Haus am Dianasee in Grunewald. Von meinen vier Cousinen waren drei im Hause (10), ich lernte etwas vom Großstadtleben Berlins kennen. Bei einem früheren Besuch waren wir drei Kinder 1922 in Berlin für einige Wochen im Haus in Dahlem von Onkel Paul und Tante Grete Grünfeld mit Vettern Herbert und Ernst eingeladen gewesen. Das war ein ganz anderer Stil, mit viel Betonung auf die Reitpferde und die große Gartenliebe, aber auch viel Anregung für Kunst und Musik. Jetzt bei Benjamins fehlte die Tante Ida, sie litt an Depressionen. Natürlich hörte ich viel über Rawack & Grünfeld, besuchte das Büro, mein Onkel Felix Benjamin hatte abends weiter viele Telefongespräche und im Hintergrund war die Frage, wenn ich schon nicht besondere Lust oder Eignung fürs Baufach verspürte, warum soll ich nicht bei meinem Onkel bei Rawack & Grünfeld ins Erzgeschäft eintreten, anstatt zu studieren? Ich fuhr wie vorgesehen zurück nach Kattowitz; dort fiel der Entscheid für des Vaters Wünsche, und ich bereitete mich vor, zum Semesterbeginn im April 1927 auf der Technischen Hochschule Charlottenburg Architektur zu studieren, wo mein Onkel Max Grünfeld mit dem ihm befreundeten Architekturkollegen Dr. Weiss, der auch Kattowitz kannte, alles Nötige für meine Aufnahme und Förderung meines Studiums einleitete. Kapitel 5 Als Student in der Weimarer Republik A) Berlin a) Leben und Studium Als ich April 1927 in Berlin ankam, konnte ich zuerst bei Onkel Paul und Tante Grete Grünfeld in Dahlem wohnen, bis ich im Hansaviertel ein möbliertes Zimmer, eine "Bude" gemietet hatte. In späteren Semestern fand ich dann welche in Charlottenburg. Das Haus in Dahlem blieb mir während der ganzen Studentenzeit ein wohltuendes Refugium und Quelle vieler Anregungen auch für alle die großen Attraktionen des kulturellen Lebens im damaligen Berlin, und es waren auch immer viele junge Menschen im Haus, denen mit lebendigem Interesse begegnet wurde. Die Familie dieser Dahlemer Verwandten waren sehr kritisch, aber auch sehr begeisterungsfähig. Für mein Architekturstudium sollte ich mich in engem Kontakt mit dem Onkel Max halten. Neben der Einführung in das Bauwesen bei Dr. Weiss hatte ich Mathematik, Physik und Statik zu belegen, dazu kam noch "Freihandzeichnen". Grade das war ein früher Kampf, und meine Unbegabtheit bald eine Warnung, daß ich es mit dem Architekturstudium schwer haben würde. Ich kämpfte drei Semester mit diesem Problem, und je näher man dem eigentlichen architektonischen Schaffen im Studium kam, desto stärker wurde die Überzeugung, daß ich aussteigen müßte. Dabei kann ich nicht sagen, daß ich nicht vieles an diesem Studium gern hatte, aber es war eine unglückliche Liebe. Im Gegensatz zu meinem Onkel, der an alten Stilen hing und ein großer Kenner der alten preußischen Schlösser war, zog es mich zur modernen Architektur, und für die Sommerferien plante ich eine Reise zur Bauaustellung in Stuttgart. Vorher traf ich mich mit Karl­Heinz Lubowski und Freunden in Bayern für eine Wanderung über das "Steinerne Meer" nach Zell a. See und Fahrt nach Innsbruck. Schon in der Schulzeit waren wir in Bayern, München, Tegernsee und Mittenwald gewesen. Nun lernte ich noch mehr von Süddeutschland kennen, ich ging von Stuttgart nach Heidelberg, einer Einladung meines Onkels Hans Sachs und Frau Lotte folgend, die ich in Dahlem getroffen hatte. Grete Hirschel studierte dort Romanistik und zeigte mir etwas vom Leben in Heidelberg. Für den Rest der Ferien ging ich nach Hause und arbeitete praktisch als Zimmermann auf einem Bau des Vaters. Schon vor Beginn des Studiums hatte ich zu Hause im "Berliner Tageblatt" bemerkt, daß es in Berlin einen Demokratischen Studentenbund gab, und bei Beginn des 1.Semesters bald sein Anschlagbrett im Lichthof der TH entdeckt. Ich besuchte gleich ihre nächste Veranstaltung im Demokratischen Klub in der Victoriastraße, wo sie tagten. Bei ihnen habe ich mich dann, bis ich 1931 von Berlin fortging, sehr zu Hause gefühlt. Rückblickend auf mein 1.Semester wurde diese beginnende Teilnahme am politischen Leben in der Studentenschaft in diesen schwierigen, aber noch hoffnungsvollen Jahren der Weimarer Republik eine markante Entwicklung für mein Leben, über die ich zusammenhängend berichten will. Im 2.Semester trat ich auch der "Freien Wissenschaftlichen Vereinigung " (FWV) bei. Etwas anders als in der mehr versachlichten und stets politisch orientierten Atmosphäre des Demokratischen Studentenbunds war die FWV eine Studentenverbindung, eben eine "Fraternity", mit Betonung auf die persönlichen Beziehungen der Bundesbrüder und ihre kulturellen Interessen als das Verbindende, obgleich von ihrem Ursprung in den 1880er Jahren her da auch eine entscheidende politische Note gewesen war. Die Formen entstammten den alten an deutschen Universitäten gewohnten. Ein kurzer Blick auf einige Studenten­Verbindungen ist da angebracht. Wie schon erwähnt, waren ja deutsche Studentenkorporationen im frühen 19. Jahrhundert sehr freiheitlich aufgetreten, auch wieder in der 1848er Zeit. Die Burschenschaften hatten die schwarz­rot­goldenen Farben als Symbol der Freiheitlichkeit und für deutsche Einigung gewählt, aber das völkische Prinzip der Nichtaufnahme von Juden als Mitgliedern hatte sich immer wieder erhoben und verschiedentlich durchgesetzt. Für Fraternities hat es ja solche Exklusivität, ebenso wie in vielen Klubs, immer gegeben, und keineswegs nur in Deutschland, aber die politische Zielsetzung und Virulenz des "völkischen Prinzips" wurde für die deutsche und vielleicht noch mehr für die österreichische Studentenschaft charakteristisch. Trotzdem hatten während des 19. Jahrhunderts die Burschenschaften in verschiedenen Zeiträumen immer wieder jüdische Mitglieder, unter ihnen auch manche später prominent gewordene aus den Kreisen stark assimilierter oder getaufter Juden (1). Manche Korporationen hielten liberale Haltung und Satzungen aufrecht, einige schlossen sich zu dem kleinen Burschenschaftskonvent (BC) zusammen, andere blieben unabhängig. So entstanden sogenannte "paritätische" Verbindungen, was schon anzeigt, daß der Anteil der jüdischen Mitglieder unverhältnismäßig zunahm und bald ganz stark überwog. Diese Verbindungen hielten nur unterschiedlich an alten Gebräuchen der "Couleur" Studenten fest, wie Farben, Mützen und obligatorisch Fechten. Andere jüdische Studenten hatten dagegen Korporationen gebildet, die rein jüdische Verbindungen sein wollten, aus Überzeugung oder jedenfalls als die ihrer Ansicht nach richtige Antwort auf die Exklusivität und deutsch­völkische Richtung der Überzahl der deutschen Korporationen. Der KC stand dem CV (Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens) nahe, aber es gab auch den KIV als zionistische Verbindung. Weder ein Beitritt zu einer paritätischen Burschenschaft noch zum jüdischen KC oder gar den Zionisten hatte mich interessiert, aber die Freie Wissenschaftliche Vereinigung entsprach durchaus meinen Ansichten und Neigungen. Sie war 1886 gegründet worden, nachdem von Berlin durch die Tätigkeit des Predigers Stöcker ausgehend eine neue antisemitische und deutschnationale Welle zur Gründung des Vereins Deutscher Studenten (VDSt) geführt hatte. Das war eine neue Art von Verbindung in Deutschland, mit weniger Betonung auf Farben und Fechten, dafür aber mit ausgesprochener politischer Zielsetzung scharf rechts. Als Opposition gegen diese gründeten prominente Liberale die FWV, führend der Arzt Virchow und der Historiker Mommsen. Der lebendige Kontakt mit liberaler politischer Tradition und dem Kulturleben blieb das Zeichen dieser Verbindung, die auf ihren Ursprung und ihre Vergangenheit stolz war. Im Laufe der Zeit wurde sie aber auch eine der "paritätischen" Verbindungen mit überwiegend jüdischer oder jüdischstämmiger Mitgliedschaft (2). Dies war keineswegs so bei den verschiedenen politischen Studentengruppen, wie der Demokratischen oder der Sozialistischen Studentenschaft, die ja den Großteil der außerhalb der rechtsgerichteten Deutschen Studentenschaft organisierten republikanischen Studenten stellten (3). Die FWV hatte an der Technischen Hochschule eine eigene Verbindung, die Mitglieder fand ich sympathisch, aber noch entscheidender für meinen Beitritt zur FWV war wohl, daß ich durch meinen Vetter Herbert Grünfeld eine ganze Reihe von FWVern kennengelernt hatte, die mit ihm in Heidelberg studiert hatten. Er war dort der FWV beigetreten und hatte viele Freunde in Heidelberg und anderswo gemacht, die nun in Berlin weiter studierten. Das war ein sehr anregender Kreis von sehr lebendigen und interessierten jungen Menschen, viele waren Juristen und Mediziner. Unter ihnen lernte ich auch gleich einige kennen, die in den Studentenvertretungen und der Hochschulpolitik als FWVer auf der republikanischen Seite aktiv und führend geworden waren, wie Heinz Ollendorf, bei dem ich dann als Neuling "Leibfuchs" wurde, Fred Rothberg und Kurt Lange. Wie andere Verbindungen hatte die FWV das Amt des "Fuchsmajor" zur Einführung der Neulinge, das war der junge Anwalt Günter Joachim, aktiver Sozialdemokrat und Reichsbannermitglied, dann bekannt geworden als Verteidiger von in Zusammenstößen mit Nazis verwickelten Republikanern. Doch im Winter 1927/28 stand das Leben in der FWV noch nicht unter solchen Zeichen. Es war ein anregendes Medium, das auch der Stimmung und der Bewegtheit der damaligen Berliner Kulturszene der Goldenen 20er Jahre entsprach und dazu beitrug, daß man sich mit Gleichgestimmten daran soweit als möglich beteiligte und es mitgenoß. Natürlich kamen dafür auch immer wieder Anregungen von andersher, auch der großen Verwandtschaft. Im Haus Grünfeld in Dahlem sah besonders Tante Grete immer, daß man die richtigen Konzerte und Theateraufführungen mitmachte und Gemäldeausstellungen besuchte, wo man damals viele französischen Impressionisten sah, aber auch eigenen Neigungen folgen konnte. Es gab in der Verwandtschaft auch andere Beziehungspunkte zum kulturellen Leben Berlins. Verglichen mit der Generation meines Vaters, einem von zehn Geschwistern, war die väterliche Familie in meiner Generation nicht so groß geworden. Während meiner Studentenzeit konnte ich nun mehr von den Vettern und Kusinen sehen, die in meiner frühen Jugend von Oberschlesien nach Berlin gezogen waren. Meine Kusine Guste Kaiser war Malerin, kopierte oft alte Meister im Kaiser Friedrich Museum, Margot Epstein wurde als Journalistin bekannt, so mit Besprechungen von Kinderbüchern, Ellen Epstein war konzertierende Pianistin, Schülerin von Schnabel, und Hans Hirschel hatte für seine literarische Tätigkeit eine Basis in Mitherausgabe der Zeitschrift "Das Dreieck" gefunden mit einigen anderen, schon bekannteren Literaten, arbeitete aber auch im Erzgeschäft von Rawack & Grünfeld. Mir war Das Dreieck zu "avantgard", aber die Besuche bei Hirschels waren immer anregend und herzlich, und diese drei Schwestern des Vaters in Berlin kochten exzellentes Essen. In der mütterlichen Verwandtschaft in Berlin war vorerst ihr Bruder Walter Oettinger, nun Stadtmedizinalrat von Charlottenburg, unverheiratet. In seinem Kreis spielten Freundschaften aus dem Breslauer Akademisch­Literarischen Verein eine große Rolle (4). Dieser war auch das, was ich als "paritätische" Verbindung beschrieben habe, mit hohem Anteil getaufter Juden. Die literarische Verpflichtung war dabei ein sehr ernstes Anliegen, bei Walter Oettinger konzentrierte sie sich auf Friedrich Hebbel, er wurde ein großer Kenner und Sammler. Er war politisch konservativ, hielt den Lokalanzeiger, aber sonntags kaufte er "heimlich" das Berliner Tageblatt. Ein Vetter meiner Mutter war Erich Oettinger, Physiker, auch aus dem Breslauer ALV, Assistent Fritz Habers an der TH Karlsruhe gewesen, nun bei der AEG, dem ich während meiner Berliner Zeit sehr nahegestanden habe. Er hatte einen weiten Kreis geistiger Interessen und dementsprechend viele interessante Freunde; leider ist er noch während meiner Studentenzeit sehr früh gestorben. Als ich im 3.Semester mit dem Architekturstudium zusehends unzufriedener wurde, begann ich mich für Fortsetzung des Studiums an der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der TH zu interessieren, auf betriebswirtschaftliche Führung von Industriebetrieben ausgerichtet, mit technischen und wirtschaftlichen Fächern kombiniert. Für meine 2.Sommerferien fand ich eine Stelle als Praktikant bei der Firma Holzmann auf einer ihrer Wohnblockbauten in Weissensee im nordöstlichen Berlin. Ich war kein geborener Maurer, aber so zu arbeiten entsprach mir für zwei Monate durchaus, es war gut, diese Welt kennenzulernen. Ich hatte mit ihr zu Hause schon Kontakt gehabt, aber das war nun etwas anderes. Mein Maurerpolier, ein richtiger Berliner, war ein alter Sozialdemokrat, nach Arbeitsschluß kamen manche der Arbeiter noch in die Baubude, wo er residierte, und man trank Bier. Leider machte mir meine praktische Arbeit auf dem Bau noch klarer, daß das nicht mein Beruf war. Ich habe das dann noch zu Hause besprochen, aber zur Entscheidung noch offengelassen. Ich wollte nicht endgültig einen Studiengang wählen, der zu eventueller späterer Arbeit oder Übernahme des väterlichen Geschäfts keine Beziehung mehr hatte. Ein Weg wäre Umsattlung auf Bauingeneur gewesen, aber die Verbindung von wirtschaftlicher mit technischer Grundbildung, hauptsächlich allerdings auf Maschinenbau gestützt, die in der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung geboten wurde, zog mich mehr an. Entscheidend wurden für mich lange Unterhaltungen mit Erich Oettinger, ich fand, daß er in meinem Berliner Umkreis der Beste war, mir unabhängigen Rat zu geben und die Courage, die ich für so einen, den Erwartungen meines Vaters entgegengesetzten Entschluß brauchte. Nach unseren langen Unterhaltungen war seine Diagnose, meinen ausgesprochensten Interessen und auch anscheinender Begabung nach sollte ich eigentlich Soziologie studieren. Das war eine gerade sehr stark beachtete Wissenschaft geworden. Mein hochrangiger nationalökonomischer Kollege im Demokratischen Studentenbund, Alfred Tismer, hatte dafür nur das Wort "Schmonzologie". Ich entschied mich für die mehr auf praktische Zwecke ausgerichtete Lösung der Wirtschaftswissenschaften an der TH Charlottenburg. Die Abteilung war nach dem Muster einer in Belgien bestehenden Industriehochschule gegründet worden. Eine ähnliche gab es in Deutschland in München aus der Vereinigung der dortigen Handelshochschule mit der Technischen Hochschule. Dort stand als Abschluß immer noch ein Diplomkaufmannsexamen. In Charlottenburg aber war es ein Diplomingeneur auch für die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung. Dort konnte ich nun Nationalökonomie bei dem sehr geachteten Dr. Goetz Briefs hören, er war katholisch eingestellt, auch im Verband republikanischer Hochschullehrer tätig. Sein Assistent, der Privatdozent Fischer, war, wie sich später herausstellte, weit mehr rechts, aber diskret damit. In seinem Weltwirtschaftlichen Seminar hatte ich den Auftrag in zwei Sitzungen über die Überlebenschancen des Britischen Empires zu referieren. Er hatte mich auf die zentrifugalen Tendenzen in allen Dominien hingewiesen, und ich mußte die wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten überall studieren und aufarbeiten, so auch die Frage der Kolonien. Ich kam zu einem für England positiven Schluß, und sah dann, daß er seine Enttäuschung nur schwer verbergen konnte. Er hatte mich auf die vielen Fragezeichen überall aufmerksam gemacht (mein politischer Platz war ja allgemein bekannt an der Hochschule). Es gab sie ja auch, aber ich habe ja, jedenfalls bis zur Zeit nach dem 2.Weltkrieg, Gott sei Dank recht behalten. Gründliche Ausbildung in Betriebswirtschaft, Finanzwesen und Buchhaltung gab es bei Dr. Prion, juristische Fächer mußten meist an der Universität und Handelshochschule belegt werden. Die technischen Fächer, Maschinenbau und Allgemeine Technologie waren für mich neu, Maschinenbau und die Zeichnungen, die man da anfertigen mußte, nicht nach meiner Wahl, aber dann später belegte ich Eisenhüttenwesen als Nebenfach, und das war ein technisches Fach, das mich wirklich interessierte. Als weitere Nebenfächer an der TH belegte ich dann später noch Wirtschaftsgeographie bei Dr. Rühl, einem Freund Erich Oettingers, den ich dort kennengelernt hatte, und auch ein Semester Patentrecht bei Reinhard Jacoby, einem Vetter meiner Mutter. Das neue Studium gab mir also ein ziemlich großes Programm. Zu den Weihnachtsferien 1928 war ich, wie immer, wieder zu Hause in Kattowitz. Die Familie, die alten Freunde, manche netten Mädchen, es gab viel Geselligkeit. Die Studenten, die in den Ferien nach Hause kamen, hatten es eingerichtet immer einen Ball zu veranstalteten, ich hatte mich an der ursprünglichen Initiative stark beteiligt. Zum Sylvesterabend in unserem Haus kamen dieses Mal neue Gäste, Frau Dr. Göppert aus Göttingen, mit Tochter Maria, die in Göttingen Physik studierte. Sie war etwas älter als ich und mir sehr sympathisch (6), war in Kattowitz geboren; unsere Eltern waren befreundet, bis ihr Vater an die Universität Göttingen ging. Eine Folge des Sylvesterabends war, daß Maria Goeppert, Karl Heinz Lubowski und ich einen Ausflug nach Krakau machten, um ihr diese alte polnische Stadt zu zeigen, die für Kattowitz ja nun eine Art Nachbarstadt und kulturell ein großer Anziehungspunkt geworden war. Ich kannte es natürlich schon, aber dieser Ausflug verstärkte den Zauber, der von der Stadt ausging, es gab auch ein besseres Empfinden für polnische Geschichte und alte nationale Ambitionen, die sich daraus entwickeln mußten. Man hatte ja schon Unterricht in polnischer Geschichte in der Schule mitgemacht. Im Studium in Berlin war man dem etwas mehr entrückt. Karl Heinz zum Beispiel hatte sich entschlossen, in Krakau zu studieren, und er war nicht allein damit. Das Sommersemester 1929 war für meine politische Betätigung zusammen mit Studium, besonders hektisch verlaufen. Während der Semesterferien mußte ich noch eine weitere praktische Arbeitszeit machen, die etwas mit Maschinenbau zu tun haben sollte. Erich Oettinger schlug die Lehrlings­ und Fortbildungsschule der AEG in Reinikkendorf vor und brachte mich dort unter. Ich wollte nicht wieder, wie in meiner Maurerzeit in Weissensee, täglich von meiner Bude in Charlottenburg hin­ und herfahren. Ich gab mein Zimmer auf, mietete eins in Reinickendorf, also ich lebte nun wirklich in einem unteren Mittelstands­ und Arbeiterbezirk. Die Belegschaft in Arbeit/Schule war auch ganz anders, darüber mehr später, wenn ich über die politische Entwicklung spreche. In meine Praxiszeit 1929 fiel auch mein Geburtstag, der 21., zu dem die Eltern nach Berlin kamen, bei Onkel Max fand ein großes Geburtstagsdinner statt. Meine Schwester Lotte kam auch mit; sie wollte in Berlin an der Kunstgewerbeschule Innenarchitektur studieren, man wollte sehen, daß sie anständig untergebracht war. Wir sollten versuchen, etwas zusammen zu finden, und das gelang auch in zwei möblierten Zimmern bei Frl. Sachs in der Clausewitzstraße. Der Besuch meiner Eltern war eine große Freude, und die gemeinsame Wohnung mit Lotte wurde auch eine große Bereicherung meines Lebens in Berlin. Wir verstanden uns sehr gut, es war wie ein zu Hause und wir konnten Freunde einladen. Die jüdischen Feiertage Neujahr und Versöhnungstag verbrachte ich ja zum ersten Mal nicht zu Hause, sondern der Praxis wegen in Berlin, und zwar im overflow Gottesdienst in der Philharmonie, mein erster mit liberalem Ritus, es sagte mir sehr zu. Ich hatte ein Argument mit meinem AEG Werkmeister, der mir keinen Urlaub für Neujahr geben wollte. Ich nahm ihn mir einfach, schließlich war das doch eine von Rathenau gegründete Firma, fand ich. Erich Oettinger war über meinen Entschluß ebenso kritisch wie das AEG Management. Er meinte, ich hätte den Technischen Direktor anrufen und mich beschweren sollen, aber nicht einfach wegbleiben. Für den Versöhnungstag gab es das Problem nicht mehr, ich war da schon bei Jachmann, wo man mehr Verständnis für meine immer wieder starken religiösen Bedürfnisse um diese Jahreszeit hatte. Ich wußte allerdings damals gar nicht, daß die Jachmann Familie jüdisch war. In der Hitlerzeit wurden sie dann Pioniere in der Eisen- und Stahlindustrie im damaligen Palästina. Meine religiöse Einstellung hatte damals schon begonnen, ganz neue Dimensionen zu entwickeln. Es war einerseits die Welt von Martin Buber und vor allem Franz Rosenzweig, der großen Eindruck auf mich machte, aber es war auch Bekanntschaft mit der sogenannten bibelkritischen Literatur, oder besser der historischen Betrachtung menschlicher religiöser Entwicklung, und eben auch der entscheidenden Beiträge, die das Volk Israel und das Judentum dazu gemacht haben. Der Mensch war also auf dauernder Suche nach Gott, und die jüdische Thora und dann die Prophetenbücher, über Jahrhunderte von Menschen geschrieben, waren das Bild der jüdischen Entwicklung, die dann eben auch zur Entstehung des Christentums führte. Die damit ins einzelne gehende bibelkritische Literatur wurde zunächst von meist protestantischen Alttestamentlern und von Historikern getragen, aber bald kamen auch jüdische Autoren zu diesen nicht­fundamentalistischen Forschungen. In der Preußischen Staatsbibliothek, in die ich ja auch in meinem Studium und für die politische Tätigkeit zu gehen hatte, fand ich auch Zugang zu dieser religionsgeschichtlichen Literatur. Meine religiösen Gefühle aber blieben lebendig, und ich habe bis in mein Alter jährlich an den jüdischen Gottesdiensten teilgenommen, wo immer ich auch war. Nur ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1930, es gab schon weltwirtschaftliche Depression und zunehmende Krise der Weimarer Republik, fand ich auch bei meinen Osterferien zu Hause, daß nicht alles beim Alten blieb. Das väterliche Baugeschäft war sehr ruhig geworden, eine drastische Verkleinerung des Apparates wurde notwendig. Die Ziegelei war sehr beschäftigt gewesen, sodaß mein Vater Expansionspläne durchführte, für deren Finanzierung die Konjunktur aber nicht ausreichte. Es wurde daran gedacht, das große, gutgelegene Stadtgrundstück, auf dem wir wohnten, zu verkaufen, und ein Verkauf, mit Umzug der Eltern in eine Wohnung schien vor der Tür zu stehen. Mit diesen möglichen Veränderungen auch vor mir, ging ich dann wieder nach Berlin zur Arbeit an meinem Vorexamen, das ich im Juni ablegen wollte. Ich bestand es dann auch und konnte mich cand.ing. nennen. Mein Vater schien besonders glücklich damit. Ich machte nur einen kurzen Besuch zu Hause, wo die große Änderung mit Umzug der Wohnung, Verkauf eines Teils der schönen Einrichtung der großen Villa usw. schon im Zuge waren. Für August war nämlich bei mir eine Blinddarm Operation im Krankenhaus Westend in Berlin fällig, in dem mein Onkel Walter Oettinger mich dafür untergebracht hatte. Gesundheitlich war ich seit einiger Zeit angeschlagen. Allergisches Asthma und dann die Blinddarmbeschwerden hatten mich geplagt. Ich wollte die Ferien dazu benutzen, das hinter mich zu bringen. Einige Tage nach der sonst gut verlaufenen Operation hatte ich sehr schweres Asthma, ein großer Schock, und es sollte für Jahrzehnte auf und ab ein ständiger Begleiter bleiben. Nach der Operation durfte ich mich vor Weiterreise im Haus der Dahlemer Verwandten erholen. Ich war ja dort immer wieder zu sehr herzlich und anregend verlaufenden Besuchen aufgenommen worden. Das Büro meines Onkels Paul bei Rawack & Grünfeld war in Charlottenburg an der Hardenberg­ Ecke Schillerstraße, also direkt bei der Technischen Hochschule, und wenn ich in Dahlem wohnte, konnte ich oft mit ihm in die Stadt fahren. Neuerdings hatte er auch den Hauptsitz seiner industriellen Firma GFE von Nürnberg dorthin verlegt. Wenn ich in Dahlem wohnte oder ihn besuchte, nahm ich auch teil an dem Kommen und Gehen der vielen Besucher, die mit Onkel Pauls Ferrolegierungsindustrie zusammenhingen. Da waren die Brüder Forchheimer, der ältere Dr. Jakob hatte als Techniker die Firma ursprünglich mitgegründet und war Partner meines Onkels, der jüngere Leo Forchheimer war Businessmanager der Firma geworden, nach Berlin gezogen, und ich sah ihn oft. Auch kam Ragnar Nilson, der Leiter der schwedischen Zweigfirma AB Ferrolegeringar, und ich lernte die Vertreter der amerikanischen Union Carbide kennen, die damals mit meinem Onkel über einen Zusammenschluß der Interessen in Europa Verhandlungen führten, die aber in der Weltwirtschaftskrise dann aufgegeben wurden. Auf den Autofahrten in die Stadt hat er auch manchmal über laufende Zeitfragen und auch wirtschaftliche und Geschäftsprobleme gesprochen. Mein Vetter Herbert war zu Beginn seiner geschäftlichen Karriere zur Ausbildung von Rawack & Grünfeld zunächst nach Beuthen, dann von GFE zu ihren verschiedenen Werken und schließlich nach England geschickt worden. Ich sah ihn auch immer wieder mal in Dahlem, aber in den Jahren meiner engsten Verbindung mit dem Hause dort war er oft nicht da. Der jüngere Bruder Ernst stand noch vor dem Abitur. 1930 hatte meine Schwester Lotte ihr Studium gewechselt, von der Kunstgewerbeschule, für die sie sehr begabt war, zum Pestalozzi­Fröbelhaus, mit dem unsere Tante Grete so enge Beziehungen hatte und sie einführte; Lotte wohnte dann auch in Dahlem. Natürlich brachte mich das dann noch öfter dorthin. Dann war dort oft der Sohn des Heidelberger Onkels Hans Sachs, Werner Sachs, der damals am Kaiser­Wilhelm Institut in Dahlem an einer Dissertation in Chemie arbeitete. Er war auch ein Mensch mit großen allgemeinen Interessen, auch Weltanschauung, Geschichte und Politik, und es waren immer interessante Begegnungen. Durch ihn kamen auch eine Reihe seiner Frankfurter und Heidelberger Freunde ins Haus, oft ebenfalls Professorenkinder, und da war auch Hans Bethe, Physikstudent. Aus der Familie von Werner Sachs's Mutter kamen aus Italien die Geschwister Hans und Annemarie Grelling. Hans trat in Onkel Pauls Firma ein, und nach seinem Doktorat auch Werner Sachs auf der technischen Seite. Seine Schwester Ilse, Medizinstudentin, lernte ich auch in Dahlem kennen, auch manche andere Verwandte und überhaupt viele interessante Menschen mit verschiedenstem background und Begabungen. Sehr enge Freunde waren auch die Familie Rohr, Gutsbesitzer an der polnisch­schlesischen Grenze, die ich viel in Dahlem sah. Dieser weitere Rückblick auf die Verwandten in Dahlem bezieht sich ja nicht nur auf die Wochen der Rekonvaleszenz, die ich nach Blinddarmoperation und Asthma im August 1930 dort haben konnte. Ich konnte sie brauchen, denn für September stand mir Teilnahme an einer politischen Tagung in Genf bevor. Auf dem Heimweg von der Tagung verbrachte ich, nach einem kurzen Besuch in den Bergen, das jüdische Neujahrsfest in Luzern, ein ganz orthodoxer Gottesdienst, ganz ohne Chor, dann erste Durchreise durch Zürich, umsteigen in München und noch eine lange Bahnfahrt nach Kattowitz. Mich interessierte in München die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung an der Technischen Hochschule, wo man mit einem Diplomkaufmannsexamen mit weniger Betonung auf die technischen Fächer abschließen konnte. Darüber wollte ich mich orientieren. Zu Hause verbrachte ich dann wieder den Versöhnungstag und machte mich mit dem Leben in der neuen elterlichen Wohnung vertraut, Lotte war in Berlin, wohnte in Dahlem, Marianne war zu Hause. Ich ging wieder nach Berlin, das Studium nach dem erfolgreichen Vorexamen bot neue Anregung, aber mein Interesse für Nationalökonomie war eben doch so viel stärker als die technische Seite, ein Wechsel nach München versprach einen viel schnelleren Abschluß dieses Studiums. Ich hatte ja vorher Zeit verloren, und so nahm der Plan eines Wechsels nach München im Laufe des Semesters immer festere Formen an. Für meine politische Tätigkeit aber blieb dieses letzte Berliner Semester noch eine sehr an­ und aufregende Zeit. b)... und politische Bestätigung Das Gefüge der Weimarer Republik, so schien es einem zu Beginn meiner Studentenzeit, hatte sich befestigt nach den stürmischen und gefährlichen Jahren, die der deutschen Niederlage und dem Versailler Vertrag folgten, nach Spartakus­ und Freikorpsrebellionen, Inflation, Ruhrbesetzung und gelungener Währungsreform, es entstand auch ein besseres Klima mit den Westalliierten unter Stresemann. Zunächst hatten die Rechtsparteien an Einfluß gewonnen, Hindenburg wurde 1925 zum Reichspräsidenten gewählt (der Gegenkandidat der mittleren Linken Marx verlor die Wahl, der Kommunist Thählmann hatte als Dritter kandidiert). Aber im Mai 1926 folgte dem MitteRechtskabinett Luther ein Kabinett des Zentrumsführers Marx, an dem außer Stresemann auch die Demokraten und Sozialdemokraten beteiligt waren. Wirtschaftlich hatte ein Konjunkturaufschwung begonnen, die politische Rechte schien in die parlamentarische Demokratie eingeordnet, obgleich die Republik ungeliebt blieb, und monarchistische Gefühle in weiten Kreisen der Rechten sich zäh erhielten, nicht nur in der Reichswehr, sondern in weiten Kreisen des Beamtentums, der Industrie und auch der Studentenschaft. Dabei spielte das "Völkische", immer in unvermeidlicher Verquickung mit Antisemitismus bei den Studentenorganisationen seit langem eine besondere Rolle. Die rechtsgerichteten studentischen Korporationen schienen einen geschlossenen Block zu bilden, der vielerorts über 50% der Studentenschaft stellte. So erinnere ich mich an das politische Bild, als ich zu Beginn meines Studiums zum ersten Mal den Demokratischen Studentenbund Berlin besuchte. Der mich, den Neuling, gleich freundlichst empfing war Richard Winners, der mir gleich einiges über den Verein erzählte, aber wohl auch sehen wollte, wer da gekommen war. Winners, aus westfälischen Arbeiterkreisen stammend, war ein Historiker aus dem Seminar Friedrich Meineskes. Er war dann auch Herausgeber des Demokratischen Zeitungsdiensts der Partei. Vorsitzender des Demokratischen Studentenbunds war damals Wolfram Müllerburg, und weiter bleiben mir besonders in Erinnerung aus dieser ersten Zeit der Jurist Kurt Kronheim, die Nationalökonomen Alfred Tismer und Gaedecke, Martin Goetz, auch aus dem Meinecke Seminar, und von der Technischen Hochschule Fritz Schlesinger, von weiblichen Mitgliedern Else Runge und Lotte Kronheim. Für die wöchentlichen Zusammenkünfte im Demokratischen Klub wurden oft demokratische Politiker und andere zu Vorträgen gebeten, dazwischen gab es Abende mit Referaten eines Mitglieds und Diskussion, auf die man sich vorbereiten sollte. Es war hochinteressant, anregend und eine gute Schule. Danach konnte man noch ins Restaurant des Demokratischen Klubs gehen und saß dann manchmal zu einem Bier mit dem einen oder anderen demokratischen Parlamentarier oder anderen Klubmitgliedern. Gleich nach meinem Eintritt in den Verein nahm ich an einer Pfingstwanderung teil; wir waren nur etwa zehn bis zwölf, wanderten von Rostock nach Stralsund, unbekanntes Land, eine erfrischende Erfahrung unter Menschen, denen man Verbindung mit der Jugendbewegung und Leben in Jugendherbergen noch anmerken konnte. Meine erste Verwicklung in den eigentlichen hochschulpolitischen Konflikt jener Tage hatte sich aber gleich bei Studiumsbeginn aus einem besonderen Zusammenhang ergeben. Die Studenten einer Hochschule waren in einer offiziell anerkannten Studentenschaft zusammengefaßt, und die aller deutschen Hochschulen in der Deutschen Studentenschaft. Diese war nach 1918 unter Führung von zurückkehrenden Frontsoldaten gegründet worden, unter ihnen auch republikanisch gesinnte, so der erste Vorsitzende Otto Benecke, ideologisch noch prominenter für lange Zeit Werner Mahrholz und z.B. auch Immanuel Birnbaum und Ludwig Merzbach. Aber die alten studentischen Korporationen gewannen bald die Oberhand und trieben ihre völkischen Ideen voran, ebenso wie neue deutsch­völkische Gruppen. Beschränkung der Mitgliedschaft der Studentenschaften auf "völkisch"­deutsche Studenten wurde verlangt, also Ausschluß jüdischer Studenten. Die Verfassungen mußten aber von den zuständigen Länderregierungen bestätigt werden, es sollte sich ja um öffentlich anerkannte Studentenschaften handeln, denen die Selbstverwaltung staatlich geförderter Studentenhilfseinrichtungen wie Mensa, Krankenkassen usw. anvertraut werden sollte. Die Verhandlungen zwischen den stark rechtsradikal gewordenen Studentenführungen und den Regierungen, voran dem Preußischen Kultusministerium, zogen sich Jahre lang hin. Die Studentenschaft hatte für Hochschulen in Deutschland die vom Ministerium als Norm festgesetzte Mitgliedschaft aller Studenten, die deutsche Staatsbürger waren, angenommen, aber für das "Großdeutsche Prinzip", auf dem sie bestehen wollten, daß österreichische und auslandsdeutsche Studenten auch Mitglieder sein könnten, wollten sie das auf "deutsche Abstammung" beschränken unter Ausschluß von Studenten jüdischer Abstammung. Die Führung der Deutschen Studentenschaft, fest in den Händen der rechtsgerichteten Korporationen, blieb darüber in ständigem Konflikt, besonders mit der preußischen Weimarer Koalitionsregierung, der sich rechtlich auf zwei Punkte in der Verfassung der Deutschen Studentenschaft zugespitzt hatte, erstens wenn auslandsdeutsche Studenten weiter aufgenommen werden sollten, dann ohne Arierparagraph, und zweitens, wenn die Deutsche Studentenschaft weiter mit österreichischen oder auslandsdeutschen Studentenschaften, die bei sich gar nicht staatlich anerkannt sind, "koalieren" will, dann nur solchen, die auch keinen Arierparagraphen haben. Dieser Konflikt beschäftigte Anfang 1927 nicht nur die Hochschulen, sondern auch Parlament und Tagespresse. Es war mir somit vor Studienbeginn, in Kattowitz, schon klar, daß ich, deutsch­jüdischer Herkunft aus Polnisch­Oberschlesien, zu dem umstrittenen Personenkreis für Aufnahme in die Studentenschaft gehören würde und stellte Antrag für Aufnahme gleich bei Semesterbeginn. Mir wurde zunächst gesagt, meine Aufnahme würde den Prinzipien der Studentenschaft widersprechen, aber ich würde Bescheid bekommen. Wenig später erhielt ich durch das Sekreteriat der Hochschule die Aufforderung, mich bei der sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Wegscheider im preußischen Landtag zu melden. Ich traf eine sehr resolute, ältere Dame, Hochschulreferentin in ihrer Fraktion; sie sagte, sie hätte über mich gehört (6), und fragte, ob ich Aufnahme in die Studentenschaft beantragt hätte, und da ich schon auf Bescheid wartete, aber eine Ablehnung in Aussicht gestellt worden war, sollte ich mich im Fall irgendwelcher Schwierigkeiten sofort bei Dr. Otto Benecke melden, dem Presseschef im Preußischen Kultusministerium. Bald darauf kam die Ablehnung und ich machte meinen ersten Besuch im preußischen Kultusministerium. Nach einiger Zeit wurde ich zur Studentenschaft gebeten. Der Schriftführer Walther Nothis, der konservativ­katholischen Verbindung CV angehörend, bestätigte meine Aufnahme, die vorherige Ablehnung wäre ein Irrtum gewesen (7). Im politischen Verfassungskonflikt der Deutschen Studentenschaft mit dem preußischen Kultusministerium kam es aber zu keinem Kompromiß. Das im Juli 1927 gestellte Ultimatum wurde von den Studentenschaften in einer Urabstimmung im November abgelehnt und die Studentenschaft daraufhin vom Ministerium aufgelöst. Meine Mitgliedschaft währte also nicht lange. Die an allen Hochschulen bestehenden wirtschaftlichen Einrichtungen für die Studenten, ja die eigentlichen, praktischen Seiten studentischer Selbstverwaltung, hatten ein gewisses Eigenleben, unabhängig von den rechstradikalen, politischen Aktivitäten der Deutschen Studentenschaft entwickelt. Sie sollten weiter bestehen, unabhängige neue Rechtsformen (E.V.) wurden gewählt, auf gesamtdeutscher Ebene wurden sie nun im Deutschen Studentenwerk E.V. mit Sitz in Dresden zusammengefaßt. Die Wirtschaftseinrichtungen wurden von manchen aktiven oder früheren Studentenschaftsfunktionären geführt, die sich auf diese Arbeit spezialisiert hatten, zum Teil halb­ oder sogar vollberuflich dort tätig waren. Es hatte sich also eine eigene personelle Struktur für diese Wirtschaftseinrichtungen entwickelt, deren Mitglieder stark auf die sachlichen Aufgaben konzentriert, weniger politisch engagiert und daher jetzt bei Auflösung der staatlich anerkannten Studentenschaft sehr an der Fortführung der Wirtschaftshilfe in Zusammenarbeit mit den Landesbehörden interessiert waren. Schon im Laufe des Konflikts in Preußen hatte es außerhalb Preußens in Heidelberg 1926 einen Beschluß des Studentenschaftsparlament(Asta) gegeben, aus der Verfassung die strittigen völkischen Bestimmungen herauszunehmen und eine unparteiische, unpolitische, auf die eigentliche Selbstverwaltung ausgerichtete Studentenschaft anzustreben. Heinz Ollendorf hatte damals als Heidelberger Astamitglied von republikanischer Seite gemeinsam mit dem Sozialisten Hoeber an diesen Beschlüssen mitgewirkt und auch auf dem Studententag der Deutschen Studentenschaft in Bonn den Heidelberger Standpunkt mitvertreten(8). Die Heidelberger Studentenschaft wurde daraufhin aus der Deutschen Studentenschaft ausgeschlossen. Die Leipziger Studentenschaft war auch nahe dran. Anschließend an ihre Heidelberger Erfolge ging nun von Ollendorf und Hoeher die Initiative aus zur Gründung einer Gegenorganisation zur Deutschen Studentenschaft, die nun in den nächsten Monaten als Deutscher Studentenverband(DStV) auch entstand. An unserer TH waren die studentische Wirtschaftshilfe und die Studentenschaft in je einer von den Baracken auf der Rückseite der Hochschule untergebracht.Im Grunde genommen verschwand die Studentenschaft wie sie bisher politisch existiert hatte, gar nicht. An allen preußischen Hochschulen gründete die gesamtdeutsche Deutsche Studentenschaft sofort neue Organisationen; an der TH Charlottenburg nannte sie sich "Großdeutsche Studentenschaft" und fuhr weiter fort mit demselben Vorstand und Ausschüssen, Programmen und Propaganda. An der Universität Berlin zum Beispiel waren republikanische Studenten und ihre Vereinigungen zwar auch in der Minderheit, aber sie hatten bei den Astawahlen Sitze erhalten und waren so auch bei Auflösung der Studentenschaft aktiv in den Wirtschaftsorganisationen vertreten. An unserer TH waren sie nicht vertreten. Die Wirtschaftsorganisationen brauchten natürlich weiter Studentenvertreter für ihre Gremien. Die erste wichtige Aufgabe war lokal für die verschiedenen republikanischen Studentenvereine zu verhindern, daß die neue Großdeutsche Studentenschaft einfach in den Funktionen der alten aufgelösten Studentenschaft fortfahren könnte. Eine gemeinsame republikanische Gegenorganisation wurde notwendig und mit Namen "Freiheitliche Studentenschaft" gegründet. Die Wirtschaftshilfe und sogar das Rektorat konnte so gezwungen, oder sagen wir durch Hinweis auf vermutliche Ansichten des Kultusministers veranlaßt werden, Vertreter der republikanisch gesinnten Studenten auch in die Außschüsse der Wirtschaftshilfe zu berufen und die Büros in der Studentenschaftsbaracke zwischen den beiden aufzuteilen. Diese Büros schufen natürlich eine deutliche Präsenz für die republikanische Seite, wie sie sich gar nicht an allen preußischen Hochschulen so ergab. Die Mitgliedsvereine mußten Kräfte nicht nur für die übliche Vorstandsarbeit und Vertretung in Wirtschaftshilfe und gegenüber dem Rektor bereitstellen, sondern auch für Abhaltung von Bürostunden. Bei der Gründung war der Sohn eines prominenten Professors der TH, Fritz Schlesinger vom Demokratischen Studentenbund, und ältere Semester von FWV und KC führend beteiligt, aber Schlesinger erkrankte; ich übernahm von ihm, wurde dann Vorsitzender dieser Freiheitlichen Studentenschaft der TH und blieb es mehrere Semester. Enge Mitarbeiter und Nachfolger waren Rudi Samuel vom KC und später der Sozialist Ahrens. Bei Beginn meines 3.Semesters, Sommer 1928, erwartete mich zu meiner größten Überraschung ein noch viel weitergehendes Engagement. Nichts ahnend kam ich zu einer Mitgliederversammlung des Demokratischen Studentenbunds Berlin, und vor Beginn wurde mir mitgeteilt, daß Alfred Tismer den Vorsitz aufgeben muß, er wurde von einer bekannten Privatbank beauftragt, eine Methode für Errechnung der "Goldpunkte" auszuarbeiten, und das neben seiner Dissertation wäre dann zuviel. Ich hatte mich häufig an Debatten beteiligt und zu den meisten politischen Themen etwas zu sagen gehabt. Die maßgebenden Mitglieder hielten mich für den geeignetsten, ja eigentlich den einzigen damals plausiblen Nachfolger. Die Plötzlichkeit erschreckte mich, ich war bereit erst einmal mich im Vorstand einzuarbeiten, aber so aus dem Stand den Vorsitz zu übernehmen war zuviel. Müllerburg, Tismer, Winners u.a. versprachen vollste Unterstützung, nun mußte man auch noch sehen, wie man die übrigen Vorstands­ und anderen Mitglieder dazu bringen konnte, aber ich wurde gewählt und trat das Amt mit einigen Zweifeln und Ängsten an, fühlte mich aber bald wie ein Fisch im Wasser. Das rein Organisatorische war nicht der Berg, den ich mir vorgestellt hatte, das Interessante war die Programmgestaltung und Vorbereitung, die Kontakte und Repräsentanz, in Liaison mit der Demokratischen Partei, ihren Abgeordneten und anderen Politikern und den Hochschullehrern, die ihr nahestanden. Sie gehörten teilweise zu der Altherrengruppe, die der Studentenbund gebildet hatte, mit Theodor Heuss als einer der aktivsten Stützen, der Geschäftsführer war Ministerialrat Haensel im Reichsinnenministerium und regelmäßige Besuche in seinem Büro gehörten zur Routine meines neuen Amts. Dann waren noch die Jungdemokraten, deren Verband die Studentengruppen auch angehörten und schließlich Kontakt mit den gleichgesinnten Zeitungen. Das war besonders Werner Mahrholz von der Vossischen Zeitung und Rudolf Olden vom Berliner Tageblatt, die dort über Hochschulfragen schrieben und alte Beziehungen zu den Entwicklungen in der Studentenschaft hatten. Besonders Werner Mahrholz galt als so etwas wie ein Mentor der republikanischen Studenten, und der Demokratische Studentenbund war ihm dabei der nächste. Die Besuche bei beiden waren für mich besonders wichtig und anregend. Ich war noch jung in meinem Amt, ohnehin noch nicht 20, als dann neue Reichstagswahlen am 20.Mai 1928 stattfanden. Wir Studenten mußten an den Vorbereitungen für die Partei mithelfen, Wahlversammlungen besuchen, war aber nicht sehr mein Fall, Adressenschreiben. Die Wahl wurde ein großer Erfolg für die republikanischen Parteien, und man teilte das Hochgefühl einer beginnenden politischen Sicherheit für die Weimarer Republik, das sich daraufhin verbreitete. Es bildete sich eine Reichsregierung der Großen Koalition unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller und als Außenminister dem Volksparteiler Gustav Stresemann als dem anderen Eckpfeiler. Die Demokraten waren vertreten durch ihren Parteiführer Erich Koch­Weser (Justiz) und Hermann Dietrich (Ernährung). Dies ging zusammen mit einer Zeit wirtschaftlichen Booms, die sich wiederentwickelnde und aufbauende deutsche Wirtschaft zog erhebliche Kapitalzufuhr vom Ausland an, das bessere Klima des Vertrauens schien der Sache der Republik zu Hilfe zu kommen. Bei diesen Wahlen im Mai 1928 verlor die Rechte an Stimmen und die NSDAP kam im Reichstag auf nur zwölf Mandate. Die Wahlresultate und Bildung einer scheinbar soliden Regierung der Großen Koalition stärkten auch die Stellung unserer republikanischen Studentenorganisationen im Hochschulleben. Es war eben nicht mehr nur der preußische Kultusminister, der hinter uns stand, die Mehrheit des deutschen Volkes war für die Republik und auch die beiden größeren republikfeindlichen Parteien, die Kommunisten und die Deutschnationalen, hatten im Moment wenig zu bestellen. Ein besonderes Anliegen, das ich verspürte, war Kontakt mit dem Verein für das "Deutschtum im Ausland" (VDA), der jährliche Pfingsttagungen mit großer Beteiligung der Schul­ und studentischen Jugend abhielt. Einige meiner Kattowitzer Schul und anderen Freunde gingen dorthin. Der VDA war damals schon stark auf die Minderheitenschutzideen ausgerichtet, die mir von Hause her am Herz lagen. Der Anhängerkreis rekrutierte sich aber stark aus rechtsgerichteten Kreisen, und die unheilige Mischung aus Minderheitenschutzparolen und nationalistischem Chauvinismus war, meiner Ansicht nach, gar nicht in der Natur der Sache. Republikanisches Interesse und Beteiligung am VDA schien mir daher wünschenswert. Werner Mahrholz hatte sich auch seit vielen Jahren für Auslandsdeutschtum als eines der Themen seiner schriftstellerischen und journalistischen Tätigkeit interessiert, und mit dem Kontakt, den ich mit ihm hatte, war ich ermutigt, an der Pfingsttagung 1928 des VDA teilzunehmen. Ich meldete mich vorher bei der Studentengruppe des VdA in Berlin, die vom VdST­er Neumann geleitet wurde, erklärte, wer ich bin und daß ich teilnehmen würde. Es war eine lange Bahnfahrt von Berlin. In meinem Abteil saßen drei VdSter, die Skat spielten, es kam kaum eine Unterhaltung auf, die Stimmung war antagonistisch. Auf einer der Haltestellen kam ein anderer Student dazu und setzte sich mir gegenüber; wir hatten eine sehr angeregte und auch recht persönliche Unterhaltung. Man konnte mit ihm sehr vernünftig über viele politische und weltanschauliche Fragen sprechen, auch wenn so viele Ansichten sehr gegensätzlich waren. Es stellte sich bald heraus, daß der mir gegenüber sitzende Zusteiger Hermann Pröbst war, Vorstandsmitglied der Deutschen Studentenschaft, ein bayrischer Katholik, seinen Namen kannte ich. Er schien ein recht gemäßigter Mann im Führungsgremium der Deutschen Studentenschaft zu sein. Abgesehen von einer wirklich interessanten und aufgeschlossenen Unterhaltung hatte sein Zusteigen mich von der Alleinreise im Abteil mit den eher provokativen Skatspielern erlöst. Ich habe nie erfahren, ob er zufällig zustieg. Erst nach beinahe zwei Jahren bin ich ihm dann wieder begegnet. Bei der Tagung selbst war nicht nur die Landschaft am Wolfgangsee, sondern auch das Treiben der Menge, besonders der Jugend erfrischend, aber es war nicht wirklich interessant. Die Formen der Studententagung waren konventionell, ein großer Kommers als Höhepunkt. Der Klang patriotischer Lieder schwoll durch den Saal, und als nationalistische Begeisterung so besonders stark anschwoll bei dem Lied "Schleswig­Holstein meerumschlungen", da wollte ich am liebsten mich herausreißen. Das war es also "von der Etsch bis an den Belt". Gehörte das mit Dänemark auch zum Katalog der Revision des Versailler Vertrages? Plötzlich kam mir die Unterhaltung über die Kaiserpfalz von Goslar, aus der Religionsstunde in der Schule in den Sinn, und wieder kam ein Fragezeichen: was tat ich eigentlich hier? Nach meiner Rückkehr nach Berlin besuchte ich nochmals Neumann im VDA, wie er gebeten hatte, um meinen Kommentar über die Tagung zu geben. Ich fand, Verbundenheit mit den Auslandsdeutschen darf nicht gleichbedeutend mit nationalistischen Kundgebungen sein, und die Form des Kommerses verleitet dazu. Eine zeitgemäßere Form wäre besser, zum Beispiel eine akademische Feier mit Vortrag und Musikumrahmung. Er notierte das. Im Verlauf meines 3.Semesters waren zu meinen Pflichten im Demokratischen Studentenbund und der Freiheitlichen Studentenschaft der TH noch Mitarbeit im Deutschen Studentenverband gekommen, mit Sitz im neugebildeten Hauptausschuß. In der ersten Sitzung war ich dafür, die Gründungserklärung so zu halten, daß ein Weg offen blieb für Zusammenarbeit zwischen den studentischen Lagern in der praktischen studentischen Selbstverwaltungsarbeit. Meine Einstellung war beeinflußt davon, wie sich die Dinge da an unserer TH entwickelt hatten. Mir schien immer wesentlich, eine Brücke zu den Gemäßigten im anderen Lager aufrecht zu erhalten, als beste Chance für eine Verbreiterung und damit Festigung einer republikanischen Front. Zu dem Gremium, das da beisammen war, gehörten auch ältere, frühere republikanische Studentenführer, die im ersten Jahr des Deutschen Studentenverbands uns mit Rat und Tat halfen. Ich blieb aber ziemlich isoliert mit meiner Einstellung, und als dann während unserer Sitzung eine sehr feindselig gehaltene Erklärung der Deutschen Studentenschaft zur Gründung unseres Verbands veröffentlicht wurde, da war jede Mäßigung vom Tisch. Einer unserer älteren Mentoren, Hans­Helmuth Preuss(9), wandte sich etwas höhnisch zu mir: "sehen sie, so lassen einen manchmal die besten Freunde im Stich". Mein Maurerpraktikum im Norden Berlins in den Sommerferien 1928 ist mir auch für politsche Eindrücke in Erinnerung geblieben. Es war ja grade erst nach den für die Sozialdemokraten und die Republik so erfolgreichen Wahlen 1928, die Stimmung war zuversichtlich, von Nationalsozialisten war auf dem Bau noch kaum zu hören. Mein Maurerpolier hatte schon viel in der sozialdemokratischen Parteiorganisation miterlebt. Es gab mir aber einen neuen Einblick über deutsch­jüdische Beziehungen. Er machte durchaus einen Unterschied daraus, daß ich jüdisch war. Er grenzte es ganz scharf ab von nationalsozialistischer, antisemitischer Propaganda, die schon damals recht lautstark wurde, er hatte auch einen eingeheirateten jüdischen Schwager in der Familie, es war so nichts feindliches in seiner Einstellung, aber der Unterschied nicht nur klar empfunden, sondern auch sofort ausgesprochen und bei Namen genannt, da war kein Raum für die Art von Tabu, das jüdische Assmilation oft errichten zu wollen schien. Mir war das recht so. Im Grunde genommen hat es mir geholfen, spätere antisemitische Angriffe, zum Beispiel in Studentenversammlungen an der TH mit größerem Gleichmut zu ertragen. Auch nach dem Wechsel im Studium blieb ich bei meiner politischen Aktivität. Im demokratischen Studentenbund gab es eine vielfältige Reihe von Vortragenden bei den wöchentlichen Zusammenkünften. Einmal hatten wir Theodor Heuss eingeladen, er wollte vorher mit mir seinen Vortrag besprechen. So fuhr ich zu ihm nach Steglitz, es war ein richtiges Gelehrtenzimmer, sehr gemütlich, wo man sich unterhielt, er bot mir eine riesige Brasilzigarre an, weit größer und schwerer als ich sonst damals schon rauchte, und die sich dann auch nicht gut mit der Rückfahrt vertrug. In der Demokratischen Partei gab es deutliche Gegensätze und Spannungen zwischen linken und rechten Flügeln, das machte sich auch beim Studentenbund bemerkbar. Der demokratische Reichstagsabgeordnete Dr. Hermann Fischer, Präsident des Hansabundes, eines Verbandes mittlerer industrieller und gewerblicher Firmen (er galt als Inhaber der größten Zahl von Aufsichtsratsitzen in Deutschland), dominierte, wenn nicht die Partei, so doch den rechten Flügel; er war selbst einst Korpsstudent und zeigte großes Interesse für unseren Studentenbund, ohne viel Gegenliebe zu finden. Der Studentenbund war zwar nicht so links wie die Jungdemokraten, aber Einflüsse von Wirtschaftsverbänden waren nicht populär. Da war schon viel mehr Sympathie für Anton Erkelenz, Gewerkschaftsführer. Eine große Traditionsfigur in der Partei war Friedrich Naumann geworden, und als die ihm nächsten Nachkommen galten wohl Theodor Heuss und Gertrud Bäumer, die auch bei uns sprach. Ich finde es schwer zu sagen, ob sie zum rechten oder linken Flügel der Partei gehörten, sie waren betont national in der Außenpolitik, wie es ja Naumann auch gewesen war, und so auch Hermann Dietrich, also eher rechts, ohne daß dies von der wirtschaftspolitischen Seite her kam. Anders wieder Oskar Meyer, von zunehmendem Einfluß (10) in Fraktion und Partei, Syndikus der Berliner Handelskammer und mit der Wirtschaft eng verbunden, aber sonst nicht rechts. Auch Dr. Ludwig Haas, als alter süddeutscher Liberaler Politiker sehr angesehener Abgeordneter (11) sprach bei uns, er war jüdisch und ein KCer. Die Geister schieden sich damals vehement an einer gespenstischen Frage: dem Bau des Panzerkreuzers "A". Unter den Beschränkungen des Versailler Vertrages für deutsche Rüstung war der Bau von vier solchen Schiffen erlaubt. Die neue Regierung der Großen Koalition hatte von der vorherigen den Beschluß zum Bau geerbt, und als dies in den Etat aufzunehmen war, entstand starke Opposition innerhalb der sozialdemokratischen Partei und auch bei Teilen der Demokraten. Die Polemik und Presseagitation nahm Ausmaße an, die meinem Gefühl nach in keinem Verhältnis zum wirklichen Gewicht der Sache standen. Der Kampf darüber hatte eine lähmende Wirkung im Gefüge der Großen Koalition. Auch in unserem Studentenbund gab es Gegensätze darüber, wie die Demokratische Partei sich dazu stellen sollte. Ich fand, da der Versailler Vertrag das vorsah, sollte der Panzerkreuzer gebaut werden und die Demokraten mit Zentrum und Deutscher Volkspartei dafür stimmen. Es gab auch verantwortliche sozialdemokratische Politiker, die dafür stimmen wollten (12). Im Studentenbund war ich allerdings in der Minderheit damit. Im November 1928 fuhren wir nach Frankfurt zu einer Tagung des Reichsbunds Deutscher Demokratischer Studenten, wo diese Frage auch eine gewaltige Rolle spielte und ebenso dann auf einer Sitzung des Parteiausschußes, an der ich als einer der Studentenvertreter teilnahm (13). Der demokratische Parteiausschuß war vollkommen gespalten um den Panzerkreuzer; ich erinnere mich am stärksten an das Auftreten von Dietrich dabei(14), und mir ist das alles so lebhaft in Erinnerung, weil es mich irritierte, daß ich eine so verschiedene Meinung von vielen meiner guten Freunde im Studentenbund hatte, auch wenn ich nicht ganz allein damit stand. Aus heutiger Sicht wird dieses Argument um den Bau des Panzerkreuzers A mit den deutschen Zielen für Revision der deutschen Ostgrenzen mit Polen und diese schon damals als virulent angesehen (15). Man kann heute aus unterdessen veröffentlichen Akten herauslesen (16), daß diese Revisionsziele bei manchen deutschen Amtsstellen und Politikern immer eine Rolle spielten, aber die Spuren, die einem heute aus den Akten in die Augen springen, geben meiner Erinnerung nach nicht ein wirkliches Bild des Klimas in der Öffentlichkeit der späten 1920er Jahre. Diese Frage der Ostgrenzen gehörte doch damals nicht zu einem politischen Aktionsprogramm, sie war ein "Vorbehalt". Deutschland war schwach, Ruhrbesetzung und Inflation gerade überstanden, das Hauptthema der Gegner der "Erfüllungspolitik" der Weimarer Parteien, auf die Stresemann und seine Partei eingeschwenkt waren, war die Last der Reparationen. Frankreich, Polen und die Kleine Entente waren militärisch unvergleichlich stärker als die Weimarer Republik. Das Argument, daß der Panzerkreuzer als eines der im Versailler Vertrag erlaubten Verteidigungsmittel dann auch gebaut werden sollte, schien plausibel. Die deutschen Vorbehalte über die Ostgrenzen waren publizistisch hochgespielt worden, um den Locarno Westpakt der deutschen Rechten mehr schmackhaft zu machen. Die Linke ergriff Aktion gegen den Panzerkreuzer, aber nahm nicht entscheidend Stellung gegen Wünsche nach Revision der Ostgrenzen, was wirklich der Kern der Sache gewesen wäre, wenn man dem Bau dieses Panzerkreuzers einen aggressiven Anstrich beimaß. Die Frage der Ostgrenzen aber war ein heißes Eisen, sie war eher Tabu, man wollte sie nicht wirklich in den Bereich ernster öffentlicher Diskussion bringen. Nachdem Hitler 1939 die Bevölkerung über diese Frage der deutsch­polnischen Grenzen in den 2. Weltkrieg führen konnte, wird einem klar, welche fatalen Wirkungen manchmal auch solche "Vorbehalte" haben können, wenn sie zu oft und lange genug gemacht werden. Auch in der damaligen Stimmung in Oberschlesien lag die Idee einer Rückkehr des abgetretenen Gebiets sehr fern. Die deutsche Minderheit war in einem andauernden Kampf um die Behauptung ihrer Minderheitsrechte auf Defensive ausgerichtet, und das waren die motivierenden Gesichtspunkte des täglichen Lebens. Als Karl­Heinz Lubowsksi in Krakau studierte, trat er dort auch dem Verband deutscher Studenten bei, und durch ihn lernte ich auch dessen damaligen Vorsitzenden Jobst v. Idendorff kennen, mit dem er sich sehr angefreundet hatte. Wendorff stand politisch auf der deutschen Rechten, war sehr intelligent und recht vorurteilslos. Scherzend betonte er mir gegenüber immer, daß sein mecklenburgischer Verwandter ja Demokrat und preußischer Landwirtschaftsminister im Kabinett Braun war. Es war interessant, die verschiedenen Stimmungen unter diesen deutschen Studenten in Polen zu beobachten. Sie waren ja dauernd den Polen, polnischer Kultur und Geschichtsvorstellungen nahe, das tägliche Leben sozusagen in sie eingebunden. Manche von ihnen kamen aus deutschen Siedlungsinseln im Innern Polens, z.B. Lodz oder Ostgalizien. Ihre Existenz als Deutsche in Polen hatte also damals nichts direkt zu tun mit deutschen Wünschen nach Revision der Versailler Ostgrenzen. Sie waren in einer typischen deutschen Minderheitssituation. Es hieß aber nicht, daß sich unter ihnen nicht manchmal die radikalsten deutschen Nationalisten fanden (17). Um nun von der Betrachtung mehr schicksalsvoller Fragen zu meinen Erinnerungen an den demokratischen Studentenbund zurückzukehren, es gab dort auch gesellschaftliche Veranstaltungen. So hatten wir ein Sommerfest draußen im Westen, als Redner hatte ich Gertrud Bäumer gewonnen, man mußte sie dort an einem Bus abholen, mit mir machen wollte das Gabriele Müller. Sie war die Schwester der Filmschauspielerin Renate Müller, deren Vater beim Berliner Tageblatt war. Gabriele war überhaupt ein sehr eifriges und ehrgeiziges Mitglied unseres Studentenbunds, wo wir also nicht nur Talent sondern auch Charme versammelt hatten (18). Im Wintersemester gab es dann den jährlichen Ball im Kaiserhof, den ich damals mit vorbereiten und eröffnen mußte. Es waren alle demokratischen Minister gekommen, und viele andere prominente Freunde. Die Damenrede sollte Dr. E. Willy Hellpach halten, der grade von einer Operation ins politische Leben zurückgekehrt war, wozu ich ihn bei der Einführung herzlich beglückwünschte. Er dankte dafür überschwenglich (19), und ich hatte mit ihm seitdem guten Kontakt. Die Abfassung eines kleinen Theaterstücks war dem im linken Flügel stehenden Berthold Weinberg überlassen worden, es wurde eifrig dafür geprobt, ich hatte es nicht gesehen. Das Theaterstück erregte den Unwillen von Koch­Weser und die Minister verließen bald nach der Aufführung unseren Ball. Kurz darauf bat mich Oskar Meyer in den Reichstag. Er war ein guter Freund unseres Studentenbunds geworden, und wollte mir sagen, daß es nicht richtig war, Koch­Weser als schlafenden Minister darzustellen, und ihn dann die Visionen haben zu lassen, die man auf linker Seite bei uns über die Entwicklung der Weimarer Republik hatte. Ich war erstaunt über die Empfindlichkeit, hatte den frühen geschlossenen Aufbruch einiger Gäste als unerfreulich empfunden, aber nicht als so ernst, wie er anscheinend gemeint war. Oskar Meyer setzte noch hinzu, das Stück wäre ja auch schlecht geschrieben gewesen und "es war nicht einmal gereimt." Das schien mir eine erstaunliche Bemerkung. Als ob das anscheinend politische Odium des Stückes dadurch gelindert gewesen wäre, wenn es besser geschrieben und gereimt war. Vielleicht hatte er recht. Zum Schluß des Semesters gab ich den Vorsitz im Berliner demokratischen Studentenbund ab, da ich in den Vorstand des Deutschen Studentenverbands gewählt werden sollte, und damit begann noch ein neues Kapitel in meiner hochschulpolitischen Tätigkeit. In studentischen Organisationen war ja die zeitliche Begrenzung der Tätigkeit des Einzelnen ein zwingendes Merkmal. Das Studium war an sich begrenzt in Zeit, oder sollte es sein, und Examenszwänge kamen auch während des Studiums oft dazwischen, so finden wir einen steten Wechsel in der Mitarbeiterschaft. Im ersten nur dreiköpfigen Vorstand des DStV waren Heinz Ollendorf (FWV) als Vorsitzender, Kurt Berlowitz (Sozialist) und Wolfram Müllerburg (Demokrat). Im neuen fünfköpfigen Vorstand mußten die Gewichte anders, den Kräfteverhältnissen entsprechend verteilt werden. Die Sozialistische Studentenschaft war die bei weitem stärkste der republikanischen Studentengruppen, und ihr Vorsitzender Kurt Berlowitz übernahm den Vorsitz im DStV, und sie erhielten noch einen weiteren Sitz mit Gerhard Geisler aus Leipzig. Die sehr aktive sozialistische Studentengruppe dort galt als ziemlich linksstehend. Geissler hatte ein sehr starkes Verhältnis zu den Aufgaben der studentischen Selbstverwaltung, die im Studentenverband auch sein Ressort wurden. Einer wichtigen Entwicklung mußte bei der Vorstandsumbildung Ausdruck gegeben werden: Der Verband der Zentrumsstudenten hatte beschlossen. dem Deutschen Studentenverband beizutreten, ihr Vorsitzender Felix Raddatz kam in den Vorstand. Er wurde ein wirklicher Eckpfeiler der republikanischen Studentenorganisation, und ich habe ihn sehr geschätzt. Die Zentrumsstudenten standen in ihrer Partei verhältismäßig links, ganz anders als die katholischen Korporationen CV und KV, die nur sehr langsam ihre Verbindung zur Deutschen Studentenschaft lösten. Felix Raddatz, etwas älteren Semesters, war mit dem katholischen Sozialfürsorgewerk des Dr. Sonnenschein verbunden gewesen. Je ein Sitz sollte den Demokraten und den freiheitlichen Korporationen zukommen. Die Demokraten waren bereit, den in Auslandsbeziehungen und fremden Sprachen besonders erfahrenen Joachim Joesten, ein Mitglied des Demokratischen Studentenbunds Berlin, in den Vorstand zu entsenden, wo er dann ein Auslandsamt des Deutschen Studentenverbands aufbauen sollte und das auch sehr erfolgreich tat. Er machte es aber zur Bedingung, daß er sich nicht mit Vertretung der Interessen der Demokraten den anderen Mitgliedsorganisationen gegenüber und auch mit allgemeinen hochschulpolitischen Fragen nicht befassen muß. Er hatte ja auch in der demokratischen Studentenorganisation nie eine Stellung bekleidet oder sich mit solchen Sachen beschäftigt. Dem sollte damit abgeholfen werden, daß ich als Mitglied der FWV Vertreter der freiheitlichen Verbindungen werde und dabei dann auch die spezifischen Interessen des Reichsbundes Demokratischer Studenten wahrnehmen würde, dessen größte Ortsgruppe, die Berliner, ich ja für ein Jahr grade geleitet hatte. Von den freiheitlichen Verbindungen war außer der FWV hauptsächlich der KC im Deutschen Studentenverband tätig und im Hauptausschuß vertreten und stimmte gegen meine Wahl in den Vorstand (20). Mein Vorstandsamt im Deutschen Studentenverband lief nur vom Frühjahr 1929 bis wir dann den 1.Republikanischen Studententag im Januar 1930 veranstalteten. Es war eine erfüllte und aufregende Zeit für mich, in sehr guter Zusammenarbeit mit den anderen Vorstandsmitgliedern. Ich hatte, was wir das "Innenamt" nannten, den Kontakt mit allen Ortsgruppen an den verschiedenen Hochschulen, und den Kreisleitern und ­Ausschüssen, in denen sie zusammengefaßt wurden. Es gab in diesen Kreis­ und Ortsgruppenführungen starke und eindrucksvolle junge Persönlichkeiten, zum Teil schon durch Hauptausschußitzungen des Verbandes in Berlin bekannt, der Kontakt von Berlin wurde durch häufige Rundschreiben aufrecht erhalten, Kreistage wurden veranstaltet und besucht (21). Im DStV wurden auch die entsprechenden österreichischen Studentengruppen Mitglieder. Besonders die Sozialistische Studentenschaft hatte eine sehr starke und aktive Mitgliedsgruppe in Wien, es gab auch eine Freiheitliche Gruppe dort, und es schien selbstverständlich, daß die republikanischen Studenten sich auch auf großdeutscher Basis organisieren würden, wie es die Deutsche Studentenschaft war. Ähnliche Gruppen an den deutschen Hochschulen in Prag und Brünn sollten auch in den Deutschen Studentenverband einbezogen werden, der so zeigte, daß er sich dieser außerhalb Deutschlands lebenden Deutschen durchaus bewußt war und von seinem politischen Standpunkt eine Haltung und Lösungen dazu entwickeln wollte. So wurde dem Innenamt im Vorstand noch ein Grenzlandamt angegliedert. Anfang Mai 1929 hielten wir eine Grenzlandtagung in Dresden gemeinsam mit den "Lese­ und Redehallen der Deutschen Studenten" von Prag und Brünn ab (22). Das waren schon alte Institutionen freiheitlicher Studenten, also mit der deutschsprachigen liberalen Prager Kulturszene verwandt. Dazu kamen noch sozialistische Vertreter. Unsere Tagung, stark besucht und recht repräsentativ im Weißen Hirsch aufgezogen, war eine Notwendigkeit für eine lebendige Eingliederung der Prager und Brünner Gruppen und war auf dem Programm unseres Vorstands. Für mich traf es sich mit dem lebhaften Interesse an der Problematik und Bewegung der Minderheiten in Europa, das ich von meiner oberschlesischen Heimat her hatte (23). Die DStV Gruppe an der TH Dresden und auch der demokratische Studentenbund, von Helmut Eichler geleitet, bereitete die Tagung gut vor, und sie stärkte auch seine Stellung in Dresden, wo es in der Studentenschaft der TH ebenso wie in Leipzig auch Strömungen für Distanzierung von der Deutschen Studentenschaft gab. Von dieser wurde nach 1927 auch die zentrale Organisation für die studentische Wirtschafthilfe abgetrennt, das Deutsche Studentenwerk mit Sitz in Dresden, und die Tagung gab uns auch willkommene Gelegenheit für engeren Kontakt mit führenden Leuten im Studentenwerk(24). Danach kam Pfingsten, immer eine schöne Zeit für politische Jugend­ und Studententagungen. Die Jungdemokraten hatten ihre Jahrestagung in Worms als ein deutsch­französisches Jugendtreffen mit der Jugendorganisation der französischen Radikalsozialistischen Partei Herriots. Die demokratischen Studenten beteiligten sich mit ihrer Jahresversammlung aller Mitgliedsgruppen und auf französischer Seite entsprach dem die "Ligue d'Action..."unter Führung von Pierre Mendès­France. Auf der Sitzung des Reichsbunds demokratischer Studenten sollte Joachim Joesten als demokratischer Vertreter über die Arbeit des Deutschen Studentenverbands berichten. Ich selbst wollte wieder die Pfingsttagung des VDA, diesmal in Kiel, besuchen. Der Leiter des DStV in Kiel war Helmuth Spiegel, er führte auch die Sozialistische Studentengruppe und beteiligte sich auch aktiv beim VDA in Kiel. Sein Vater, Rechtsanwalt und altverdienter Sozialdemokrat, war damals Stadtverordnetenvorsteher von Kiel. Meine vorjährige Unterhaltung mit Neumann hatte anscheinend Eindruck gemacht. Im Mittelpunkt der Studententagung stand nicht mehr ein Festkommers, sondern eine Art Akademie in einer Kapelle, mit Vortrag des bekannten Berliner Historikers Pflug­Hartung und mit Kammermusikumrahmung. Abends gab es einen Vortrag des eindeutig auf republikanischer Seite stehenden Schriftstellers Walter v. Molo über "Dichtkunst und Volkstum". Da hatte sich doch das Blatt etwas gewendet. Es war eben die Zeit, als die Regierung der Großen Koalition noch intakt war, die Republik zunehmend an Achtung und Stärke zu gewinnen schien. Helmuth Spiegel wollte eine Anzahl republikanischer Studenten aus umliegenden Hochschulen zur Teilnahme gewinnen, und auch unser norddeutscher Kreisleiter Kreye aus Hamburg, ein linker Sozialist, kam. Kurz vor meiner Abreise nach Kiel ergab sich eine Komplikation: Joachim Joesten weigerte sich nach Worms zu kommen und die ihm dort zugedachte Rolle zu übernehmen. Müllerburg bat mich, meine Pläne für Kiel aufzugeben und statt dessen nach Worms zu kommen, unser Studententag würde erwarten, von einem Vorstandsmitglied des Deutschen Studentenverbands aus erster Hand einen Bericht zu bekommen. Diese Sitzung sollte erst am Pfingstmontag stattfinden. Wir verabredeten, wenn ich wirklich dabei sein muß, würde er ein Telegramm nach Kiel schikken, und er versprach, sein Bestes zu tun, das zu vermeiden. So fuhr ich also nach Kiel, die Spiegels hatten ein sehr gastliches Haus, viele sozialdemokratische Prominente hatten sich im Gästebuch eingetragen, wir waren nun eine ganze Anzahl republikanischer Studenten beisammen. Es gab einen Republikanischen Akademikerklub in Kiel, der für uns einen Begrüßungsabend veranstaltete, ich mußte über den Deutschen Studentenverband sprechen. Es gab mehrere angesehene republikanische Hochschullehrer in Kiel: Baumgarten, Schücking, Tönnies, Kantorowicz u.a. Die VDA Tagung ließ sich auch interessant an, ich traf ja auch Bekannte aus Kattowitz, darunter Otto Ulitz und die alte Familienfreundin Rosa Speier, und natürlich traf ich auch Werner Mahrholz, dem der so viel besser republikanische Anstrich dieser Kieler VDA Tagung auch sehr zusagte. Bei der Studententagung gab es aber doch noch einen peinlichen Mißton. Wir saßen alle zusammen in dem Kirchenschiff, als Dr. Pflug­Hartung seinen Vortrag hielt und eine scharf gegen die Weimarer Republik gerichtete Äußerung nach der anderen von ihm zu hören war. Es wurde immer ungemütlicher, Kreye neben mir zupfte an meinem Ärmel, wir guckten uns alle an, und schließlich beschloß ich, aufzustehen und den Saal zu verlassen. So taten acht bis zehn von uns hinter mir, wie wir da herausdefilierten. Das war eigentlich schade, die Form der Veranstaltung gut gedacht, der für den Abend geplante Vortrag Walter v. Molo's ebenso, aber ich hatte keine Wahl, so ausfällig war Pflug­ Hartung geworden. Am Samstagabend kam Müllerburgs Telegram, das mich um Hilfe für Montagmorgen in Worms bat. Ich nahm es mit sehr gemischten Gefühlen auf. Am Pfingstsonntagmorgen packte ich meinen Koffer, gab ihn nach Worms auf und ging nur mit meiner Aktentasche voll mit Papieren, Waschzeug, Pyjama etc. zur Morgenfeier der VDA Tagung auf die Festwiese. Dort sah ich Werner Mahrholz, er stand mit dem demokratischen Reichstagsabgeordneten, dem früheren Reichsinnenminister Külz, der sich auch für den VDA interessierte, am Rande der Festwiese. Mahrholz winkte mir zu, und ich stand dann dort mit den beiden, aber vor dem Ende mußte ich gehen, um meinen Zug nach Worms zu erreichen, was ich Mahrholz auch erklären wollte. Am nächsten Morgen war ich in Worms. Der Jungdemokratentag war auch ein fröhliches Treiben, aber ich mußte sofort zur Sitzung der Studententagung; es war eine recht große Versammlung aus allen Teilen Deutschlands und gut, so viele wiederzusehen oder kennenzulernen. Es sind mir viele in guter Erinnerung geblieben, Hamburg, München, Marburg, Köln. Es war ganz klar, sie wollten wirklich über den Deutschen Studentenverband sprechen und hatten was zu sagen. Zum Schluß wurde ich zum stellvertretenden Vorsitzenden des Reichsbunds der demokratischen Studenten gewählt. Nach unseren Sitzungen nahm ich noch teil an einer Zusammenkunft mit den französischen radikal­sozialistischen Studenten über Pläne für weitere Zusammenarbeit. Ich saß Pierre Mendès­France gegenüber. Danach kam eine Rheinfahrt von Besuchern der Jugend­ und der Studententagungen, an der ich nun auch teilnahm, und auch später in der Woche an einem Westdeutschen Kreistag des DStV in Köln. Die Rheinfahrt von Mainz nach Königswinter war wirklich schön. Als stärkste Persönlichkeit unter den Jungdemokraten auf dieser Rheinfahrt ist mir der Hamburger Erich Lüth in Erinnerung geblieben, von großer Vitalität, etwas wild, er hat ja auch im politischen Leben der jungen Bundesrepublik sich wieder einen Namen gemacht. Mit Hans Fest und Paul Freitag von der Hamburger Studentengruppe verstand ich mich besonders gut, und dann war dort noch Tantzen aus Göttingen, der "junge" im Gegensatz zu seinem Vater, der demokratischer Reichtstagsabgeordneter, ein oldenburgischer Bauernführer und dort Ministerpräsident war. Der Sohn war ein sehr begeisteter und ungestümer Kämpfer für die republikanische Sache, repräsentierte die Demokraten und den DStV in Göttingen. Er hatte sich mehrfach bei uns in Berlin über die Göttinger Universität, Rektor und vor allem den Kurator Schulz beschwert, die es weiter zuließen, daß die Deutsche Studentenschaft mit ihren Anschlagbrettern als die offizielle Studentenvertretung auftrat. Zu meinen Aufgaben im "Innenamt" des DStV gehörte laufender Kontakt mit dem preußischen Kultusministerium, vor allem mit Ministerialrat Leist, auch in solchen Fragen. Der Kurator hatte Leist gegenüber alle Anschuldigungen Tantzens zurückgewiesen und ihn als einen Krakehler bezeichnet. Leist meinte, jemand sollte doch mal hinfahren und ihm berichten. Tantzen hatte das selbst schon gefordert und auf der Rheinfahrt überredete er mich, nach der Kölner Kreistagung auf dem Rückweg nach Berlin mit ihm über Göttingen zu fahren. Meine kurze Zeit dort teilte ich zwischen ihm, der Besichtigung der mit Recht beanstandeten Anschlagbretter und dem alten Freund Karl­Heinz Lubowski, der sein Studium in Krakau aufgegeben und nun in Göttingen weiter Jura studierte. Er war oft bei Göpperts, leider war Maria Göppert, meine so begeisternde Bekanntschaft vom vorherigen Sylvester nicht da, die alte Frau Professor lud mich mit Karl­Heinz zum Tee ein. Zurück in Berlin, berichtete ich Ministerialrat Leist über die Göttinger Anschlagbretter. Er wollte veranlassen, daß der Geheimrat Schultz seines Postens als Kurator der Universität enthoben würde. So endete mein ausgedehnter Pfingstausflug in diesem so lebhaften Sommersemester 1929. Die Aktivitäten des DStV entfalteten sich gut, überall im Reich wurden Versammlungen und Vortragsabende unter Mitwirkung republikanischer Hochschullehrer und Politiker veranstaltet, im Juli 1929 kam unsere neue Zeitschrift "Student und Hochschule" heraus. In unserem Büro lernte ich viele der jungen sich bei den Sozialdemokraten profilierenden Politiker und Publizisten kennen, die uns dort besuchten, darunter Adolf Reichwein, damals Pressechef des Kultusministers Becker, Theo Haubach, Walther Pahl, Immanuel Birnbaum, damals Korrespondent der Vossischen Zeitung in Warschau, und Rudolf Küstermeyer, Veteran der Studentenbewegung aus Freiburg. Da zu meinem neuen Studium juristische Vorlesungen und Übungen an der Universität und Handelshochschule gehörten, führte mich mein Weg ohnehin mehrmals die Woche ins Zentrum Berlins und eben auch in unser DStV Büro in der Albrechtstraße gegenüber dem Schiffbauerdamm. Dazu kam noch die Preußische Staatsbibliothek und dann war noch das Caffee Schön (Unter den Linden). Mein Nachfolger im Demokratischen Studentenbund Berlin, Robert Hess, gestaltete das Leben und Programm der Berliner Ortsgruppe sehr lebendig und hatte besondere Begabung für menschliche Kontakte. Es hatte sich ein regelmäßiger Mittagsstammtisch im 1.Stock des Caffee Schön gebildet, er war der eigentliche Promotor und blieb die Seele dieser Einrichtung. Die Teilnehmerzahl konnte so zwischen vier und zwölf schwanken; es fing mit uns demokratischen Studenten an, aber dann kamen auch Freunde aus den anderen republikanischen Gruppen, auch regelmäßig Veteranen wie Winners, damals Korrespondent des Christian Science Monitor, später bei der Chicago Herald Tribune in Berlin, sein Freund Dr. Brock, sehr katholisch, auch bei einer ausländischen Zeitung. Zu den besonders engen Kontakten hatte beim Demokratischen Studentenbund der Staatssekretär im preußischen Innenministerium Dr. Abegg gehört, und jetzt im Deutschen Studentenverband wurde das noch ausgesprochener. Er war in vielem ein wichtiger Mentor. Das Reichsbanner Schwarz­Rot­Gold hatte im politischen Leben Deutschlands eine immer stärkere Bedeutung bekommen. Stoßtrupps von Nationalsozialisten und Kommunisten spielten eine zunehmende Rolle im politischen Kampf. Das Reichsbanner sollte eine Schutzbewegung dagegen sein, und Studenten waren auch beteiligt. Der auch zum VDST gehörige Republikanische Studentenbund von Prinz Hubertus Löwenstein und Walter Kolb hatte Pfingsten 1929 eine Wartburgtagung gemeinsam mit dem Reichsbanner abgehalten und ein süddeutscher Kreistag des DStV wurde anläßlich einer Reichsbannertagung abgehalten. Am 28.Juni 1929 war der 10.Jahrestag der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags. Die Reichsregierung, in delikaten Verhandlungen mit den Alliierten über eine bessere Regelung der Reparationsfrage durch den Young­Vertrag verwickelt, hatte sich jede Demonstrationen aus diesem Anlaß verbeten, aber die Deutsche Studentenschaft rief zu solchen Demonstrationen an den Universitäten auf, und es gab an der Universität Berlin die ersten gewalttätigen Zwischenfälle. War es zulässig, daß die Polizei eingriff, trotz der Autonomie der Hochschulen, auf der der Chirurg Dr. His als Rektor bestand, und sich damit dem Vorwurf antirepublikanischer Haltung aussetzte? Auf der anderen Seite war Dr. Abegg, dem die preußische Polizei unterstand, als eines der stärksten Instrumente der Weimarer Republik angesehen. Am 15.Juli fand in Kiel die regelmäßig veranstaltete Norddeutsche Woche statt. Die Deutsche Studentenschaft war immer sehr prominent dabei gewesen, auch bei den Sportveranstaltungen, und diesmal wurde der DStV auch eingeladen. Kurt Berlowitz und ich sollten dorthin fahren. Gleichzeitig sollte dann dort der Norddeutsche Kreistag des DStV stattfinden. Als wir bei einem Besuch bei Staatssekretär Abegg unsere Reise erwähnten, stellte sich heraus, daß sein Bruder Regierungspräsident in Schleswig­Holstein war und sozusagen der Gastgeber der Tagung. Wir sollten uns bei ihm melden, ja er wollte veranlassen, daß sein Auto uns am Bahnhof abholt. So kam es dann auch, eigentlich etwas zu viel. Die Teilnahme an der Tagung war ja eine rein repräsentative Sache, aber der Kreistag war gut, außer Hamburg und Kiel hatten wir auch in Greifswald und Rostock sehr lebhafte Gruppen, und das Haus Spiegel war wieder sehr gastlich. Auf der Rückreise standen wir im Zugkorridor nahe dem Berliner Rektor His, der Berlowitz erkannte und uns in ein langes Gespräch verwickelte, von Politik und Hochschule über Probleme der heutigen Jugend, Weltanschauung und Religion. Es bezeugte seine tiefe Menschlichkeit, konnte aber nicht verhindern, daß man bei neuen Studenten Unruhen in kommenden Monaten entgegengesetzter Meinung über Schutz für rechtsradikale Auschreitungen durch eine Hochschulautonomie war. Gerade weil diese Studentenausschreitungen in den Rahmen zunehmender Gewalttätigkeit der Stoßtrupps der radikalen Parteien zu kommen schienen, durften sie nicht allein gelassen werden. Noch aber schien die Republik auf recht festen Füßen zu stehen. Zu ihrem 10.Jahrestag am 11.August 1929 fanden große Feiern statt. Wir gingen alle in das Stadium zum offiziellen Festakt, das Reichsbanner trat in Stärke auf, es gab keine Störungen. Beim Rückweg im Tiergarten zwischen Zelten und Brandenburger Tor sahen wir Carl Severing, den Reichsinnenminister, vor uns, es war ein lebhafter Betrieb festlich gestimmter Mengen, weit und breit war kein Schutz oder Bewachung für ihn zu sehen. Wir dachten, wo könnte man das sonst so sehen, es schien doch gut um die Republik bestellt. Aber das Hochgefühl dieses Tages blieb mir als Episode eben so in Erinnerung, weil es doch schon zu dieser Zeit, kaum ein Jahr nach den Wahlen in Mai 1928 so viel stärkere Anzeichen fortwährender Bedrohung der Republik gab, die ich selbst auch zu spüren bekam. Ich wohnte schon für die Ferienpraxis in Reinickendorf, im Norden Berlins. Die Belegschaft war ganz anders als auf dem Bau im Vorjahr, hauptsächlich junge Lehrlinge oder Praktikanten wie ich, und es war nicht nur das sondern auch das Jahr, das vergangen war. Es gab unter den jungen Leuten Gruppen von Nationalsozialisten und Kommunisten und dauernd Spannungen. Von den kursleitenden zwei Werkmeistern war einer deutlich in Sympathie mit seinen Nazischülern. Die standen ja schon unter enormem emotionellem Auftrieb und das geisterte durch die Werkräume. Gott sei Dank war das Arbeitsklima in der Gießerei Jachmann, in der ich abschloß, noch normaler, Arbeiter und Angestellte aller Altersklassen, Spannungen zwischen etwaigen Nazis und Kommunisten kaum zu merken. Ich war aber froh, als ich wieder nach Charlottenburg ziehen konnte. Die nationalsozialistische Studentengruppe an unserer TH war sehr gewachsen, trat ungeheuer aggressiv gegen jeden auf, es war an der TH besonders stark und rapide; in dem fanatischen, von Haß platzenden Hammersen hatten sie einen rasanten Führer. Er stand dem Dr. von Leers nahe, gehörte also zu den Radikalsten unter den Nazis. Die Mehrheit der rechtsgerichteten Großdeutschen Studentenschaft war noch immer durch die Korporationen des Waffenrings vertreten, aber die Nationalsozialisten bauten eine eigene Studentenorganisation auf. Die Korporationen hatten Schwierigkeiten, ein Teil ihrer Mitglieder wurden Nazianhänger. Im Ausschuß der Wirtschaftshilfe, damals vom Chemiker Dr. Pschorr sehr unparteiisch präsidiert, saßen Korporarionsstudenten als Vertreter der Großdeutschen Studentenschaft, die Zusammenarbeit war sachlich. Es wurden aber von Zeit zu Zeit Vollversammlungen aller Studenten abgehalten, und Hammersen benutzte das für die Nationalsozialisten, um ganz radikale Anträge zu stellen. Ich stellte sofort Antrag auf Ablehnung, er wetterte gegen den "Juden Grünfeld", Geheimrat Pschorr entzog ihm schließlich das Wort. Die Anhänger der Großdeutschen Studentenschaft waren gespalten, ihre gemäßigteren Korporationen stimmten für Ablehnung. Sollte das eine neue Entwicklung werden? In Leopold Schwarzschild's "Das Tagebuch" drängte der demokratische Politiker Dr. F.Friedensburg auf energischeren Kampf gegen die Republikfeindlichkeit der Studenten, und sah die Hauptursache in den Korporationen. Am 31.Oktober sprach er auf einem Diskussionsabend, der dafür vom Deutschen Republikanischen Reichsbund und der republikanischen Alt­Akademikervereinigung "Der Bund" in dem Demokratischen Klub einberufen wurde. Es sprachen in lebhafter Diskussion u.a. Kultusminister Bekker, manche andere Prominente und für die Studenten Kurt Berlowitz. Daher meldete ich mich nicht zum Wort, aber als uns nachher Leopold Schwarzschild um sich versammelte, um zu fragen, was nun gegen die Korporationen getan werden sollte, da wies ich auf meine Erfahrung an der TH Charlottenburg hin, wo sich als die gefährlichsten Hauptgegner der Republik bereits die organisierten Nationalsozialisten profiliert hatten, daß also von meiner Sicht her die größere Gefahr nun von Hitlers Bewegung kam, die auch in manchen Korporationen als Bedrohung von außen empfunden wurde. Das hieß nicht, daß ich nicht auch in Zukunft gegen die schlechten Einflüsse der Korporationen sprach oder schrieb, ja ich sollte sogar wegen solcher Äußerungen noch bald einem speziellen Boykott durch meine Schulkameraden ausgesetzt sein, aber die politische Entwicklung hatte ich von meiner zugespitzten Erfahrung an der TH her schon damals richtiger gesehen als die anderen Teilnehmer an der Diskussion. Am 3.Oktober war Stresemann gestorben. Ich erinnere mich deutlich an das Gefühl des Verlusts und auch einer deutlichen Gefährdung der Republik, denn es war zu diesem Zeitpunkt er, der die Große Koalition zusammen zu halten schien. Nach Locarno und Briand­Kellog Pakt führte die Verständigungspolitik zum Abkommen über den Young Plan für die Abwicklung der Reparationen, eine Erleichterung gegenüber früheren Reglungen, aber doch neuerliche Festschreibung einer gewaltigen Last. Die Zustimmung zum Young­Plan durch Stresemann auf einer ersten Haager Konferenz im August 1929 war die logische und unausweichliche Kulmination der durch Locarno eingeleiteten Verständigungspolitik, ein Schlüsselpunkt in der Politik der republikanischen Parteien, einschließlich Stresemanns Deutscher Volkspartei. Man darf nicht vergessen, das Rheinland war noch von alliierten Truppen besetzt. Rheinlandräumung und Annahme des Youngplans hingen zusammen. Zu den deutschen Sachverständigen, die zur Abfassung des Planes zugezogen wurden, gehörte auch der Reichsbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht, und er wandte sich plötzlich gegen die Annahme des Plans. Die Deutschnationale Partei Hugenbergs leitete ein Volksbegehren gegen die Annahme des Youngplans ein, und die Nationalsozialisten schlossen sich an. Es trug dazu bei, ihnen entscheidenden Auftrieb zu geben. Wo sie im Mai 1928 noch mit 12 Mandaten gegen 73 Mandate der Deutschnationalen in den Reichstag gezogen waren, wurden sie nun, schon durch die Vehemenz ihrer Propaganda, gleich lautstarke Partner auf der Rechten. Das Referendum am 22.Dezember 1929 ging aber für Annahme des Youngplans aus, die Republik hatte nochmals gewonnen. In einigen Kommunal­ und Landtagswahlen aber zeigten sich bald beunruhigende Gewinne für die Nationalsozialisten. Zu den Erinnerungen an diese turbulenten ausgehenden Monate des Jahres 1929 gehören natürlich auch die ersten Nachrichten aus New York über Börsenkrach und beginnende schwere amerikanische Wirtschaftskrise. In Deutschland wurde man sich bald der ernsten Bedeutung, die das haben würde, bewußt. Noch aber bestand, durch den Ausgang des Youngplan Referendums bestärkt, starke Zuversicht für die Sache der Weimarer Republik, und der DStV bereitete seinen 2. Studententag für Anfang Januar 1930 vor. Für den Hauptfestakt suchten wir je einen Redner der drei Parteien oder jedenfalls der politischen Richtungen, die sie für uns repräsentierten. Als Redner für die demokratische Richtung wurde der Historiker Friedrich Meinecke vorgeschlagen. Berlowitz wollte das Privileg, ihn um seinen Vortrag zu bitten, ich ging in den Reichstag zum Prälaten Dr. Schreiber und Felix Raddatz sah den Sozialdemokratischen Staatsrechtler Heller. Vor dem Studententag fuhr ich für Weihnachten und Sylvester nach Hause. Als ganz persönliche Erinnerung: ich wollte gleich danach wegfahren für die Vorbereitungen zum Studententag, da brach ein Sturm los. Mein Vater beklagte sich, daß mein Studium zu kurz kommt, und wozu das alles gut sei, zum Beispiel in Kiel bei der VDA Tagung hätte ich bloß die Aktentasche von Herrn Külz getragen. Er mußte sich sehr geärgert haben, was unsere Freundin Rosa Speier glaubte, in Kiel gesehen zu haben, und meinen Eltern erzählt hatte. Das Bild da am Rande der Festwiese kam mir wieder in Erinnerung. "Aber es war doch meine Aktentasche.." sagte ich und mußte den Zusammenhang mit der frühen Abreise nach Worms erklären. Die Erwähnung von Worms machte die Lage nur wenig besser. Meine Eltern hatten damals tagelang nicht gewußt, wo ich eigentlich bin. Schließlich sprach Vater noch ein ernstes Wort, ich täte jetzt viel zu viel in meinem Alter, verausgabe mich, und dann würde ich später viel weniger Erfolg haben. Daran habe ich oft gedacht. Wir einigten uns auf einen mittleren Abreisetermin. Von den zum republikanischen Studententag sich versammelnden demokratischen Delegierten wurde vorher eine Tagung des Reichsbunds demokratischer Studenten abgehalten. Wolfram Müllerburg wollte dafür als Hauptredner neue, nicht so parteipolitisch abgestempelte Namen, und damit vielleicht neues Blut und Ideen zeigen. Es kamen Alfred Weber aus Heidelberg und Heinrich Simon, Herausgeber der Frankfurter Zeitung. Hier war also ein Versuch der Neuerung aus der liberalen Mitte heraus. Ich fand mich auf der Abendveranstaltung, auf der sie sprachen, zwischen den beiden sitzend, die Tagung verlief in Begeisterung und Kampfstimmung. Auf der DStV Tagung mußte ein neuer Vorstand gewählt werden. Studenten konnten ja solche Ämter nie lange wahrnehmen, Berlowitz wollte ins Referendar­, ich im Juni ins Vorexamen an der TH gehen, Raddatz war schon berufstätig. Als neuen demokratischen Vertreter wollte ich unbedingt Helmuth Eichler aus Dresden gewählt haben, sehr energisch und mit Durchschlagskraft, eher leicht rechts von der Mitte und mit gutem Kontakt mit gemäßigt rechten Gruppen auch im Deutschen Studentenwerk in Dresden, dessen Direktor Dr. Schairer auch als Gast bei einigen Veranstaltungen der DStV Tagung teilnahm. Diese Kreise schienen gerade auf dem Weg, sich mit der Republik besser zu befreunden. Trotzdem viele links von Eichler standen, fand der Vorschlag beim demokratischen Studententag Zustimmung, und ich wurde beauftragt, den Vorschlag auf der DStV Tagung mit Bestimmtheit zu vertreten. Man wußte schon, daß es gegen Eichlers Wahl bei den Sozialisten Widerstand gab. Der DStV republikanische Studententag wurde dann eine starke Kundgebung von gemeinsamer Einsatzbereitschaft und Kampfstimmung. Der äußere Rahmen war anspruchsvoll aufgezogen (25). Am Vorabend gab Minister Becker einen Empfang im Preußischen Kultusministerium, zu der Eröffnung der Tagung am 10.Januar kam der Reichsinnenminister Severing. Am Abend gab uns die Vereinigung freiheitlicher Akademiker "Der Bund" einen vom demokratischen Abgeordneten Dr. Bohnert (26) geleiteten Empfang im Preußischen Landtag, wo der Reichskanzler Hermann Müller sprach. Die Akademische Kundgebung mit den Reden von Meinecke (Geschichte, Staat und Gegenwart), Hermann Heller (Die Bedeutung der gesellschaftlich­wissenschaftlichen Auffassung in allen Geisteswissenschaften) und Prälat Schreiber (Die politische Bedeutung des Auslandsdeutschtums) fand auch gute Beachtung. Bei der folgenden Schlußsitzung nominierte ich Eichler für den demokratischen Vorstandsposten, es gab heftige Meinungsverschiedenheiten, ein zunehmendes Patt. Ein Freund sagte mir nachher, daß ich trotz kompromißlosem Bestehen auf unserem Antrag durch die Art meiner Reden es verstanden hätte, die Wogen zu glätten, statt sie weiter aufzurühren. Ich habe mich im späteren Leben oft an diese Wertung erinnert. Es überzeugte jedenfalls den Zentrumskollegen Felix Raddatz, der die Sozialisten zum Einlenken bewegte. Ein Nachwort zum Studententag von Werner Mahrholz "Aufbruch zur Fahrt" (27) enthielt auch kritische Töne. Er bejahte den Erfolg in der Suche nach einem unmittelbaren Aktionsprogramm, auch mit einigen Ideen für eine Hochschulreform, aber war kritisch, daß der Studententag eine Wiederherstellung studentischer Selbstverwaltung erst sich vorstellen konnte, wenn "das Bekenntnis zur Republik für die überwiegende Mehrheit der Studenten selbstverständlich ist", und daß zunächst auch die Wirtschaftshilfe als staatliche Organisation auszubauen sei. Das scheint ihm zu viel Hang zum 'Gouvernmentalismus'...man erwartet viel, ja alles vom Vater Staat, und man verläßt sich doch, trotz allen Minderheitscharakter des jetzigen Deutschen Studentenverbandes, zu wenig auf die eigene Kraft". Das linke Argument dagegen war, die Volksmehrheit hatte sich besonders 1928 eindeutig für die Republik entschieden, es durfte keine studentischen Parlamente geben, die von der klassenmäßig verschiedenen Zusammensetzung der Studentenschaft her staatsfeindlich sein würden. Ich war damals, wie Mahrholz, auch für eine positivere Einstellung zu den Führern, die von gemäßigteren Leuten der Studentenschaft kamen, eine Selbstverwaltung mit für die republikanischen Parteien annehmbarer Verfassung zu planen. Mein Bestehen auf der Wahl Eichlers hatte damit zu tun. Man mußte versuchen, die Schichten auf der gemäßigten Rechten zu erreichen, von denen man vielleicht kein "Bekenntnis zur Republik", aber die Bereitschaft, mit der Republik als selbstverständlich zu leben, im Laufe der Zeit erwarten konnte. Als die Republik 1928 stark war, gab es schon Zeichen solcher Entwicklung im politischen Leben. Der Monarchismus, ursprünglich Hauptquelle der Gegnerschaft gegen die Republik verblaßte, wenn auch nicht im Militär, doch in Bürgerschaft und Jugend. Auch wenn man schon die nationalsozialistische Drohung sah, daß dies wirklich Hitlers Ernte werden würde, schien nicht vorbestimmt. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Auseinanderfallen der Großen Koalition standen noch bevor. Eichler war also gewählt worden. Als mein eigentlicher Nachfolger im Vorstand des DStV, nämlich als Vertreter der freien Verbindungen, wurde der Mediziner und FWVer Kurt Lange gewählt, der eine lange Erfahrung in hochschulpolitischer Arbeit noch aus der Zeit der alten Selbstverwaltung an der Universität Berlin hatte. Die anderen drei neuen Vorstandsmitglieder, die Sozialisten Heinrich Kaun (Vorsitz), Martin Böttcher und Zentrumsmann Mielnickel erschienen mir damals, als wenn sie zu einer jüngeren Generation gehörten. Ich wurde gebeten, von Heinz Ollendorf die Herausgeberschaft unserer Zeitschrift "Student & Hochschule" zu übernehmen, was auch zur Kontinuität der Vorstandsarbeit beitragen sollte. Das schien zeitlich kaum so eine schwere Belastung, und ich nahm es gern an. Man gehörte zu den etwas älteren Semestern in der Hochschulpolitik, und es ergaben sich neben den Vorbereitungen zum Examen und der Herausgeberschaft der DStV Zeitschrift noch andere interessante Aufgaben. Bald nach unserem Studententag fanden zwei sehr aktuell scheinende Vortragsabende im Demokratischen Studentenbund unter Robert Hess statt. Erst kam Hans Zehrer, dann Gustav Stolper, Herausgeber der sehr erfolgreich und angesehen gewordenen Wochenschrift "Der deutsche Volkswirt", verantwortlich für ein neues Wirtschaftsprogramm der Demokraten (28) und einer ihrer prominenten Reichstagsabgeordneten. Der außenpolitische Redakteur der "Vossischen Zeitung" Hans Zehrer war im Oktober 1929 in der Zeitschrift "Die Tat" als Wortführer einer neuen Bewegung der politischen Mitte hervorgetreten, mit sehr unherkömmlichen Akzenten und starkem Abstand vom Parteienspektrum. Für die Dezemberausgabe 1929 von "Student und Hochschule" hatten wir programmatische Beiträge von den verschiedenen im DStV zusammenarbeitenden Richtungen gesucht. Ich suchte einen für die Demokraten, also die politische Mitte, und wurde mit der Frage überrascht, warum nehmen Sie nicht Hans Zehrer, er will ja für die junge Mitte sprechen. Mich hatte an seinem Artikel in der Tat manches beeindruckt, hatte ihn nie kennengelernt, aber kannte mich ja in der Vossischen Zeitung aus, erklärte ihm, worum es uns ging, und er gab mir dann seinen Artikel "Die Ideologie der Studenten" (29). Als Zehrer nun Anfang 1930 im Demokratischen Studentenbund sprach, war er noch ganz im Vordergrund in der Tat, spätere enfants terribles wie Ferdinand Fried oder Giselher Wirsing hatten sich noch nicht profiliert. Zehrer gab eine gute Präsentation seiner Ideen, vieles sehr erstaunlich, manches zum Nachdenken. Als heftigster Opponent gegen seine Angriffe auf das liberale Gedankengut in Politik und Wirtschaft trat Rudolf Olden hervor, der auf die nächste Veranstaltung, den Vortrag seines Freundes Gustav Stolper hinwies, dem man vertrauen könne, Hans Zehrer endgültig ad absurdum zu führen. Es meldete sich auch ein junger intellektueller Typ von gutem Auftreten und Benehmen, der sich aber als Nationalsozialist vorstellte und voraussagte, daß Hans Zehrer sich ihnen bald anschließen würde. An diese Voraussage habe ich in den nächsten drei Jahren oft denken müssen. Für den Vortrag von Gustav Stolper bat mich Robert Hess, in der Diskussion den Standpunkt der demokratischen Studenten zu vertreten. Das war natürlich nicht so gemeint, daß dieser in Richtung von Hans Zehrers Ideen in der "Tat" ging, gemeint waren die alten Gegensätze in Betonung und Zielen zwischen linken und rechten Flügeln der Partei, Jungdemokraten und Parteizentrale, Erkelenz und Hermann Fischer. Gustav Stolpers Ideen und ein neues Wirtschaftsprogramm luden zu neuer Stellungnahme ein. Ich wollte dieses Mandat nicht annehmen, sagte aber zu an der Diskussion teilzunehmen. Es war ein schwieriges Thema, keineswegs war einem die Lage klar, Spannung zwischen marktwirtschaftlichen und sozialpolitischen Geboten beherrscht ja auch heute noch die theoretische und politische Diskussion. Gustav Stolper kam mit dem ihm sehr befreundeten Theodor Heuss (30), beide mit ihren Frauen, da war also auch Elli Heuss­Knapp. Gustav Stolper kam also in sehr guter Gesellschaft und vertrat sein marktwirtschaftlich orientiertes Programm auch für Zeiten einer Krise mit großem Elan für sozialpolitische Belange, ein Ausblick die Krönung des Wohlstands der Arbeiterschaft durch weite Streuung des Aktienbesitzes. Kaum hatte er geschlossen, erteilte Robert Hess mir das Wort. Das war nicht so verabredet, ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, konnte einige sachbezogene in diese Richtung gehende Kommentare geben und Fragen an den Redner stellen, aber die beschwingte Phillipika gegen ihn von linksdemokratischer Seite, die kam nicht von mir, dafür aber dann von Dr. Bruno Ravecker, Geschäftsführer des Arbeitnehmerausschusses der Partei, der eine Broschüre über "Wirtschaftsdemokratie" veröffentlicht hatte (31). Gustav Stolper hatte sich zwar ausdrücklich gegen die "Tabuisierung" dieses Begriffes durch den rechten Flügel der Partei unter Hermann Fischer gewandt, aber für Dr. Ravecker, in der demokratischen Gewerkschaftsbewegung prominent, gab es da noch immer einen großen Graben. Es war eine gute Lehre: die Mitte, wenn man ihr verhaftet ist, bleibt ein schwieriger politscher Standort. In der deutschen Innenpolitik war Anlaß zu Sorge über die Zukunft der politischen Mitte. Deren Parteien hatten entscheidende Stimmeinbußen erlitten in Zwischenwahlen, in denen neben links­ und rechtsradikalen auch neuentstandene Splitterparteien der Mitte die Statur besonders der Demokraten reduziert hatten. Schon seit langem war das Gebot einer Konsolidation der Kräfte der Mitte, Zusammenschlusses wenigstens von Demokraten und Volkspartei immer wieder unter Diskussion, aber an Widerständen in beiden Parteien gescheitert. In der Deutschen Volkspartei gehörten die Hochschulgruppen zu den Aufgeschlossenen und Fortschrittlichen, die gerade damals im Januar 1930 für solche Bestrebungen sehr offen waren. Aus Unterhaltungen, an denen ich sehr aktiv teilnahm, ergab sich die Idee, daß wir Studenten eine Initiative ergreifen und mit gutem Beispiel vorangehen sollten, und anstelle der Verhandlungen der Parteipersönlichkeiten hinter den Kulissen, unter den Studenten eine öffentliche Parole setzen sollten. Wir bildeten eine lose Gruppe, nannten es "Arbeitsring der politischen Mitte" und luden zu einer Kundgebung gleichgesinnter Studenten ein (32). Der Raum war voll, die Stimmung sehr ernst. Dazu war aller Grund. Die Weltwirtschaftskrise traf zunehmend die deutsche Wirtschaft, die Arbeitslosenzahl betrug schon 2.5 Millionen, die finanziellen Lasten ihrer Unterstützung verlangte Steuererhöhungen, auf die sich die Parteien der Großen Koalition nicht einigen konnten. Es gab das lähmende Gefühl einer möglichen Regierungskrise, die zu einer Krise des parlamentarischen Parteienstaats werden könnte. Unsere Versammlung schien ein Erfolg, und eine größere sollte für März vorbereitet werden mit einem prominenten, allen Beteiligten genehmen Redner. Ich schlug Dr. Hellpach vor, er war demokratischer Reichstagsabgeordeter, aber hatte eine sehr unabhängige Haltung, alle Veranstalter stimmten zu und ich übernahm, ihn dafür zu gewinnen. Ich schrieb ihm nach Heidelberg, und er gab mir das Datum seines nächsten Reichstagsbesuchs in Berlin, an dem ich mich dort bei ihm morgens melden sollte. Er war sehr begeistert über unseren Vorschlag und verwickelte mich in längere Unterhaltung über die Lage und Zukunft, ich wollte eigentlich schon gehen, aber er hielt mich bis zur Mittagstunde dort in der Wandelhalle des Reichstags. Datum und Thema waren nun verabredet. Einige Tage später brachten die Zeitungen die Nachricht, daß er sein Reichstagsmandat niedergelegt hatte, aber im Vorstand der demokratischen Partei bleiben würde. Er hatte mir nichts darüber gesagt, als er seine Beteiligung an unserer Versammlung des Arbeitsrings der politischen Mitte zusagte. Aber eine der Begründungen war jetzt, daß er für eine Einigung der politischen Mitte arbeiten wollte (33). Die Versammlung war gut besucht, zu beiden unserer Versammlungen kamen viele, die nicht Mitglieder der beteiligten politischen Gruppen waren, wo also das Thema "politische Mitte" ein Anreiz zur Sammlung zu sein schien, und das war ja die Idee. Nach dem Vortrag kam man noch zu einem Glas Bier zusammen, gekommen waren auch, ich hatte meinen Augen kaum getraut, Hermann Pröbst und Kurt Kersten, beide immer noch aktiv in der Führung der Deutschen Studentenschaft. Die beiden hatten seinerzeit die scharfe Erklärung der Deutschen Studentenschaft gegen die Gründung des DStV unterzeichnet, nun kamen sie beide zu einer maßgeblich von mir mitveranstalteten Versammlung. Hermann Pröbst hatte ich ja auf meiner langen Bahnfahrt nach Gmunden Pfingsten 1928 kennengelernt. Wir kamen auch nun wieder ins Gespräch. Es war mir nicht klar, wo der Hauptantrieb für ihren Besuch lag. Sie gehörten zu denen in der Deutschen Studentenschaft, die für neue Bemühungen um Wiederherstellung einer studentischen Selbstverwaltung selbst unter Aufgabe gewisser rechtsradikaler Bedingungen standen und schon daher an Kontakten mit der Mitte interessiert. Aber es war doch wohl auch eine mehr politische Note dabei. So wie meine Erinnerung an Proebst war, schien mir das schon plausibel. In der Deutschen Studentenschaft und den Korporationen gab es ja schon scharfe Konflikte mit den totalen Herrschafts­ und Gleichschaltungszielen des Nationalsozialistischen Studentenbunds und seiner von außen her kommenden radikalen Führungsschicht. Die Anderen mußten oft das Gefühl bekommen, daß sie mit dem Rücken gegen die Wand standen (34). Wenige Tage später änderte sich die Lage der Weimarer Republik entscheidend. Die Regierung der Großen Koalition konnte sich nicht über die Finanzpolitik einigen und trat zurück. Die Demokraten waren entsetzt über diese Entwicklung (35). Spätere Beurteilung sieht den neuen Reichskanzler und Zentrumsführer Heinrich Brüning, obgleich den Christlichen Gewerkschaften nahestehend, doch auch rechtsgerichteten Einflüssen in seiner Partei und auch vom Reichspräsidenten und dem General v.Schleicher kommend, ausgesetzt mit dem Ziel einer Regierung ohne Sozialdemokraten. Bei diesen wird dem Arbeitsminister Wissell zugeschrieben, daß kein Kompromiß zustande kam, für das der Reichskanzler Müller gewesen wäre, gegen das aber auch in der Deutschen Volkspartei von Schwerindustrie und nationalistischem Flügel her starke Kräfte arbeiteten. So war Unvernunft weit verteilt und die Weimarer Republik begann ihre tragische Talfahrt. Die Zentrumspartei blieb aber zusammen mit ihren Partnern der Weimarer Koalition in der preußischen Regierung Otto Brauns und unsere Freunde bei den Zentrumsstudenten mit uns weiter im Deutschen Studentenverband. Da die Regierung Brüning keine eigene parlamentarische Mehrheit hatte, beherrschte das Leben von nun an nicht nur die schwere wirtschaftliche Depression, sondern auch eine permanente ungelöste politische Krise. Fühlungnahme unter den Parteien der Mitte stand nun unter deutlichem Druck, es war gewiß nun ein Thema geworden, aber im Sommersemester 1930 wurde der studentische Arbeitsring selbst nicht mehr aktiv. Ich hatte ja aber auch andere Aufgaben. Für meine Herausgeberschaft der Zeitschrift des DStV "Student und Hochschule" hatten wir erst ein neues Heim suchen müssen, da der Verlag Mosse es nicht weiter machen wollte. Nach einigem Zureden, unter anderem vom Präsidenten des Reichsbanner Hörsing, war Ullstein schließlich bereit, unsere Zeitschrift zu drucken, vorausgesetzt ein Redakteur der Vossischen Zeitung würde bei der Redaktion mitzureden haben. Zu meiner Erleichterung wurde unser alter Freund Richard Winners, unterdeß von seiner amerikanischen Zeitung zur Vossischen Zeitung übergetreten, dazu delegiert. Ich mußte, bevor der Verlag sich entschied, noch Unterhaltungen mit den Herren Ernst Schäffer, Dr. Magnus und Müller haben, und dann kam ich also bis zu meinem Weggang von Berlin mehrmals im Monat in die Kochstraße zu Ullstein, wo ich ja schon vorher nicht fremd war. Werner Mahrholz aber lebte nicht mehr. Er war an einem damals unheilbaren Nierenleiden erkrankt. Ich hatte ihn noch in seiner Redaktionsstube öfters besucht, auf Vorschlag seiner Frau dann auch zu Hause, wo ich einmal seinen engen Freund Theodor Däubler traf. Ich nahm später an der Urnenbeisetzung teil, es war eine für intellektuell Interessierte selten erlauchte Versammlung. Ich hatte einen sehr bewegten Nachruf in unserer Zeitschrift "Der demokratische Student" geschrieben. Winners teilte das Redaktionszimmer mit Hans Zehrer und Friedrich Wilhelm v. Oertzen zu meiner großen Überraschung, und unsere regelmäßigen Besprechungen spielten sich meist in deren Gegenwart ab. Einige Male gingen wir auch alle zusammen zum Mittagbrot in die Kantine. Es kam aber nicht zu wirklichen Unterhaltungen über die großen Probleme dieser Jahre, jedenfalls nicht während meiner Besuche in ihrem gemeinsamen Redaktionszimmer. Auch sonst schien eher eine Distanz, Winners stand viel mehr links als sie. Zu anderen Bekanntschaften, die ich in der Vossischen Zeitung gemacht habe, gehörte Erich Kramer, als er einmal Mahrholz vertrat (36). Ein anderer guter Bekannter wurde Carl Misch; durch ihn kam auch später einmal ein politischer Artikel von mir in die Vossische Zeitung. Ich hatte auch bei einer Aufgabe auf ganz anderem Feld mitgewirkt. Auf unseren Januar Studententagungen war die Notwendigkeit eines Programms für Hochschulreform betont worden. Wolfram Müllerburg, Robert Hess, Erwin Oeser, Rudolf Sobernheim und ich bildeten die Gruppe, die es für die demokratischen Studenten ausarbeiten wollte. Die wichtigste Mentorin dabei wurde Gertrud Bäumer, die unser Programm dann auch in der von ihr mitherausgegebenen Monatsschrift "Die Hilfe", ursprünglich von Friedrich Naumann gegründet, im Rahmen einer speziellen Hochschulnummer im Juli 1930 veröffentlichte. Ich hatte mehrere Besprechungen mit ihr, es halfen uns auch u.a. Dr. Theodor Bohner,verschiedene Professoren und Ministerialrat Leist. Wir waren manchmal ziemlich halsstarrig und bestanden auf Punkten, von denen einige ältere Freunde abrieten, so die Idee der Humanistischen Fakultät, an der alle Studenten auch an allgemeinbildenden Vorlesungen teilnehmen sollten, um ein Gegengewicht gegen die zunehmende Spezialisierung herzustellen. Für die Mitarbeit an diesem Programm begann ich auch einige Literatur über Bildungsfragen zu lesen, so Scheler und Spranger, man verfolgte ja überhaupt immer weiter die geistesgeschichtliche Entwicklung dieser Jahre als unabdingbar für ein intelligentes Interesse am Zeitgeschehen. Da war das ursprüngliche Interesse an Geschichte, einige Ideen der Jugendbewegung, und nun auch, wenn man zu grundlegenden Dingen des Denkens kam, ein starker Eindruck von der Phänomenologie, Bergson und Husserl. Zu den neuen Leuchten der sich bildenden marxistischen Frankfurter Schule konnte ich kein Verhältnis gewinnen, aber das Denken von Karl Mannheim machte mir Eindruck, die Herausforderung der Intelligenz zu einem über Ideologieverdacht stehenden, unabhängigen Denken. Man bewegte sich damals im Demokratischen Studentenbund und FWV in einem Kreis, der an diesen Fragen lebhaft Anteil nahm. Da wir bei Büchern und Ideen sind, will ich noch ein Buch erwähnen, auf das mich ein nichtjüdischer Freund bei den Demokraten damals hinwies: "Nationalismus im Vorderen Orient" von Hans Kohn, damals Nahostkorrespondent der Frankfurter Zeitung, später recht anerkannter Historiker. Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die von ihm geschilderte Entwicklung eines säkularistischen Nationalismus unter den Arabern der Nachfolgestaaten des türkischen Imperiums eine schwere Behinderung für die zionistischen Ziele werden könnte. An diesen frühen Hinweis habe ich noch oft gedacht. Um mit unseren Gedanken zur innenpolitischen Entwicklung in Deutschland zurückzukehren, Anstrengungen, doch noch einen Block der Parteien der Mitte in den frühen Sommermonaten 1930 zu bilden, kamen nicht vorwärts, einige jüngere Kräfte aus der Deutschen Volkspartei blieben in Kontakt darüber mit den Demokraten. Ein anderer Gesprächspartner war der Jungdeutsche Orden (37), mit seinen 800.000 Mitgliedern auch ein Zeichen für die Anziehungskraft außerparlamentarischer Bewegungen mit Frontkämpfer­ und Jugendbewegungshintergrund. Mit seiner Studentengruppe waren wir schon im "Arbeitsring der politischen Mitte" zusammengekommen, hielten Kontakt und ich wurde gut bekannt mit deren Führer Söhlmann. Im demokratischen Parteivorstand trat Hellpach entschieden für nach der rechten Mitte zielende Fusionsverhandlungen ein bis zu den gerade von den Deutschnationalen abgefallenen Freikonservativen um Treviranus (38). Am nächsten kam ich der Stimmung, als während eines Besuches bei Staatssekretär Abegg er uns für eine Unterredung bei Hermann Dietrich, damals Vizekanzler und Wirtschaftsminister, anmeldete. Die anscheinende Unentschlossenheit der Parteispitze beunruhigte uns, sie schien den Kopf verloren zu haben. Er versicherte, es gäbe zwar manche, von denen man das sagen könnte, aber er wisse genau, was zu tun. Es klang zuversichtlich, aber was war gemeint? Für die Sommersemesterferien 1930 hatte ich zunächst den Plan, den Studententag der gegnerischen Deutschen Studentenschaft in Breslau als Pressekorrespondent zu besuchen, was mir der Breslauer Vertreter der Vossischen Zeitung auch möglich machte. Während der Tage wurde bekannt, daß Demokraten und Jungdeutscher Orden (Jungdo) ihren Zusammenschluß verkündet hatten. Söhlmann vom Jungdo nahm auch als Gast an der Tagung teil, wir begegneten uns nun unter scheinbar ganz neuen Vorzeichen, mit viel Händeschütteln natürlich, aber ganz freimütig auch gegenseitiges Erstaunen. Ganz so hatten wir uns das eigentlich nicht vorgestellt, daß ein Zweiergespann von Demokraten und Jungdeutschen Orden die Antwort für den Drang nach einem starken, vereinten Block der politischen Mitte sein könnte (39). Die geplante neue "Staatspartei" sollte auch Zuzug von einigen jüngeren Leuten aus der Deutschen Volkspartei bekommen (40). Bei den Demokraten hatte es wochenlange Debatten, aber keine erkennbare einheitliche Linie oder Entscheidungen gegeben. Als Damoklesschwert hatte über allen die mögliche Auflösung des Reichstags und Neuwahlen geschwebt, falls das ohne parlamentarische Mehrheit regierende Kabinett Brüning, das von den Demokraten mitgetragen wurde, nicht seine finanzpolitischen Notverordnungen gegen Vetoanträge im Reichstag durchbringen könnte. Dietrich, unterdeß von Brüning zum Reichfinanzminister ernannt, kämpfte hart um eine Mehrheit für seine Finanzvorlagen. Aus einer lebhaften Schilderung (41) geht hervor, daß er sehr wohl einen Plan hatte, was zu tun sei. Es gelang ihm auch, aus der damals durch Abspaltungen nach der Mitte zu bedrohten Deutschnationalen Partei 25 Abgeordnete auszubrechen, aber 32 Hugenbergtreue blieben hart in ihrer Ablehnung ebenso wie die Sozialdemokraten. Der Reichstag wurde von Brüning aufgelöst. Nachdem sich die Parteien der Großen Koalition im März nicht auf die Fortsetzung ihrer gemeinsamen Regierung hatten einigen können, war es ein weiterer Schritt zu der Katastrophe, die Deutschland bevorstand, daß die Weimarer Republik im Juli 1930 nicht vor der Auflösung des bis 1932 gewählten Reichstags bewahrt werden konnte. Um die Chancen bei den Neuwahlen am 14.September zu verbessern, entschied sich Koch­Weser für die Gründung der Staatspartei mit dem "Jungdo". Ich war nun aber grade bei diesem Breslauer Studententag, eine Herausforderung, die ich gesucht und nun zu bestehen hatte. Auch früher waren republikanische Studenten als Beobachter an solchen Tagungen, Werner Mahrholz ein regelmäßiger Besucher gewesen. Ich hatte Hoffnung auf Gruppen, die sich von radikalen und besonders nationalsozialistischen Tendenzen distanzieren würden. Um für Anhänger einer breiteren Mitte zu werben, ließ ich die Juli Hochschulnummer der "Hilfe" mit unserem Hochschulreform­Programm vor der Festhalle verteilen. Bei Ankunft legte ich meinen Presseausweis vor, traf einige Bekannte und hörte plötzlich während der Eröffnungsprozedur vorne meinen Namen. Hammersen von der TH Charlottenburg (42) protestierte gegen meine Anwesenheit. Der Jude Grünfeld sei ein unbequemer, ja gefährlicher Gegner der Großdeutschen Studentenschaft an seiner TH und müßte des Saales verwiesen werden. Die Tagungsleitung sagte Prüfung seines Antrags zu. Nun ging die Tagung weiter, ich war nicht sehr beunruhigt, weniger eine negative Entscheidung als eventuelle Aufreizung zu Gewalttätigkeit durch Hammersen hätten mich beunruhigen können. Das war ja ein gewisses Risiko, wenn man mit Nationalsozialisten zu tun hatte. Ich erinnerte mich an frühere Hochschulunruhen an der Universität Berlin. Die republikanischen Studenten hatten beschlossen, sich bei einer angesagten völkischen Kundgebung zu einer Gegendemonstration zu stellen, und wir Älteren sollten das nicht nur den jungen Leuten überlassen. Vergeblich versuchte der deutschnationale Kollege in der Zentralstelle für studentische Völkerbundsarbeit, Wolfgang Straede, als ich ihn auf dem Weg zur Universität traf, mich zu einem friedlichen Kaffee irgendwo anders zu überreden. Ich ging zur Universität, es war höchst ungemütlich dort, aber es blieb bei einer hautnah drohenden Gewalttätigkeit. Jetzt saß ich also da in Breslau, mein Name war mit heftigen Angriffen auf mich genannt worden, ich saß ganz hinten unter anderen Pressevertretern und Gästen. Plötzlich sah ich Hermann Proebst, er schien mich zu suchen, kam auf mich zu, überreichte mir meinen Presseausweis und sagte, die Sache ist jetzt erledigt. Das war also gut so. Ich habe ihn dann nie wieder gesehen, aber die Begegnungen mit ihm habe ich in guter Erinnerung behalten (43). Die "Zentralstelle für studentische Völkerbundsarbeit" wurde gebildet von den Studentengruppen der politischen Parteien von den Sozialdemokraten zu den Deutschnationalen als akademische Gruppe der Deutschen Liga für Völkerbund, deren Büro sie auch teilte. Als Nachfolger von Müllerburg wurde ich dort Vertreter der Demokraten, hatte an Veranstaltungen schon oft teilgenommen. Es hatte auch ein Seminar über Minderheitspolitik unter dem Demokraten Dr. Junghann dort gegeben, das ja sehr in meinem Interessenkreis war und auch in deutscher Völkerbundspolitik eine zunehmende Rolle spielte. Über den Weimarer Koalitionsrahmen des DStV hinaus gab uns die Völkerbundsgruppe einen gewissen Kontakt zu den Studentengruppen der Deutschen Volkspartei und auch der Deutschnationalen, erstere durch Dr. Kurt Goepel und letztere durch Wolfgang Straede vertreten. Der Vorsitz rotierte jährlich, Straede wurde Vorsitzender für 1930/31, danach kam die Reihe an die Demokraten. Ich wurde für 1930/31 der aktivste Vertreter der Linken in der Zusammenarbeit mit Straede als Vorsitzendem. Das persönliche Verhältnis dabei gestaltete sich gut. Er kam aus Schleswig­Holstein. Die deutschnationale Studentengruppe arbeitete natürlich mit in der Deutschen Studentenschaft. Die Hochschulgruppe der Deutschen Volkspartei war dabei, sich von ihr zu distanzieren. An diese Mitarbeit in der Völkerbundgruppe erinnere ich mich als das wohl Interessanteste aus meiner politischen Tätigkeit während der Zeit in Berlin. Unsere "Zentralstelle" war Mitglied des Verbands der akademischen Völkerbundsligen (FUI), der jährliche Tagungen im Herbst in Genf abhielt, Ende August kam ich in der Pension an, wo unsere Delegation wohnte. Sie wurde von Strade geführt, mit mir als seinem Stellvertreter. Die Vorbereitung auf die Teilnahme an dieser Tagung und die Hauptthemen, die dort zur Sprache kommen würden, hatten natürlich schon in den Vormonaten Aufmerksamkeit und Zeit beansprucht. Die jährlichen Tagungen waren verbunden mit Sommerseminaren, die unter dem Patronat des englischen Historikers H. Zimmern standen; er hatte eine Tendenz sein Patronat auch etwas auf die Tagungen der FUI auszudehnen. Deutsche Teilnehmer des Seminars waren vorher immer nur von den Mitgliedsgruppen unserer Zentralstelle, also den Studentengruppen der politischen Parteien von den Sozialdemokraten zu den Deutschnationalen ausgewählt worden. Dr. Zimmern hatte gefunden, daß dies nicht genug begabte junge Wissenschaftler für den anspruchsvollen Charakter seiner Seminare gebracht habe, und er einen Teil der deutschen Kandidaten selbst suchen will. Das hatte dann aber mit der deutschen Delegation und der FUI Tagung nichts zu tun. Deren Themen waren weitgehend bestimmt von den gerade in der Völkerbundspolitik vorherrschenden, und es waren Themen, an denen der deutschen Außenpolitik besonders gelegen war. Die politische Situation in Europa stand noch im Zeichen der PostLocarno Aera. Die Alliierten Truppen wurden aus dem Rheinland zurückgezogen, der Young­Plan war angenommen. Ein weiteres Anliegen der Deutschen war die durch die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages entstandene Ungleichheit der militärischen Rüstungen, was sich in ein deutsches Anliegen für Allgemeine Abrüstung als ein Hauptthema für den Völkerbund umsetzte. Der französische Einwand dagegen war die Forderung nach "Sicherheit" als Vorbedingung für Abrüstung. Das hieß wohl Sicherheit gegen deutsche Versuche, Revisionen des Versailler Vertrages mit Gewalt zu erzwingen, wofür die Deutschen aber keine Rüstung hatten. Der ernsthafteste Schatten blieb die Weigerung der Deutschen, auch die östlichen Grenzen zu garantieren, also auf Revisionansprüche zu verzichten. Diese wurden zwar nicht für öffentliche Diskussion auf der Agenda gehalten, aber ein verwandtes Thema war der Minderheitenschutz. Er konnte jederzeit zum Tagesthema werden, wenn immer Verletzungen der wirtschaftlichen oder kulturellen Rechte deutscher Minderheiten in den östlichen Nachbarstaaten vorkamen, und sie taten es. Heutige Geschichtsschreibung (44), die dazu neigt, polnische Unterdrückungspolitik gegen die deutsche Minderheit nach Locarno als Abwehrstellung gegen die nicht aufgegebenen deutschen Grenzrevisionswünsche zu sehen, weist damit auf einen "circulus vitiosus", einen Teufelskreis hin. Das entsprach nicht den eigentlichen Zielen der Minderheitenbewegung, zu der deutsche Minderheitenführer und Außenpolitik erheblichen Impetus und Gedanken beisteuerten. Ein großer Teil der Minderheiten, darunter auch deutscher, lebten doch in Landstrichen, die gar nicht Gegenstand territorialer Dispute waren, wo sie aber eben in ihren nationalen Minderheitsrechten geschützt sein sollten. Aktiven Anteil an den Arbeiten der Minderheitenbewegung nahm auch die große jüdische Minderheit in Polen. Die mir von zu Hause aus so naheliegende Minderheitenfrage war neben dem Thema Abrüstung damals ein wichtiges deutsches Anliegen im Völkerbund. Briand hatte als Überholungsmanöver für das Argument Abrüstungs­Sicherheit den Europagedanken vorgebracht, aber das hatte noch kaum feste Formen angenommen. Mir schien die Europa­Idee die natürliche Lösung auch für die Minderheitenprobleme, die unter föderalistischen Strukturen ihre potentielle Aggressivität und Sprengstoffwirkungen verlieren könnten. Das war natürlich nicht in jedermanns Sinn. Europa bestand eben aus alten Nationalstaaten, wie Frankreich, und aus Nationalitätenstaaten, wie den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie und Polen, aber auch Belgien und Spanien. Da gab es so explosiv irridentistische Teile in der Minderheitenbewegung wie die Katalanen oder Wallonen oder damalige Kroaten. Aber die Führung des Minderheitenkongresses lag doch in weniger aggressiven, mehr verantwortungsbewußten Händen. Zu gleicher Zeit wie unser FUI Kongreß fand in Genf auch der jährliche Minderheitenkongreß statt, und ich ging als Zuhörer auch hin, es kamen auch andere von unserem FUI Kongreß. Das Thema Minderheitenschutz war auch auf die Agenda der nachfolgenden Septembertagung des Völkerbunds gekommen und ebenso als "wissenschaftlicher Teil" auf unsere FUI Agenda (45). Dafür waren drei Vorträge vorbereitet worden, und einer von Dr. Mirkine­Guzewich, Generalsekretär des Instituts für Internationales Recht, zeigte die Unterschiede des Denkens am deutlichsten. Seiner war nationalstaatlich, französisch und englisch beeinflußt. Nation war der Staat, es war bei Definition der Paß, die Staatsangehörigkeit, die man hatte, und da war gar kein Raum für Nationalität als eine andere Kategorie. Nicht nur für die Deutschen, auch für Polen und Tschechen war das aus eigenem Erleben gar nicht so, eben in ganz Mittel­, Südost­ und Osteuropa. Mein eigenes Miterleben an dieser Problematik wurde in dieser Genfer Woche immer wieder stark berührt. Auf dem Minderheitenkongreß hatte ich auch Otto Ulitz als einen der Delegierten der deutschen Minderheit in Polen getroffen. Wir sahen uns wieder in der Bierstube "Bavaria", so berühmt damals als internationaler Treffpunkt, wo die Studentendelegationen auch oft zusammen saßen. Ulitz lud mich an seinen Tisch und stellte mich dort einem seiner Minderheitenkongreß­Kollegen vor, nämlich Dr. Motzkin, jüdischer Abgeordneter im polnischen Sejm und bekannter Zionistenführer in Polen. Nach ihm wurde später eine Siedlung in Israel genannt. Das war für mich eine nachdenklich machende Begegnung in der "Bavaria". Die Kongresse aber spielten sich nicht nur in der "Bavaria" ab. Zunächst vertrat ich die deutsche Delegation in der Unterkommission für Abrüstung und das fand wirklich im Sitzungssaal des Völkerbundrates statt. Hauptaktivität wurde dann "la question danzigoise". Danzig war durch den Versailler Vertrag zu einer Freien Stadt gemacht worden, vertraglich mit Polen verbunden. Es hatte eine deutschsprachige Technische Hochschule, an der auch eine Gruppe für Völkerbundsarbeit gegründet wurde, die nun Aufnahme in die FUI beantragte. Die polnische Delegation widersprach und forderte, die Danziger Gruppe sollte zum polnischen Verband gehören. Auf der deutschen Rechten war der Plan, sich für Aufnahme einer selbstständigen Danziger Gruppe einzusetzen, auch etwas Ungewohntes. Die Deutsche Studentenschaft, auf dem "großdeutschen Prinzip" aufgebaut, umfaßte ja alle deutschsprachigen Hochschulen, einschließlich Österreich und der Tschechoslowakei, und natürlich auch Danzig, wo sie sogar einmal ihren Studententag abgehalten hatte. In der FUI war das anders. Die österreichischen und Prager/Brünner Hochschulen gehörten nicht zur deutschen FUI "Zentralstelle". Die rechtlichen Aspekte von Danzig's Stellung waren kompliziert; ein Präzedenzfall war, daß im Verband der Völkerbundsligen auch eine selbstständige Danziger Liga für Völkerbund Aufnahme gefunden hatte. Es gab in Danzig nur die eine Hochschule, und da war nur eine sehr kleine Minderheit von polnischen Studenten. Die Auseinandersetzungen, an denen ich auch schon im Kommissionsstadium verwickelt war, wurden sehr heftig. Als unser Standpunkt nach anfänglichen Schwierigkeiten sich durchzusetzen begann, machten wir mit Mitgliedern der polnischen Delegation zusammen einen Ausflug zum noch im Bau befindlichen neuen Völkerbundsgebäude draußen am See. Es wurde eine gar nicht unfreundliche Begegnung, an die ich mich oft erinnert habe. Die Aufnahme der Danziger Gruppe wurde schließlich vom Plenum einstimmig bestätigt, nachdem eine Zusammenarbeit zwischen der selbständigen Danziger Gruppe und der polnischen Minderheit in Danzig vereinbart und eine dementsprechende Berücksichtigung bei der Zusammensetzung der Delegationen für spätere FUI Kongresse in Aussicht gestellt worden war (46). Zu den wichtigen Gewohnheiten des Kongresses gehörten auch Zusammenkünfte zwischen verschiedenen einzelnen Delegationen, befreundeten sowohl wie ferneren. Die politische Lage in Europa stand immer mehr unter dem Impakt der Weltwirtschaftskrise. Ihre Einwirkungen außerhalb der USA waren unverkennbar verschieden je nach wirtschaftlicher Struktur und finanzieller Lage der betreffenden Länder oder Ländergruppen. So kam es, daß der Begriff Mitteleuropa wieder in ganz ernsten wirtschaftspolitischen Überlegungen erschien. Da war der Zusammenbruch der internationalen Agrarmärkte, ebenso wie die drastische Schutzzollpolitik, mit der die USA auf die Krise reagierten. Der Smoot­Hawle, Tariff Act war am 17.Juni 1930 von Präsident Hoover unterzeichnet worden. All das sandte Wellen des Schauderns durch Kanzleien, Bankkontore und Redaktionsstuben, und es zeigte sich, daß Länder in Mitteleuropa dabei besonders betroffen sein würden. Es ergab sich geradezu das Gefühl von Mitteleuropa als einer Betroffenheitsgemeinschaft in dieser Weltwirtschaftskrise. In manchen deutschen Kreisen war der Begriff Mitteleuropa mit Anklängen an sich natürlich ergebende deutsche Vorherrschaft verfärbt worden. Sogar das Buch, das der Altvater der Demokratischen Partei, Friedrich Naumann, über Mitteleuropa geschrieben hatte, war nicht frei davon. Es war, als ob man in Deutschland zurückrevidieren wollte, was Bismarck 1866/1871 zerbrach. Aber das Heilige Römische Reich deutscher Nation bestand eben nicht mehr, auch die Donaumonarchie war zerfallen, die meisten der Nachfolgestaaten waren politisch in der Kleinen Entente und in einem Bündnis mit Frankreich zusammengeschlossen. Die gemeinsame wirtschaftspolitische Betroffenheit aber war da, und in einer Zusammenkunft von Mitgliedern der deutschen und tschechischen Delegationen wurde darüber gesprochen. Was war also Geschichte und heutige Basis solcher gemeinsamen mitteleuropäischen Situation? Es entstand der Plan, eine mitteleuropäische Studentenkonferenz im Rahmen der FUI zu veranstalten, auf der die Fragen mehr wissenschaftlich behandelt werden könnten. Wir verabredeten, daß dies eine gemeinsame Initiative der deutschen und tschechoslowakischen Mitgliedgruppen der FUI sein sollte und die beiden Delegationen sich zu Beginn des Wintersemesters wieder in Verbindung setzen würden. Dieses Projekt schien mir ein gutes Vorhaben. Später, vom 16. bis 21. September, hielt der Deutsche Studentenverband zusammen mit französischen Studentenorganisationen in Mannheim ein deutsch­französisches Studententreffen ab, an dem ich diesmal nicht teilnahm. Wir hatten in Genf auch Zusammenkünfte mit der französischen Delegation, zu der auch der Radikalsozialist Robert Lange gehörte, bald darauf das jüngste Mitglied der französischen Kammer. Ein sehr enger französischer Kontakt wurde Jean Dupuy, der als Generalsekretär der FUI wiedergewählt wurde. Wir hatten uns gut kennengelernt. Bei dem Mannheimer deutsch­französischen Treffen war bereits der bedrohliche Ausgang der deutschen Reichstagswahl vom 14.September bekannt und hatte vor allem zum Thema deutsch­französischer Verständigung Bestürzung hervorgerufen. Die Nationalsozialisten hatten ihre Mandatszahl von 12 auf 107 erhöht und waren zur zweitstärksten Partei nach den Sozialdemokraten geworden. Man war sich ihrer zunehmenden Stärke bewußt gewesen, aber das Resultat ging weit über schlimmste Erwartungen. Die Welt schien nicht mehr ganz dieselbe nach diesem ersten Erdrutsch. Uns in Genf war das noch erspart geblieben, die Tagung schloß vorher, und die böse Nachricht traf mich auf dem Rückweg. Danach war für mich das nächste Berliner Wintersemester, das mein letztes werden sollte, eine sehr aufregende Zeit. Hatte nun der Hitler'sche Wahlerfolg eine Schneeballwirkung im Publikum? Oder brachte es Besinnung in breite gemäßigt rechts eingestellte Kreise, daß man mit den republikanischen Parteien zusammenrücken mußte, um sich gegen weiteres Anwachsen dieser rechtsradikalen Außenseiter zu stemmen. Leider waren es nur Bruchteile dieser Kreise, die so reagierten. Bei uns an der Technischen Hochschule gewannen die Nazis bald absolut die Oberhand innerhalb der Großdeutschen Studentenschaft. In der studentischen Wirtschaftshilfe machte das noch keinen Unterschied. Der Geschäftsführer Hans Menzel blieb entschieden bei der republikfreundlichen Haltung, die er gezeigt hatte. Sein Kollege Voth änderte zwar nicht seine Haltung in der Verwaltung seines Amts, aber er vertraute mir eines Tages an, daß er am Abend vorher im Sportpalast Hitler sprechen gehört hatte und sich der Partei anschließen würde. Er bat mich sozusagen um Entschuldigung, es täte ihm leid, daß er mir das sagen müsse. Ähnlich ging es mir mit Jobst v. Wendorff. Er kam aus Krakau an, kam gleich noch mit seinem Koffer zu mir, am Abend aber wollte er in den Sportpalast, das mal sehen. Am nächsten Tag war es dasselbe wie mit Voth. Es tat ihm leid, aber er mußte es mir sagen. Er war beindruckt. Er ist, soviel ich weiß, dann wieder einen ganz anderen Weg gegangen. Was mich bei diesen beiden so bestürzte, war die Wirkung, die Hitler's Auftritte anscheinend selbst auf gemäßigt und nüchtern Denkende haben konnten, während man eigentlich annahm, daß die Person Hitler's selber auch in vielen Rechtskreisen eher Mißtrauen, ja sogar Abscheu auslösen müßte. Das beschränkte sich nicht nur auf des General Hindenburg's und anderer Offiziere Abneigung gegen den "böhmischen Gefreiten", es gab ähnliche Gefühle nicht nur im Bürgertum, sondern auch bei rechtsradikalen Gesinnungsgenossen (47). Die Regierung Brüning blieb weiter im Sattel, prekär wie bisher, mit Hilfe von Notverordnungen des Präsidenten Hindenburg, stillschweigender Zustimmung der Reichswehr durch General Schleicher, aber stets drohenden weiteren Neuwahlen. Wo solche stattfanden, verloren vor allem die Parteien der Mitte, die Neugründung der Staatspartei hatte sich schon im September 1930 als kein Erfolg erwiesen. Unterhalb der Reichsregierung aber waltete das republikanische Establishment auch noch weiter, vor allem die preußische Regierung der Weimarer Koalition mit aktiver Zentrumsbeteiligung. Gewalttätigkeit in Straßenkämpfen nahmen immer mehr zu, SA und Rote Front, dazwischen das Reichsbanner, aber da war die preußische Polizei, Severing nun dort Innenminister und Staatssekretär Abegg mit seiner starken Haltung. Unsere Zentralstelle für studentische Völkerbundsarbeit beruhte weiter auf Zusammenarbeit von den Sozialdemokraten bis zu den Deutschnationalen, und Gerhard Hauke, unser Sekretär und Sekretär der Deutschen Liga für Völkerbund, war, wie Hans Menzel an der TH, ganz der Alte geblieben. Um unsere Vereinbarungen mit den tschechischen Studenten weiter zu verfolgen, wandten wir uns, nach Beratung mit der Liga für Völkerbund an das Auswärtige Amt, wo ein regelmäßiger Kontakt für die Völkerbundsarbeit das Kulturdezernat war, und Legationssekretär Freudenthal nach Besprechung mit dem Dezernatschef Geheimrat Terdenge uns Bescheid gab, das Amt habe nichts gegen eine von uns gemeinsam mit den Tschechen veranstaltete Mitteleuropäische Studententagung. Wir müßten aber noch Einzelheiten vorlegen, und sie würden das Vorhaben dann eventuell auch unterstützen (48). Wir arrangierten nun ein Treffen mit den Tschechen, man einigte sich dafür auf Dresden, wo Wolfgang Straede und ich hinfuhren. Der Leiter der tschechoslowakischen FUI Gruppe war schon berufstätig als Assistent des Bürgermeisters von Prag, eines engen Parteifreunds von Benesch, und kam mit Frl. Pekarzova, Tochter des bekannten tschechischen Historikers Pekar. Unsere Unterhaltungen in Genf hatten sich strikt auf französisch abgespielt, und so begrüßten wir unsere Besucher auch in Dresden, aber es ergab sich bald, daß man deutsch sprach. Mein Französisch war nicht so gut, und dann war der Einfluß der Umgebung und Frl.Pekazova setzte noch hinzu, sie war ja, ich glaube, in Aussig aufgewachsen. Es lag nahe, sich darauf zu einigen, daß die Tagung in der Tschechoslowakei stattfinden würde, und die Tschechen erleichterten das noch, indem sie Bratislava, das alte Preßburg, als Tagungsort vorschlugen. Es war die Hauptstadt der Slowakei, in nächster Nachbarschaft Ungarns und Österreichs, auch mit entsprechenden sprachlichen Minderheiten. Die Vorbereitungen und Einladungen würden gemeinsam von Deutschen und Tschechen gemacht, teilnehmen würden Österreicher, Ungarn, Jugoslawen, Rumänen, Bulgaren, sowie auch Polen und ein Schweizer Vertreter (49). Über die Abgrenzung, was unter Mitteleuropa zu verstehen ist, sollte dann auf der Tagung in Vorträgen und Debatte gesprochen werden. Das Vortragsprogramm sollte starken Akzent auf wirtschaftlichen, besonders agrarpolitischen Fragen haben, aber auch kulturelle und geschichtlich/politische Fragen umfassen. Nach Rückkehr in Berlin stellten wir nun unsere Liste von Vortragenden, im Parteienspektrum gut verteilt, zusammen, nachdem Herr Terdenge die in Dresden besprochenen Pläne gebilligt hatte. Dann kam der von den Tschechen vorgeschlagene Text der Einladungen plötzlich mit ihrem Ministerpräsidenten Benesch als Protektor der Tagung. Das war nicht verabredet worden und erregte Stirnrunzeln. Es wurde aber hingenommen, nachdem man sich ja aus guten Gründen auf einen Tagungsort in der Tschechoslowakei geeinigt hatte. Es kamen weitere Besprechungen mit den für Vorträge gewonnenen Rednern und mit führenden Mitgliedern der Deutschen Liga für Völkerbund, u.a. Harry Graf Kessler. Neben der Teilnahme an den Vorbereitungen für diese Preßburger Tagung stand bei mir weiter die Herausgabe von "Student & Hochschule". Die Januarausgabe 1931 war weitgehend dem deutsch­französischen Verhältnis gewidmet, im Verfolg der Mannheimer DStV Tagung, mit Beiträgen u.a. von Wladimir d'Ormesson und Max Clauss, Herausgeber der Europäischen Revue des Prinzen Rohan, einer von Coudenhove­Kalergi unabhängig arbeitenden europäischen Bewegung. Ich brachte auch eine Besprechung der FUI Tagung in Genf (50). Im Februar brachten wir Teile des Vortrags, den Staatskommissar Rönneburg auf einer "Ostkundgebung" des Deutschen Studentenverbands gehalten hatte, mit Schwerpunkt auf Agrarreform in den Ostprovinzen zwecks Bauernansiedlung. Ich erinnere mich, daß damals in der Diskussion auch Dr. Walther Maas sprach, ein junger Geograph, Mitarbeiter der Sozialistischen Monatshefte, und dafür eintrat, alle deutschen Ansprüche auf Rückgabe des polnischen Korridors aufzugeben. Ich hatte solch eine offene Meinungsäußerung darüber noch nie gehört. Unzufriedenheit mit der Ostgrenze war ein häufiger Refrain in Deutschland, aber das klang deklamatorisch, kein aktuelles politisches Thema. Die systematische und im Auswärtigen Amt durchaus artikulierte Politik einer Ostgrenzenrevision (51) war auch dort umstrittene Sache einiger Vorausplaner, in der Öffentlichkeit nicht so bekannt, wie es in den Akten steht, also nicht das politische Klima. So schien es mir jedenfalls noch anno 1930. Die Reparationsfrage war durch die Annahme des Youngplans einen Schritt weitergekommen, das Rheinland wurde geräumt von fremder Besetzung, nun bedurfte man weiterer Erleichterung bei den Reparationen, das waren die aktuellen Probleme. Man konnte sich doch ein Ziel wie die Grenzrevision nur auf Kosten kriegerischen Konflagrationen vorstellen. Sollte man dann überhaupt daran denken? Walther Maas's Bemerkung über den Korridor erregte gleich Widerspruch, auch in diesem republikanischen Gremium. In einer kleinen Gruppe nach Schluß der Versammlung gab ich zu bedenken, daß doch im Grunde Dr. Maas ganz recht hatte, wie konnte man an friedliche Grenzrevision, und das hieß doch an Grenzrevision überhaupt, denken oder gar davon sprechen. Es gab entschiedenen Widerspruch und jemand in der Gruppe sagte, wenn man von Revision des Versailler Vertrags spricht, da gibt es immer zwei Kategorien von deutschen Forderungen. Für eine gilt, immer davon sprechen, nie daran denken, das ist z.B. der Anschluß Österreichs. Das andere ist umgekehrt, nie davon sprechen, immer daran denken, das ist z.B. der polnische Korridor. Dr. Walther Maas schrieb dann ausführlicher über den "sogenannten" polnischen Korridor in den Sozialistischen Monatsheften (52) und erwähnte, daß es ein Gebiet breiter als Schleswig­Holstein oder die Rheinprovinz sei, betonte auch deutsche Verflechtung mit diesem Gebiet, auch wenn es von 1466 bis zur ersten Teilung 1772 zu Polen gehört hatte. Es wäre allerdings schon vor 1772 mehrheitlich deutsch besiedelt, also ethnographisch diese Maßnahme der ersten Teilung Polens kein Unrecht gewesen, die Zuteilung an Polen 1919 bezeichnet er ethnographisch als Unrecht, aber durch deutsche Abwanderung sei das 1931 schon wieder verändert, das Gebiet wirtschaftlich Polen eingegliedert, und wird nicht von ihnen herausgegeben werden. Deutschland sollte jetzt in der schwersten Krise der Nachkriegszeit andere Sorgen haben, als die Auseinandersetzung mit Polen. Für das Korridorproblem gäbe es keine isolierte deutsche oder polnische, es gibt nur eine europäische Lösung, aber die Beantwortung der Korridorfrage darf nicht als Vorraussetzung der kontinentalen Einigung verlangt werden. So Maas 1931 in der sozialdemokratischen Zeitschrift. Mich hat das nachdenklich gemacht. Ich sprach darüber in Kattowitz mit dem alten Jugendfreund Karl­Heinz Lubowski und war überrascht, daß er auch zur Auffassung gekommen war, die Deutschen sollten keine Forderungen an Polen stellen. Er kam aus einem sehr national gesinnten Haus, aber dachte sehr unabhängig, hatte eine Zeit lang in Krakau studiert; jetzt bereitete er sich in Deutschland auf eine juristische Karriere vor. Außer den vorrängigen Geboten praktischer Politik und Prioritäten gab es ja auch historische Eindrücke, die man hatte. Es war ja gar nicht so, daß der "Korridor" in Versailles erfunden worden war. Man konnte ihn auf allen Karten Polens vor 1772 gut sehen, er war nur noch breiter. Nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert war ja im 19. Jahrhundert eine, immer wiederkehrende Forderung der jungen nationalen und liberalen Bewegung in Europa, die Wiederherstellung Polens in seinen historischen Grenzen gewesen. Die 14 Punkte Wilson's hatten alles viel spezifischer auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingestellt, und die deutsch­polnische Grenzregelung darauf, aber auch auf die Notwendigkeit polnischen Zugangs zur See gestützt. An die kurze Diskussion über den Korridor, über die ich etwas ausführlich geschrieben habe, mußte ich in späteren Jahren noch oft denken, bis es dann 1939 Hitler darüber zum Krieg kommen ließ. In diesem Winter 1930/31 verfolgte man weiter aufmerksam den erstaunlichen Aufschwung der Zeitschrift "Die Tat". Sie sammelte um sich eine respektable Anhängerschaft, es bildeten sich "Tatkreise", aber interessante und gewichtige ihrer Gedankenansätze vermengten sich zusehends mit radikalsten Parolen, nicht zuletzt in der Außenpolitik, und da besonders bezüglich einer aggressiven deutschen Politik in Ost­ und Mitteleuropa. Für diese zeichnete neuerdings ein Giselher Wirsing. In der "Bavaria" in Genf hatten wir friedlich gesessen, als ein schrecklich impertinenter jüngerer Mann, einigen Mitgliedern unserer Delegation bekannt, vorbeiging, sich zu uns setzte und einen vernichtende Kritik am Völkerbundtreiben als leere, papierne Kulissen, die bald zusammenfallen würden, losließ. Er schien wohlberedt, sehr intelligent, aber gnadenlos in seinen Ansichten und seiner abscheuerregenden Aggressivität und Arroganz. Seinen Namen hatte ich nicht verstanden, und hätte ihn auch nicht gekannt. Erst Monate später erfuhr ich, daß das dieser Giselher Wirsing gewesen war. Er gehörte zu denen, die Dr. Brinkmann in Heidelberg dem Dr. Zimmern zur Teilnahme an seinem internationalen Seminar in Genf als mehr aufgeweckten und repräsentativen Vertreter deutscher Studenten empfohlen hatte. Er war sein Assistent in Heidelberg gewesen. Es war in diesen Fragen deutscher Politik in Europa, daß ich dann immer die größte Distanz zur "Tat" empfunden habe. Wirsing kam dazu, und bezeichnete die Staaten Mittel­ und Osteuropas als die "zwischeneuropäische Trümmerzone". Da blieb die Zusammenarbeit in unserer Völkerbundsgruppe und auch persönlich mit Wolfgang Straede auf viel besserer Ebene. Ein Vorfall blieb mir in Erinnerung, der das unterschiedliche politische Herkommen beleuchtet. Der Generalsekretär der FUI Jean Dupuy besuchte uns kurz in Berlin. Er war wohl auf der Durchreise nach Danzig, wo er prüfen sollte, ob die Auflage betreffs Teilnahme der polnischen Minderheit an der neuen Danziger Mitgliedsgruppe der FUI richtig durchgeführt wird. Während seines kurzen Aufenthalts in Berlin sollten Wolfgang Straede und ich ihm etwas von Berlin zeigen. Wolfgang Straede schlug zunächst einen Ausflug nach Potsdam vor, Dupuy war einverstanden und wurde so zunächst mit dem alten Preußen gut bekannt gemacht. Am Sarge Friedrich des Großens erinnerte er sich, daß Napoleon bei der Gelegenheit gesagt hatte: "voila un honme". Auf dieser Note endete unser Besuch in Potsdam und Dupuy wollte nun unbedingt noch mit uns in den Reichtstag gehen. Straede bat mich, das zu übernehmen; er entschuldigte sich, als Monarchist wollte er einen Besuch im Reichstag nicht unternehmen. Ich starrte ihn an, und Jean Dupuy wohl auch. Natürlich, manche unserer Professoren, viele alte Herren der studentischen Korporationen, sie waren noch Monarchisten und daher Republikgegner, aber war das wirklich auch mein Altersgenosse Straede, Führer der deutschnationalen Studentengruppe? Ich zog also mit Jean Dupuy allein zum Reichstag, so ohne Vorbereitung schien das gar nicht so einfach, jemanden zu erreichen, der einem Zutritt zur Wandelhalle ermöglicht und einen empfangen hätte. Ich meldete mich erst bei Ernst Lemmer. Er war schließlich Führer der Jungdemokraten; obgleich ich ihn wenig kannte, schien er mir der Nächstverantwortliche für solch ein Anliegen, von einem Vertreter der demokratischen Studenten, als welcher ich mich schließlich da im Reichstag befand, zu sein. Er entschuldigte sich, er hatte keine Zeit. Kurz entschlossen meldete ich mich bei Carl Mierendorf, der ja nicht nur bei seinen jungen sozialistischen Freunden, sondern auch bei den jungen Demokraten sehr verehrt wurde. Ich kannte ihn gar nicht, sagte gleich er brauchte uns nicht zu sehen, aber ich wollte unserem französischen Gast den Reichstag zeigen, und sein Passierschein kam auch sofort zurück. Wir blieben eine Zeit lang in der Wandelhalle, Dupuy hoffte Brüning zu sehen, und dann rief er auch ganz aufgeregt "le chancelier", Brüning eilte vorüber. So waren denn Dupuy's beide Programmpunkte erfüllt, aber mein Freund Straede und die Monarchie, im Winter 1930/31, das hat mich immer wieder gewundert. Während die "Tat" sich von ihrem anfänglichen Anklang an eine Stimme der jungen Mitte unterdeß weit nach rechts entwickelt hatte, wurde eine neue Gruppe um die Monatsschrift "Neue Blätter für den Sozialismus" bedeutsam. Sie sammelte Anhänger des religiösen Sozialismus Paul Tillichs, überhaupt eines nicht­marxistischen Sozialismus, vieles aus der Jugendbewegung. Mitherausgeber war Fritz Klatt, unabhängig von der SPD Parteistruktur auf ihrem rechten Flügel. Es gab auch Elemente eines Suchens nach neuen politischen Strukturen, die manchmal an ähnliches im Gedankengut der "Tat" zu erinnern schienen. Auf der wirtschaftspolitischen Seite dieses Kreises waren die Professoren Eduard Heimann und Adolf Loewe prominent; aktiv verbunden waren auch, die mir von ihrem Kontakt mit unserer republikanischen Studentenorganisation bekannten, Theo Haubach, Adolf Reichwein, Rudolf Küstermeier und Carlo Mierendorf. In der politischen Mitte sah es immer trostloser aus, mit zunehmender Desillusionierung auch beim demokratischen Studentenbund. Es hatte demokratische Splittergruppen gegeben, die sich der Verbindung mit den Jungdeutschen in der Staatspartei nicht anschließen wollten. Bei den Studenten blieben die Meinungen geteilt, die Studentengruppen hielten aber zusammen, blieben unabhängig. Die Führer Franz Suchan und Horst Mendershausen wollten einen Zusammenschluß mit dem Republikanischen Studentenbund des Prionen Hubertus von Löwenstein durchführen. Ich versuchte, dabei zu helfen, aber sie wurden überstimmt. Ich hatte zu der Zeit bereits beschlossen, meine berliner Tage zu beenden und im Sommersemester nach München zu gehen. Das hieß auch, daß ich aus der hochschulpolitischen Arbeit ausscheiden und meine Ämter aufgeben würde. An der TH Charlottenburg hatte ich das schon getan, der Sozialist Ahrends war mein Nachfolger geworden. In der Schriftleitung von "Student und Hochschule" hatte mich schon der demokratische Freund Erwin Oeser unterstützt, mit dem Zentrumsmann Lothar Hartmann wurde er Nachfolger, und danach übernahmen es Heinz Krüger (Sozialist) zusammen mit Franz Suchan (Demokrat), die die Zeitschrift tatsächlich bis zum Februar 1933 weiterführten. In der Zentralstelle für studentische Völkerbundsarbeit war es ja der Turnus der Demokraten, ab April 1931 den Vorsitz zu übernehmen. Ich muß gestehen, daß ich da für mich doch einige Bedenken hatte. Mußte es jetzt gerade sein, daß ein Jude den Vorsitz übernahm? Auch von diesem Gesichtspunkt trieb es mich, den Wechsel nach München vorzunehmen und zu sehen, daß statt dessen Wolfram Müllerburg zurückkommen und die Vakanz füllen würde. Er war schon in seiner Referendarszeit, aber konnte doch für Sommer 1931 zusagen. Zunächst stand aber noch für den 19.März unsere Mitteleuropäische Studententagung in Preßburg bevor und im Zusammenhang damit noch ein ominöser Schock. Die Vorbereitungen waren ganz nach Plan gelaufen, als wir plötzlich eine Mitteilung vom Auswärtigen Amt erhielten, man es hätte es sich anders überlegt und wir sollten die ganze Tagung absagen. Es war gar nicht mehr so lange bis zum Tagungsdatum, und wir protestierten heftigst. Erklärungen über die Gründe wurden uns nicht gegeben. Was immer die Gründe für diesen Gesinnungswechsel des Amtes sein könnten, wir wollten unseren Mitveranstaltern, den tschechischen Studenten, allen anderen eingeladenen Delegationen und der FUI nicht jetzt plötzlich, so kurz vor der Tagung, absagen. Wir hatten eine weitere Besprechung im Amt bei dem Geheimrat Terdenge, der uns auch etwas über die Gründe sagen sollte, es aber nicht tat. Er schien etwas belustigt über die verschiedenen Interventionen, die wir im Amt veranlaßt hatten, und auch sein Kollege, Legationsrat Dr. Sobernheim, wollte, daß sein Sohn Rudolf, ein sehr aktives Mitglied unserer Gruppe, teilnehmen sollte. Da bin ich wirklich explodiert und fragte, wie man sich das vorstellt, wir haben mit den Tschechen das Tagungsprogramm ausgearbeitet, die Vorbereitungen gemeinsam getroffen, die anderen eingeladen, jetzt sollen wir ohne Erklärung kurzfristig alles absagen, was für ein Affront politisch und persönlich. Uns ist darüber sehr ernst zumute, und gar keine Gelegenheit für scherzhafte Bemerkungen. Es blieb aber dabei; über die Hintergründe erfuhren wir nichts, die versprochenen Mittel standen nicht mehr zur Verfügung und soweit es das Amt betraf, empfahlen sie uns, die Tagung abzusagen. Die Deutsche Liga für Völkerbund machte weitere Anstrengungen, aber Haucke teilte uns dann mit, man müsse die Tagung wohl nun absagen. Damit wollte ich nichts mehr zu tun haben. Das Semester ging schon zu Ende und ich reiste nach Kattowitz. Wir verabredeten, Hauke würde mir telegraphieren, wenn die Tagung doch noch stattfindet, und wirklich, die Liga konnte mit diskreter Zustimmung im Amt doch noch das arrangieren. Es kam das Telegramm von Haucke, in dem es hieß, ich sollte zunächst nach Prag fahren und dort bei der Lese­ und Redehalle nachfragen, wo man sich zur gemeinsamen Weiterreise nach Preßburg treffen könne. Das wurde mein 2.Besuch in Prag (53). Die Nachricht, die ich vorfand, brachte mich zunächst zusammen mit einem Dr. Foerster, der zu den wissenschaftlichen Tagungsteilnehmern von der Rechten gehörte. Er war Historiker von der Universität Tübingen, derzeit aber an der deutschen Universität Prag und mit den deutsch­tschechischen Problemen und Geschichte eng vertraut. Wir machten einen gemeinsamen Stadtspaziergang, der auf dem Hradschin mit Blick auf die Stadt abschloß. Er war wohl nur einige Jahre älter als ich, bezeichnete sich als Konservativen und plädierte eindringlich und ernsthaft für die Anerkennung auch des deutschen Elements in der Geschichte Böhmens und eben auch Prags, man nehme doch nur die Karls Universität, die eben auch eine deutsche Universität gewesen ist. Mehr wollen wir ja nicht, sagte er, man soll uns das aber nicht immer ganz in Abrede stellen. Das klang und er war überhaupt recht vernünftig; er sprach mit so ehrlicher Wärme, daß ich noch manchmal, besonders dann 1938/39, als Hitler ja ganz andere Forderungen mit Gewalt durchsetzte, an diese Unterhaltung auf der Terrasse des Hradschins gedacht habe. Wir waren dann zusammen in der Gruppe, die von Prag nach Preßburg fuhr. Dieses Bratislava, nun in der Tschechoslowakei als Hauptstadt der Slowakei, war faszinierend und auch herzerwärmend. Man war sich bewußt, daß es auch dadurch jahrhundertealter Ort vieler Spannungen und Konflikte war, aber das Zusammenfließen so verschiedener Traditionen und das Zusammenleben so vieler Bevölkerungsteile machte es zu einer sehr mitteleuropäischen Szene, und die Donau floß majestätisch dahin, auf dem Weg von Wien nach Budapest. Die offizielle Sprache war slowakisch, aber ebenso wie bei Eß­ und Trinksitten gab es viel ungarisches, österreichisches oder deutsches. Die lokale Vorbereitung und dann auch Leitung der Veranstaltung lag in den Händen der slowakischen Studenten unter der sehr selbstbewußten und sich profilierenden Leitung von Dr. A. Kunosi, auch das schien mir ein Unterstreichen mitteleuropäischer Vielfalt. Die Tagung (54) mit etwa 100 Teilnehmern sollte einer wissenschaftlichen Diskussion der verschiedenen Themenkreise dienen, einer klareren Definition gemeinsamer mitteleuropäischer Interessen und kulturellen Zusammenhänge. Letztere mündeten auch wieder in Betonung der nationalen Minderheitenprobleme und wurden unterstrichen durch einen Überraschungsbesuch und Ansprache des Sekretärs des Minderheitenkongresses Dr. Ewald Amende. Ich habe gar nicht nachgeforscht, wer den inszeniert hatte. Die österreichische Delegation hatte auf der Tagung einige neue, und zwar rechtsgerichtete Mitglieder, was sich später dann zunächst wieder geändert hat, aber dort fiel es mir sehr auf (55). Das Hauptgewicht der Tagung lag auf den gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der mitteleuropäischen Staaten (56). Das war ja schon der aktuelle Ausgangspunkt für unsere Initiative im September 1930 in Genf für solch eine mitteleuropäische Studentenkonferenz. Gemeinsame wirtschaftliche Schutzmaßnahmen waren gewiß nicht im Sinne einer freien internationalen Marktwirtschaft, aber der Glaube daran war unter den schweren Stößen der Krise mit ihrem Verfall der Agrarmärkte und den einseitigen amerikanischen Zollmaßnahmen verblaßt. Für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit betroffener mitteleuropäischer Staaten gab es aber wenig politisches und kulturelles Gemeinschaftsgefühl nach 1918 und es galt, dies zu erarbeiten. Wie hätte das besser eingeleitet werden können als durch eine Inititative der Deutschen und Tschechen, wie wir es getan hatten, wenn auch nur auf einer kleinen Nebenbühne, und wir hatten Zustimmung gefunden (57). Auf der Hauptbühne der Geschichte aber nahmen die Dinge einen ganz anderen, einen verhängnisvollen Kurs. Nach Abschluß der Preßburger Tagung fuhren wir alle nach Wien, wo am 22. März die Ratstagung der FUI begann. Man fuhr in einem noch aus österreichischen Tagen bestehendem Lokalzug, eigentlich war es eine Art Straßenbahn, die Bratislava mit Wien verband, und die Tagungsteilnehmer verschiedener Nationen saßen in großen Gruppen zusammen in den Wagen dieser Bahn. Plötzlich eilte die Meldung durch unsere Gruppen, Morgenzeitungen wurden herumgereicht, Deutschland verkündete den Abschluß einer Zollunion mit Österreich. Die Überraschung war übergroß, auch die Befremdung. Niemand in der deutschen Delegation von links bis rechts hatte vorher davon gehört oder es ahnen können. Es war den anderen Delegationen gegenüber natürlich peinlich. Da hatte man noch am Vortag über Verständigung und Zusammenarbeit in und für Mitteleuropa diskutiert, und am nächsten morgen kommen die deutsche und österreichische Regierung mit diesem Überraschungscoup heraus, der anscheinend mit keiner anderen Regierung vorher besprochen, sondern vollkommen geheim gehalten worden war. Jetzt dämmerte einem auch, warum möglicherweise das deutsche Auswärtige Amt einige Wochen vorher plötzlich unsere Tagung abgesagt haben wollte. Da saßen wir also nun alle zusammen in dem Zug, der der Donau entlang fuhr. Es klang gar nicht gut, diese Nachricht von der Zollunion, und besonders in der Gesellschaft, in der wir uns befanden (58). Zunächst wickelte sich dann die FUI Ratstagung in Wien ganz planmäßig ab, die Atmosphäre des alten und neueren Wiens tat auch das ihre (59). Auf der Tagung beantragte die Schweizer Delegation, geführt von Jacques Kunstenaar, gemeinsam mit den Kanadiern, daß die FUI sich für einen Erfolg der vom Völkerbund geplanten Abrüstungskonferenz aussprechen und in allen Ländern dafür aktive Propaganda machen sollte. In der Danziger Frage wurde die Aufnahme der FUI Gruppe bis 1932 bestätigt, mit Auflagen für guten Willen, bei der vorgeschriebenen Konsultation zwischen deutschen und polnischen Mitgliedern. Eine bemerkenswerte Einigung zwischen verschiedenen Gruppen in der Tschechoslowakei wurde während der Wiener Ratstagung für deren Vertretung in der FUI erzielt. Sie sollte in Zukunft aus zwei tschechischen, einer slowakischen und einer deutschen Gruppe bestehen, die jede je zwei Vertreter in den Vorstand entsenden, der Vorsitz jährlich rotieren sollte (60). Dies schien wirklich ein guter Schritt in Richtung pluralistischer Lösungen und ein guter Nachklang zu unserer Preßburg Tagung zu sein. Umso schlimmer war der Nachhall zum deutsch­österreichischen Zollunionsplan. Auch in heutiger Literatur wird das Katastrophale dieser Wende voll gewürdigt (61). Wirtschaftlich wuchs es sich zur entscheidenden Katastrophe aus, der Abzug ausländischer Kredite aus Österreich verstärkte sich dramatisch. Ein großer Teil wurde gezielten Vergeltungsmaßnahmen der Franzosen zugeschrieben, bis im Mai 1931 die Wiener Kreditanstalt zusammenbrach, gefolgt im Juli 1931 vom Zusammenbruch der deutschen Danatbank und Devisenbewirtschaftung in Deutschland. Auf der politischen Seite brachten die Engländer den Streit vor den Völkerbundsrat, der ihn dem Haager Gericht überwieß. Vor dessen Urteil schon zog sich Österreich von dem Plan zurück, das Urteil erging dann gegen die Zollunion als eine Verletzung bestehender völkerrechtlicher Verpflichtungen. Anfang Oktober 1931 trat der deutsche Außenminister Curtius von seinem Amt zurück. Die Politik des Auswärtigen Amts änderte sich aber nicht, die Zeiten allerdings wohl. Während der Zollunionsplan 1931 am allgemeinen Widerstand in Europa gescheitert war, brachten spätere vertragswidrige deutsche Schritte wie Hitlers Wiederaufrüstung und Remilitarisierung des Rheinlands 1936 keine entsprechenden Reaktionen der anderen Mächte. 1939 wurde das Maß voll, und nach österreichischem Anschluß, München und Prag kam es dann über die deutschen Revisionsansprüche auf den polnischen Korridor, Danzig und Ostoberschlesien zu entschiedener Ablehnung seitens der Alliierten, zu Hitlers bewaffneten Angriff auf Polen und zum 2. Weltkrieg. Der Anfang, der "Sündenfall", war mir immer in so lebhafter Erinnerung geblieben, weil ich ihn von so nahe erlebt hatte. Die Sünde war durchaus nicht nur die irrige Einschätzung der eigenen Stärke und der wahrscheinlichen Reaktion der anderen, nein, es war der Irrtum, daß Deutschland in Europa anders als unter dem Leitstern föderativer Politik und Gesinnung handeln kann. Meine Rückkehr von der Wiener Ratstagung bedeutete auch meinen Abschied von aktiver politischer Tätigkeit im Studentenleben. B) München Wie zur Vorbereitung auf den neuen Abschnitt meines Studiums in München war grade der dort spielende große zeithistorische Roman Lion Feuchtwangers "Der Erfolg" erschienen, ich hatte ihn verschlungen. Diese Art von Porträtieren, alles Politische, die kulturelle Geschichte und Szene, mit so lebendig werdenden Personen, teils Fiktion, teils Schlüsselroman schien mir der Gipfel zeitgenössischer Erzählkunst. Gewiß, es gab da auch neben der lebendigen, wenn manchmal auch derben Menschlichkeit viel Unrecht, Gewalt und Intrige, aber ich sah meiner Zeit in München erwartungsvoll entgegen. Ich wurde auch nicht enttäuscht. Menschen und Klima, Stadtbild und Land waren wie ein kräftiger Trunk nach vier hektischen Jahren in Berlin. Hier lebte man auch mit Zeugnissen noch längerer geschichtlicher Vergangenheit, mir besonders in Erinnerung von einem Wochenende in dem benachbarten Augsburg, mit seinen alten Kirchen und Bürgerhäusern. Nun wußte ich schon, Augsburg war schon schwäbisch, der Norden Bayerns war ja fränkisch. Von den "complexities", die ich von Schlesien und Berlin, von ihren "ostmärkischen" Ursprüngen her gewohnt war, gab es hier in Bayern neue Vielfalt, eigentlich selbst ein erfolgreicher Föderativstaat, aber es wurde nicht viel darüber gesprochen und es gab ja auch keine dem entsprechende Struktur. Von der langen, gemeinsamen monarchischen Geschichte her schien das alles gut unter Dach und Fach. Die absorbierende Beanspruchung durch verschiedene politische Pläne und Funktionen hatte ich nun hinter mir, die neue Umgebung war fruchtbarer Boden für den Drang, nun neben Studium mehr Raum für eigenes Privatleben und Neigungen zu lassen. Guter Freund in der FWV München wurde Ralph Kleemann (1), der aus Nürnberg kam. Durch ihn lernte ich auch eine Psychologiestudentin aus Nürnberg kennen, mit der ich mich sehr anfreundete. Das Leben sah ganz anders aus da in München. An der Technischen Hochschule sah ich Chancen, das Diplomexamen schon Ende des Sommersemester zu machen, aber ich ging dafür auch zu dem "Repetitor" Dr. Broich, sehr kompetent, von nüchternem, sachlichen Urteil, außer wenn seine nationalistischen Ansichten berührt waren. Er kam aus dem 1918 von Deutschland an Belgien abgetretenen Eupen­Malmedy, ein Original, arbeitete trotz vorgerückter Jahre an seinem dritten Doktortitel. Ich brauchte für mein Examen Finanzwissenschaft, was in Charlottenburg nicht zum Curriculum gehört hatte, mehr Volkswirtschaft und Jura, alles an der Universität zu belegen, wo ich also oft hinkam. Das Repetitorium war direkt gegenüber der Rückseite der Universität. Natürlich ging ich auch zum Demokratischen Studentenbund München. Er war auch hin­ und hergerissen zwischen Staatspartei, aber eher neigend zu der von Nürnberg her aktiven Gruppe, die sich unter dem Pazifisten Ludwig Quidde und dem Nürnberger Oberbürgermeister Lubbe nach links abgespalten hatte. Zu ihnen neigte damals auch ein aktives Mitglied des Demokratischen Studentenbundes, Walter Seuffert, mit dem ich während meiner Münchner Zeit viel zusammen war und auch noch später korrespondiert habe. Trotz manchmal gegensätzlicher Einstellungen verstanden wir uns, aber es gab manche nächtliche Spaziergänge mit lebhaften Auseinandersetzungen. Nicht nur, daß er ganz klar für Quidde­Lubbe war, das schien mir eine schmale politische Basis und ich wollte die Hoffnung auf die Staatspartei noch nicht ganz aufgeben, aber die Aufmerksamkeit, die ich einigen Ansichten des "Tatkreises" zu geben bereit war, brachte ihn sehr auf, und er fing da bei Kant an, das heißt, schon mein Interesse an Bergson und Husserl war ihm suspekt. Es waren interessante Unterhaltungen mit ihm, an die ich oft gedacht habe. Er kam aus Darmstadt, von einer Familie bekannter deutscher Juristen, und war damals an der Universität München auch Assistent des Staatsrechtlers Dr. Nawiaski. Eine andere Bekanntschaft, die ich im Demokratischen Studentenbund machte, war der Buchhändler Sternecke und seine Tochter. Er war in der demokratischen Partei aktiv gewesen, seine Buchhandlung ein Sammelpunkt für fortschrittlich und liberal denkende Menschen. Es erstaunte mich aber, als ich erzählte, mit welcher Erwartung ich nach München gekommen war nach der Lektüre von Lion Feuchtwangers "Erfolg", daß er sehr antagonistisch reagierte. Er sagte, Feuchtwanger sei ein guter Freund und im selben Kreis gewesen, aber habe alle enttäuscht, er habe München in den Rücken gestoßen mit diesem Buch. Eine große Patronin des Demokratischen Studentenbunds in München war Frau Constanze Hallgarten. Schon in meiner Zeit im Deutschen Studentenverband in Berlin hatte ich von ihr gehört. Sie hatte unsere Münchner Freunde Hammelburger (er lebte leider nicht mehr als ich nun dort studierte) und Oldenburg sehr unterstützt in ihrem Kampf, den Status der Deutschen Studentenschaft in Bayern zu reduzieren, wie sie mir während des Republikanischen Studententags im Januar 1930 sehr lebhaft berichtet hatten. Sie lud jedes Jahr die demokratischen Studenten für einen Abend in ihr Haus; die Chance habe ich verfehlt. Es interessierte mich natürlich, wie sich die Verhältnisse in der Hochschulpolitik in München entwickelten, und will das auch noch skizzieren, nachdem ich schon soviel über Berlin berichtet habe (2). In Bayern waren die staatlich anerkannten Studentenschaften nicht aufgelöst worden. Es gab also weiter allgemeine "Asta" Wahlen und diese hatten immer eine hohe Beteiligung. Wie überall war die beherschende Kraft bisher die Gemeinschaft der "waffentragenden" völkischen Korporationen, in München der "Waffenring", den man gewöhnlich als deutsch­national eingestellt ansah, obwohl er durchaus nicht parteipolitisch gebunden oder organisiert war. Es gab aber außerdem dort eine katholische Liste, die politisch gemäßigter war. Auch die Nationalsozialisten traten mit mit einer eigenen Liste auf. 1928 errangen sie an der Universität drei und 1929 dann fünf Sitze (auf Kosten des Waffenrings) von gesamt 30. Die republikanischen Studenten blieben bei ihren drei Sitzen und die Katholiken bei ihren sieben (3). Es gelang den republikanischen Studenten und ihren Parteien nicht, von der bayrischen Regierung oder im Parlament die Entziehung der staatlichen Anerkennung der von den völkischen Rechten beherrschten Studentenschaft zu erreichen, aber die katholische Bayrische Volkspartei, Hauptregierungspartei, schloß sich republikanischer Initiative und damit der Politik des preußischen Kultusministers Becker soweit an, daß der bayrische Kultusminister die Beiträge der bayrischen Studentenschaften an die Zentrale der Deutschen Studentenschaft in Berlin sperrte. Diese Deutsche Studentenschaft war, da die preußischen Studenten seit 1928 keine Zwangsbeiträge mehr zu zahlen hatten, schon in finanzielle Engpässe geraten. An diesem Erfolg in Bayern hatte auch der sozialdemokratische Abgeordnete im bayrischen Landtag Dr. Hoegner großen Anteil, aber eben auch die diskrete Tätigkeit von Constanze Hallgarten. Das Anwachsen der Nationalsozialisten auf Kosten des Waffenrings brachte diesen und gemäßigtere Rechtsgruppen in eine latente Abwehrstellung. Die Nationalsozialisten traten sehr provokativ auf, mehrfach waren sie im Asta ganz isoliert und die gemäßigtere Rechte mit den Katholiken stimmten zusammen mit den republikanischen Vertretern gegen die Nazis (4). Das erinnerte mich zeitweise an Vorgänge an der TH Charlottenburg, aber in München machte die Existenz des geschlossenen, eigenständigen katholischen Blocks einen weiteren Unterschied. Es gab also immer wieder Machtkämpfe im Münchner Asta, so wie es schon in Berlin sogar Ehrengerichtssachen zwischen Korporations­ und Nazivertretern in den zentralen Gremien der Deutschen Studentenschaft gegeben hatte. Die Münchner Universität hatte ihre schwersten Unruhen im Sommer 1931 mit dem "Fall Nawiasky" zu bestehen. Die Wahlen danach im November 1931 brachten den Nazis nicht die erwartete Astamehrheit, sondern nur elf von 30 Sitzen, die Wahlen ein Jahr später im November 1932 zeigten bereits eine Reduktion der Nationalsozialisten auf zehn Sitze. Schon 1931 hatten sich die Gegner der Nazis gut konsolidiert, zu den Katholiken war eine Liste für Fachschaftsarbeit gekommen, 1932 erschienen unter den Nichtnazis auch eine Deutschnationale und eine Stahlhelmgruppe mit je zwei Sitzen, der Waffenring war reduziert auf nur vier Sitze. Das war also das Bild der Münchner Universitätsstudentenschaft kurz vor Hitlers Machtübernahme. Die Nazis erhielten nur 37% der Stimmen, die Wahlbeteiligung war von 93% auf 80% gesunken. Die Nazis hatten es immer wieder verstanden, durch patriotische Parolen die anderen nationalistischen Astagruppen für gemeinsame Aktionen mit sich zu reißen, aber sie brachten die anderen "Partner" durch maßloses Verhalten immer wieder in Verlegenheit mit Hochschule und bayrischer Regierung, so daß sie sich bis zur Machtübernahme Hitlers wiederholt isoliert fanden. Bei der Reichspräsidentenwahl 1932 beschloß der Asta eine Adresse an Hindenburg, d.h., er unterstützte die damalige Kandidatur Hindenburgs gegen Hitler, wieder eine Abstimmung, bei der sich die Nazivertreter isoliert sahen. Es kam zu einer Maßregelung des Naziführers durch Rektor und Senat, schließlich sogar zur Suspendierung des Nationalsozialistischen Studentenbundes für das Wintersemester 1931/32. Diese Einzelheiten (aus den vielen Pressezitaten in der Dissertation von L. Franz gefunden, und vielleicht von gewissem zeitgeschichtlichen Interesse) habe ich hier kurz erwähnt, sie nehmen spätere Vorgänge voraus, ich selbst habe ja nur das Sommersemester 1931 in München zugebracht. Zu den engsten Freunden Walter Seuffert's gehörte damals Ernst v. Borsig, den ich auch schon beim Repetitor Broich kennengelernt hatte. Wir trafen uns öfters, besonders zum Mittagessen in der Osteria Bavaria an der Schellingstraße, es war ein recht gutes, gepflegtes und ruhiges, aber zwangloses Restaurant, einige Studenten, viele höhere Beamte, man saß oft im Garten. Wir gingen auch manchmal zusammen zu Veranstaltungen, so zu einem Vortragsabend der Staatspartei, an dem der Nationalökonom Dr. v. Zwiedeneck­Südenhorst sprach, und einem Abend im Politisch­Akademischen Klub, eine spezifische Münchner Einrichtung, überparteilich, an dem der frühere preußische Kultusminister Becker sprach. Ich kannte ihn ja aus Berlin, und meldete mich auch bei ihm. Wenn man an Politik interessiert und schon in München war, gehörte dazu natürlich auch, daß man sich dafür interessierte, wie Hitlers Partei aus nächster Nähe aussah und was man über sie am Ort erfahren und sehen würde. Es war allerdings keineswegs so, daß sie im München von 1931 eine wirklich überbordende Erscheinung waren, so etwa ganz München, die "Stadt der Bewegung". Ich fragte mal, ob man die führenden Leute der Partei auch sonst mal sehe, was für Lokale sie besuchen. Da war, wurde gesagt, ein Bräu in der Schellingstraße, wo z.b. Gregor Strasser und Frick oft saßen. Auch Hitler, nein wurde gesagt, eigentlich nicht. Als ich eines Tages mit Seuffert und v. Borsig in der Osteria Bavaria saß, sah ich einen untersetzten, eher dunkel wirkenden Mann zwei Tische entfernt, ich weiß noch heute nicht wieso, aber meine Blicke gingen immer wieder auf diesen Mann, er schaute eher finster drein, und schien einen auch anzustarren. Plötzlich dämmerte mir etwas, ich fragte meine Freunde, ob das nicht der Hitler wäre, ja, sagten sie, der kommt hier öfters her. Mein Erstaunen schien also ganz unangebracht, niemand schien ihn zu beachten, er saß mit drei anderen Männern an einem Vierertisch, wie die meisten waren. Ich habe ihn dort dann noch öfters gesehen, aber nie mehr in so großer Nähe, also diesen merkwürdigen Zwang, mir einen noch Unbekannten immer wieder anzusehen, als ob ein böses Fluidum von ihm ausgehe, das war eine einmalige Begebenheit, aber seine weiteren Auftritte waren aus anderen Gründen kaum zu übersehen. Er kam meist in größerer Gesellschaft von acht bis zehn Personen und die schien so merkwürdig, daß ich mich an diesen Aufzug oft erinnert habe. Fast immer war der Photograph Hoffman, Hitlers Chauffeur und ein anderer Chauffeur des Braunen Hauses, wie man mir erklärte und natürlich Brückner, den man meist schon vorher sah, da er das Gelände anscheinend zu erkunden und einen Tisch zu arrangieren hatte, dabei. Es waren manchmal auch einige andere Uniformierte, manchmal auch eine jüngere Frau, die an der untersten Ecke des Tisches saß. Was für ein eigenartiger Aufzug, was für ein Mann mußte das sein. Kam er in dieser Gesellschaft dorthin, um die Bürger zu schockieren, oder weil er es so am liebsten hatte? Die Auftritte blieben nicht so unbeachtet, als der Sommer voranging, als man merkte, daß ein oder zwei der alten Kellnerinnen ihre Begeisterung für den Gast kaum verbergen konnten, die sich aber sonst kaum jemandem unter den Gästen dieses bourgeois­intellektuellen Lokals sichtbar mitzuteilen schien. Es hatte schon an verschiedenen Hochschulen Naziagitationen gegen einzelne politisch linke Professoren gegeben, in München gab es am 26. Juni 1931 dann die Auschreitungen gegen den bekannten Staatsrechtler Hans Nawiasky. Obgleich sie wie eine Reaktion auf seine Äußerungen in einer Vorlesung, über die der Völkische Beobachter am Vortage berichtet hatte, aussehen sollten, gab es Anzeichen, daß sie von den Nazis schon vorher geplant waren (5). Nawiasky war jüdischer Abstammung, in Czernowitz geboren, aber ein prominenter katholischer Staatsrechtslehrer geworden, der nun allerdings durchaus nicht politisch links stand. Er war erst in der angestammten österreichischen Monarchie, dann in Bayern, auch Rechtsberater der bayrischen Regierung gewesen. In einer Vorlesung hatte er, ausdrücklich nur für seine Hörer bestimmt, Fragen internationaler Verträge erörtert, es näherte sich der Jahrestag des Versailler Vertrages, und bemerkt, daß die Deutschen ja den Russen 1917 in Brest­Litowsk auch sehr harte Friedensbedingungen auferlegt hatten. Da hatte es zunächst gar keine Unruhe gegeben, aber Nawiasky erhielt Warnungen, daß solche geplant seien. In der schon spät am 25.Juni erscheinenden Ausgabe des Naziorgans vom 26.Juni war der Fall Nawiasky ganz groß und hetzerisch aufgemacht, ganz klar als Signal zu gewalttätigen Protestaktionen an der Universität. Meine Verwicklung darin blieb begrenzt, ich war ja an der TH und schon so gut wie im Examen, aber gleich früh war es bei dem Repetitor Broich beinahe zu einem Handgemenge zwischen einem Nazistudenten in SA Uniform und v. Borsig gekommen, der sich sehr scharf gegen die Angriffe der Nazis auf Nawiasky gewandt hatte. Broich, selbst kritisch gegen Nawiasky, konnte Gewalttätigkeit verhindern, aber gegenüber in der Universität brach sie dann aus. Walther Seuffert wurde dabei verletzt. Ich war in die TH gegangen, aber besorgt, was passieren würde, ging zum Mittagbrot in die Osteria, und da saß Seuffert ganz allein, immer noch sehr erregt, unter dem Auge noch immer eine blutende Wunde (6). Er wollte nicht zum Arzt gehen, erzählte statt dessen, wie sich die Krawalle um Nawiaskys Vorlesung an diesem Morgen abgespielt hatten und er selbst dabei tätlich angegriffen und verletzt wurde. Die Nazis setzten die Krawalle noch in der folgenden Woche fort, bis der Rektor am Dienstag 2.Juli die Universität schloß. Sie wurde am 6. Juli wieder geöffnet. Nicht nur Nawiasky, auch der Rektor hatten sich sehr vorbildlich benommen, und am 8.Juli verurteilte dann auch der Asta der Studentenschaft die nationalsozialistischen Ausschreitungen (7). So endete der Fall Nawiasky wieder mit erneuter Isolierung der Nationalsozialisten, aber sie hatten von sich reden gemacht. Während meines Münchner Studiums hatte ich mich noch für ein hochschulpolitisches Anliegen interessiert, die Bildung von Fachschaften, durch die Studenten einer Fachrichtung ihre besonderen Interesen wahrnehmen könnten, und daß eine Zusammenarbeit solcher Fachschaften dann vielleicht die studentische Selbstverwaltung anstelle der so hochpolitisierten Studentenschaft und ihrer Astas übernehmen könnte. Das war schon in Charlottenburg nach Auflösung der staatlich anerkannten Studentenschaft ein Plan gewesen (8). Meine demokratischen Freunde baten mich auch an den Besprechungen teilzunehmen, die grade in München aktuell wurden. Sie gingen noch nicht sehr weit damals, aber ein Stein kam ins Rollen. In späteren Semstern gab es dann in München eine Fachschaftsliste bei den Astawahlen, die dazu beitrug, eine Nazimehrheit an der Universität bis zu Hitlers Machtübernahme zu verhindern. Für mich aber war nun das Examen für den Diplomkaufmann gekommen, das ich auch ganz gut bestand. Am 13. Juli saß ich bei einer der schriftlichen Prüfungen, und wieder gingen Nachrichten im Raum herum, Zeitungen wurden gezeigt, die deutsche Bankenkrise war ausgebrochen, die Danatbank hatte schließen müssen. Ein Gefühl tiefster allgemeiner Krise verbreitete sich. Die staatliche Bewirtschaftung aller Devisenvorräte, die eingeführt werden mußte, relativierte ferner alle Vorstellungen von freier Marktwirtschaft und trug so zur Krise des bisher vorgestellten Systems bei, eine Erscheinung, mit der viele Länder für Jahrzehnte zu leben haben würden. C) Zwischen Breslau und zu Hause Mit dem bestandenen Examen endete nun meine kurze Studentenzeit in München. Für meine weiteren Pläne war die Wirtschaftskrise nicht gut. Ich wollte weiteres Studium der Nationalökonomie zur Erlangung eines Doktorates mit einer Praktikantenstellung irgendwo vereinigen. Zunächst bewarb ich mich bei der Frankfurter Zeitung um eine Stelle in ihrem Handelsteil. Die Frankfurter Fakultät war sehr gut, und dort eine Dissertation zu machen, schien mir ein großer Preis. Ich fuhr nach Frankfurt, Heinrich Simon hatte mir gesagt, ich könnte mich jederzeit bei ihm melden. Erst sah ich den einstigen Jungdemokratenführer Hans Kallmann (1), der dort zur Redaktion gehörte, aber er war skeptisch, daß sich nun in der Krisensituation etwas machen läßt, und Heinrich Simon fand das dann auch. So gab ich Frankfurt auf und ging nach Berlin. Rawack & Grünfeld bauten Personal ab, hatten in der Krise große Verluste durch Vorkäufe von Eisen­ und Manganerzen erlitten, das entscheidende Gewicht war von Felix Benjamin auf Vertreter der Banken übergegangen. Die GFE meines Onkels Paul Grünfeld behauptete ihre führende Stellung in der Ferrolegierungsindustrie, die Krise machte sich aber auch bemerkbar. Mein Onkel Paul wollte mir helfen, aber meinte, daß meine besten Möglichkeiten nicht auf der rein kaufmännischen Seite oder Industrieverwaltung, sondern zum Beispiel bei Tätigkeit in einem wirtschaftlichen Verband liegen würden. Er kannte mich ja gut, ich war so viel dort im Haus, und es war vielleicht nicht unbedingt gebilligt, aber immerhin bemerkt worden, wie ich mich in politischen Dingen profiliert hatte. Die GFE gehörte dem Verband zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie (genannt Langnamverband) an, und mein Onkel empfahl mich an den Geschäftsführer Dr. U.. Mein Interview verlief erfolgreich, und er war bereit, mich anzustellen und das schien unter Dach und Fach. Bald mußte er mir aber mitteilen, daß sein Kollege Dr. Pietrikowski ein Veto eingelegt hat, weil es der Vertraulichkeit wegen nicht geht, daß ein Verwandter eines Verbandsmitgliedes in der Verwaltung beschäftigt wird. Es war eine große Enttäuschung für mich, und unerwartet, daß es grade von Dr. Pietrikowski kam. Er war früher mit dem von einer Posener Familie kontrollierten Ostwerkekonzern verbunden gewesen und einige Zeit auch Direktor bei Rawack & Grünfeld, aber ich mußte das einstecken. Dr. U. gab mir statt dessen eine Empfehlung an seinen Freund Leo Gross, Geschäftsführer des Verbands des deutschen Großhandels. Das Interview mit ihm brachte mich nochmals nach Berlin. Wieder sah ich auch die alten Freunde aus der Hochschulpolitik, auch Wolfgang Straede kam zu uns ins Kaffee Schön, um mich zu sehen. Einige Tage vorher war gerade die Gründung der Harzburger Front verkündet worden, also die Deutschnationalen hatten sich mit Hitler verbündet. Wir im Kaffee Schön waren voll Empörung und großen Befürchtungen, man fragte Straede, wie man sich das eigentlich vorstellt, Hitler zur Macht kommen zu lassen heißt doch, daß es in seiner Alleinmacht enden wird. Wir schrieben Oktober 1931. Straede bemühte sich, uns zu beruhigen, nichts werde außer Kontrolle geraten, alles sei dafür vorgesorgt. Ich verließ das Kaffee mit ihm, und als wir uns unter den Linden verabschiedeten, fragte ich, was er denn für Änderungen erwartet von der Harzburger Front. Es wurde deutlich, er meinte auch nicht, daß alles beim Alten bleibt, diese Harzburger Front hieß viel für ihn, eben doch eher, daß eine neue Zeit in Deutschland anfangen wird. Ich erwähnte die Stellung der Juden. Er zögerte ganz kurz, als um nachzudenken, als ob er bisher, oben im Kaffee, an diesen Punkt gar nicht besonders gedacht hätte. Ich sah, es kam plötzlich ein etwas stählerner Blick in das vertraute Gesicht, als ob es einer gewissen Anstrengung und Entschlossenheit bedurfte, wie er dann sagte, ja, es wird sich vieles ändern. So trennten wir uns, es gab mir das Gefühl, daß sich da ein Graben aufgetan hatte. Da ich wegen einer Praktikantenstelle aus Berlin nichts mehr hörte, fiel dann die Entscheidung, für meine Dissertation nach Breslau zu gehen und dabei soviel Zeit wie möglich auch im Geschäft in Kattowitz zu verbringen. Das schien auch angezeigt, die finanzielle Lage war dort angespannt geblieben der schlechten Konjunktur wegen. Für die Ziegelei war als Betriebsleiter ein aus Krakau stammender junger, auf Keramik spezialisierter Chemischer Ingenieur, Zygmunt Weingrün, engagiert worden, er schien sehr intelligent und energisch. Meine Schwester Lotte kam auch nach Kattowitz zurück, um dort in der Tischlerei der Firma sich auf Möbelfabrikation auszubilden. Die jüngere Schwester Marianne war noch zu Hause. Ich hatte ja seit 1928 nie mehr viel Zeit in Kattowitz verbracht, mußte mich nun neu mit manchem vertraut machen. Meine polnischen Schulkenntnisse hatten sich noch wenig verbessert, nur gelegentlche Anläufe mit Privatstunden in Ferien, Bemühungen, Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, aber im privaten Leben gab es noch kaum polnisch sprechende Kontakte, auch bei der Jugend. Die meisten meiner deutschen Schulfreunde waren fort in Deutschland, auch die jüdischen unter ihnen, aber es gab Ferienbesuche von manchen, und so blieben alte Freunde wie Karl­Heinz Lubowski und Hans­Werner Niemann, der jetzt auch in Breslau studierte. Als neue, sehr interessante Kontakte in Kattowitz ergaben sich 2 etwas ältere jüdische Intellektuelle, die beide Journalisten geworden waren, auch aus alten deutsch­jüdischen Kattowitzer Familien stammend und dorthin zurückgekehrt. Einer war Dr. Fritz Guttmann, Nationalökonom aber auch mit großen Kenntnissen und Urteil in Literatur und Musik. Er war bei der "Kattowitzer Zeitung" Leiter des Wirtschaftsteils und auch des Feuilletons geworden. Fritz Guttmann war verheiratet und lebte mit seiner Familie auf der deutschen Seite in Beuthen, ein weiterer Grund dort manchmal einen Abend zu verbringen. Das war kein Problem, der kleine Grenzverkehr, durch das Genfer Abkommen eingeführt, war ja noch bis 1937 in Kraft. Vorläufig war es attraktiv für uns, manchmal nach Beuthen zu fahren. Nach 1933 wurde es dann für manche in Deutsch­Oberschlesien attraktiv, mal nach Kattowitz zu kommen. Die andere neue Bekanntschaft in Kattowitz war Dr. Franz Goldstein, ganz und gar literarisch und künstlerisch eingestellt, unverheiratet. Die "Wirtschaftliche Vereinigung für Polnisch­Oberschlesien" umfaßte deutsche Kaufleute und Gewerbetreibende, wobei die deutsch­jüdischen natürlich einiges Gewicht hatten. Sie wurde, ebenso wie ihre Wochenzeitung, die "Wirtschaftskorrespondenz für Polen" von Dr. Alfred Gawlik, zur deutschen katholischen Gruppe gehörend, geleitet, und bei der Wirtschaftskorrespondenz war Franz Goldstein als Redakteur angestellt. Er entwickelte dort als Beilage eine Buchrevue verbunden mit Theater­, Konzert und Filmkritik, durch die er mit vielen bekannten Schriftstellern in Korrespondenz oder persönlichen Kontakt kam. Von seiner Münchner Studentenzeit stand er Arnold Zweig nahe und zeigte sich sehr begeisterungsfähig für manche junge Talente, zu denen auch Klaus Mann gehört hatte. So gab es in Kattowitz 1931 zwei sehr fortschrittlich und modern eingestellte Feuilletons, die sich, als ich 1927 zum Studium nach Berlin ging, noch nicht so profiliert hatten. Die Lage der deutschen Minderheit hatte sich weiter verschlechtert. Zwar hatten die Wahlen zum Schlesischen Sejm den Deutschen im Mai 1930 noch ein Drittel der Sitze gebracht, aber bei einer neuen Wahl im November waren die deutschen Stimmen stark reduziert und es kam zu deutschen Protesten im Völkerbund gegen polnischen Wahlterror. Entscheidend für die weitere Schwächung der deutschen Minderheit wurde dann im Laufe der Zeit der zunehmende polnische Einfluß in den Verwaltungen der verschiedenen Industriegesellschaften, die das Bild seit dem Beginn der 1930er Jahre bald vollkommen veränderten. Der polnische Staat half nach durch Zwangsaufsichten z.B. nach Steuerstreits. Es erschien in Oberschlesien eine ganz neue Schicht von gut ausgebildeten und erfahrenen polnischen Industrieverwaltern und Ingeneuren, wie es ja auch im übrigen Polen in diesen Jahren zu einer stärkeren Profilierung industrieller Aktivität kam, zum Teil unter dem Zeichen des sich in Polen entwickelnden Systems des "Etatismus". Die Geschäftsaufsichten über Teile der oberschlesischen, von ausländischem Kapital oder deutschen Adelsfamilien kontrollierten Schwerindustrie gehörten in dieses Bild. In Breslau meldete ich mich bei Dr. G. Hesse als Doktorand. Er war zu seiner Zeit anerkannt als sehr solider Nationalökonom, war Verfasser eines vielgebrauchten Lehrbuchs und außerdem Leiter des in Breslau bestehenden Osteuropainstituts. Er nahm mich als Doktorand gleich an und da ich einiges Polnisch auch die Verhältnisse in Polen etwas kannte, schlug er vor, als Dissertation eine Arbeit für das Osteuropainstitut zu machen, und zwar über "Die Auslandsverschuldung Polens", über die noch keine Publikationen vorlägen. Das nahm ich auch an und machte mich gleich an die Arbeit. Ich mußte natürlich auch die verschiedensten Vorlesungen belegen und vor allem an den volkswirtschaftlichen Seminaren teilnehmen. Sie waren interessant, Hesses Seminar sehr sachlich, nüchtern und gründlich, viel über wirtschaftspolitische Fragen, ich sprach selten, aber wurde beachtet. Der andere Ordinarius war Dr. Bräuer. Sein Seminar war eher lebhafter, mehr zu Gedankenflügen gegeben. Auch ich sprach öfter, mußte auch ein Referat über Krise und Konsum halten. Das Hauptprogramm über ein ganzes Semester wurde J.M. Keynes's "Treatise on Money" gewidmet, das 1930 erschienen, grade erst in deutscher Übersetzung vorlag und in Deutschland gleich großes Interesse fand. Auch ich hatte damals das Gefühl, daß einem die Augen für die finanziellen Zusammenhänge im modernen wirtschaftlichen Geschehen geöffnet wurden. Die wöchentlichen Sitzungen über Keynes's Buch, auf die man sich entsprechend vorbereiten mußte, wurden eine eindringliche Erfahrung. Breslau kannte ich ja gut von Jugend auf, meine Großmutter und andere Verwandte lebten noch dort. In der FWV traf ich wieder viele Breslauer, die in Berlin mit mir studiert hatten, ein neuer Freund wurde Heinz Kretschmer, dort war auch der alte Schulfreund Manfred Danziger. Mit den Schulfreunden, die zu den Korporationen gehörten, traf ich mich nicht, außer Hans Kuhnert, sie hatten mich ja auf die Boykottliste gesetzt. Wirkliche Freundschaft verband mich in Breslau wieder mit Hans­Werner Niemann und ein anderer menschlich wichtiger Kontakt wurde wieder Rudi Treuenfels. Ich hatte ihn jetzt auch als Chef seiner großväterlichen Breslauer Großhandelsfirma Grund & Lion in seinem Büro kennengelernt und seine politischen Verbindungen hatten weiteres Profil gewonnen. Fritz Klatt war nicht nur ein mit der Jugendbewegung verbundener Pädagoge, er war auch einer der Mitbegründer der "Neuen Blätter für den Sozialismus" geworden, die immer noch eine der wenigen Leitplanken für mich blieben, von denen man in den aufgeregten Wogen jener Jahre Land glaubte sehen zu können. Wegen meines starken Asthmas wurde mir für Ende des Wintersemesters ein Hochgebirgsaufenthalt im Sanatorium des Dr. Guhr auf der slovakischen Seite der Hohen Tatra verschrieben. Die herrliche Bergwelt der Tatra, unten das Popradtal und die alten Zipser Städte und Dörfer gehören zu meinen schönsten Erinnerungen an das alte Europa. Das Kurpublikum im Sanatorium und anderen Gebirgsorten war ein buntes Völkergemisch. Da waren viele tschechische Krankenkassenmitglieder, ungarische Besucher, manche davon jüdisch, ebenso wie Gäste von den vielen Tälern der Slowakai, wo es ja außer Slowaken auch noch viele ungarisch oder deutschspechende Bewohner gab, darunter auch Juden. Ins Sanatorium kamen viele aus der Umgebung zu Besuch, meist Zipser, und die hatten auch oft in Budapest studiert. So war das auch mit Dr. Nitsch, der weniger als Arzt im Sanatorium arbeitete und eigentlich ein Patient war. Dafür aber gab er Bridge Stunden, und ich wurde dort ein recht begeisterter aber von Anfang an nicht sehr vielversprechender Bridge Spieler, nahm auch bald auserhalb der Stunden viel an Spielen teil, die sich oft auf ungarisch abspielten. Nach dem Wintersemester 1931/32 verteilte sich meine Aufmerksamkeit und Zeit mehr gleichmäßig zwischen Anteilnahme am Breslauer Studium, den geschäftlichen Dingen zu Haus und Entwicklungen in Polen, die mich nun auch für meine Dissertation sehr angingen. Die Aufenthalte in Breslau gaben weiter engsten Kontakt mit der politischen Entwicklung in Deutschland. Sie wurde so beängstigend und turbulent, daß sie, wo immer man war und sich beschäftigte, die alles überhängende und beschattende große Beklemmung in diesen Monaten blieb. Die Arbeitslosenzahl stieg auf über 6 Millionen, die Nationalsozialisten nahmen weiter an Stimmen und an Kraft und Rücksichtslosigkeit im häufigen Straßenkampf zu. Die Diskussion über die Deflationspolitik des Kabinetts Brüning war auch immer heftiger geworden. Die Meinungen sind noch heute geteilt, ich war sehr gegen diese Politik eingestellt (2). Im März 1932 lief Hindenburgs Amtszeit als Reichspräsident ab. Hitler kandidierte für die Nachfolge, aber Hindenburg war bereit, sich zur Wiederwahl zu stellen, auch mit der gegen Hitler notwendigen Unterstützung der Sozialdemokraten, und dieser ProHindenburgblock gewann auch die Wahl gegen die Nationalsozialisten. Es brachte Aufatmen und Erleichterung, aber der Block versagte wieder nach dem erfolgreichen Wahlgang, wenn es zu Kompromissen über Wirtschafts­ und Außenpolitik hätte kommen müssen. Es gab bei den wichtigsten Faktoren der bürgerlichen Rechten die irrationale Vorstellung, daß zwar möglichst ohne Hitler, aber jedenfalls ohne und gegen die Sozialdemokratie "halbautoritär" regiert werden müsse, als neue Daseinsform für Deutschland. Schwerindustrie und Reichswehr übten ihre Einflüsse in dieser Richtung aus. Bald verlor auch Brüning das Vertrauen Hindenburgs, und schon damals war die Version, daß dies durch Hindenburgs Mißtrauen wegen der Pläne für Landreform und bäuerliche Siedlung in Ostelbien verursacht war. Brüning wurde als Reichskanzler durch einen Herrn v.Papen ersetzt, vom rechtesten Flügel des Zentrums, als Politiker bisher fast unbekannt. Die andere Schlüsselfigur im neuen Kabinett blieb der General v.Schleicher. Brünings Regierung war ja noch eine parlamentarische gewesen. Wenn auch ohne parlamentarische Mehrheit, war sie doch personell parlamentarischen Ursprungs. Das neue Kabinett Papen war das nicht und sein Hervortreten löste Skepsis und vermehrte Unsicherheit aus. Brüning hatte mit Hindenburgs und Schleichers Zusstimmung nach der erfolgreichen Wiederwahl Hindenburgs eine Verordnung für Auflösung und Verbot der bewaffneten nationalsozialistischen Kampforganisation SA erlassen, die Regierung Papen hob es wieder auf (3). Als etwas wie Papens politische Heimat und Profil wurde der "Herrenklub" in Berlin genannt, der breiten Öffentlichkeit ganz unbekannt. Er war einige Wochen im Amt, als ich in Kattowitz zum Bridge bei der Frau Else Silberstein eingeladen war und dort Herrn v.d. Knesebeck traf, Leiter des Büros der Kohlenhandelsfirma Caesar Wollheim im deutsch­oberschlesischen Gleiwitz. Er schien öfters nach Kattowitz zu kommen und wohnte bei Frau Silberstein, die ja seit vielen Jahrzehnten weiter eine Position im Kohlenhandel aufrecht erhalten hatte. Der andere Gast war Direktor Waclawek der Kattowitzer Firma "Progress", welche die polnischoberschlesischen Geschäfte von Caesar Wollheim übernommen hatte. Er war ein guter Pole. Zum abendlichen Bridge war ich dazugeladen worden. Mein Bridge war nicht so wunderbar, aber es gab angeregte Unterhaltung, und als Besorgnis über die neue Regierung in Deutschland laut wurde, stellte es sich heraus, daß v.d. Knesebeck ein Mitglied des Herrenklubs in Berlin war. Vermutlich hätte er das nie erwähnt, aber die Eröffnung war gewiss zeitgemäß. Er stellte Herrn v. Papen in bestem Licht dar, den Herrenklub als die Elite der Besonnenen und Verantwortungsvollen und die sicherste Bastion gegen eine Machtübernahme Hitlers. So war es ja dann leider nicht. Die Regierung Papen schien zunächst auf Distanz zu Hitler zu halten, schwächte aber die Weimarer Republik entscheidend durch die gewaltsame Absetzung der preußischen Regierung, ein großer Schock, auch weil es so glatt und widerstandslos vor sich ging. Es war traurig. Aus gingen Otto Braun und Severing, Abegg und die republikanische Gewalt über und durch die von ihnen so wohlorganisierte preußische Polizei. Als ich zum Beginn des Wintersemesters 1932/33 nach Breslau, mit meiner Dissertation schon weit gediehen, zurückkam, hatten sich die politischen Verwicklungen weiter gesteigert, aber es gab auch einige scheinbare Lichtblicke. Bei einer Reichstagswahl im Juli hatten die Nazis selbst mit ihrem Harzburg­Partner Hugenberg zusammen nicht die Mehrheit der Stimmen errungen. Die Reichstagsmehrheit allerdings bestand nun aus Nazis und Kommunisten. Diese lehnten mehr noch stärker als bisher jegliche Fühlungnahme oder gar Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten und anderen Arbeiterorganisationen ab. Als ihre Parole verbreitete sich, man müsse nun auf das Vierte Reich warten. Das also war Moskaus Politik. Eine niederschmetternde Erfahrung und Gefühl eines beginnenden Chaos wurde für mich der Berliner Verkehrsarbeiterstreik vom 3. November 1932, der zu einer fünftägigen Lähmung der Berliner Verkehrsmittel gerade im Augenblick der weiteren Reichtagswahl vom 6. November führte, und zu dem, gegen den Willen der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften, die Nationalsozialisten und Kommunisten gleichzeitig aufgerufen hatten (4). Die Juliwahl hatte den Nationalsozialisten mit 37.8% (5) die höchste Stimmenzahl vor ihrer Machtergreifung gebracht. Die Regierung Papen/Schleicher, im Einverständnis mit Hindenburg und Hugenberg, versuchte auf eine Lösung durch erhoffte "Zähmung der Nationalsozialisten" hin zu arbeiten, eine Illusion, die Hitler bald durch Forderung auf die ganze Macht zerstörte. Der Reichstag wurde wieder aufgelöst und die Wahlen vom 6. November 1932 brachten zum ersten Mal wieder einen Rückgang der nationalsozialistischen Stimmen. Auch die Finanzen der Partei hatten gelitten. Es gab unterdeß auch Anzeichen einer beginnenden Verbesserung in Weltwirtschafts­ und deutscher Wirtschaftskrise. Die parlamentarische Lähmung im Reichstag aber dauerte an mit Nazis und Kommunisten in knapper Mehrheit, Hitler bestand weiter auf der Kanzlerschaft, die Hindenburg ihm mit Schleicher verweigerte. So erschien ein neues Konzept für eine von außerhalb des Parlaments kommende Lösung ein Gebot der Stunde. Der "Tatkreis" hatte dafür seit langem agitiert, mit Schleicher als Schlüsselfigur für eine "Dritte Front", gestützt auf der einen Seite auf die Freien Gewerkschaften unter Führung von Leipart, wo es Bedenken gab gegen den sozialdemokratischen Kurs weiterer Verweigerung von Hilfe für die Politik der herrschenden halbmilitärischen Regierung, um Hitler von der Macht fernzuhalten. Auf der anderen Seite gab es die mehr zum Sozialismus drängenden Kreise der Nazipartei um den scheinbar mächtigen "Reichsorganistionsleiter" der Partei, Gregor Strasser, der sich gegen Hitlers Bestehen auf totaler Machtübernahme gewandt hatte. Eine bekannte Berliner Tageszeitung, die "Tägliche Rundschau", war für den "Tatkreis" gekauft worden, vermeintlich mit Schleichers Unterstützung, mit Zehrer seit September 1932 als Chefredakteur. Papen hatte Hindenburg keine parlamentarische Mehrheit für seine Regierung beschafft und mußte zurücktreten, Hindenburg machte Ende November 1932 Schleicher zum Reichskanzler. Zehrers Aktivitäten und Entwicklung hatte ich ja seit Herbst 1929 aufmerksam und mit, wenn auch gar nicht unqualifizierter Anteilnahme verfolgt, seine Schlüsselstellung als scheinbarer Sprecher Schleichers (6) brachte mich diesen letzten verzweifelten Anstrengungen gegen Hitlers Machtübernahme besonders nahe. Auch sonst gab es auf der Linken neben den Gewerkschaften Leiparts Zeichen von Zustimmung. Leopold Schwarzschild hatte mit seiner antideflationistischen Kampagne zur Arbeitsbeschaffung in einer gemeinsamen Front mit Leipart und den Gewerkschaften Stellung bezogen. Bei allem Abstand zwischen ihm und der "Tat" kam er zum Schluß, daß nur die Unterstützung einer aufgeklärten autoritären Regierung das Schlimmste, nämlich Hitler's Machtübernahme, verhindern könne (7). Der Kreis um die "Neuen Blätter für den Sozialismus" hatte auch an "Brückenbau" zwischen links­ und rechtsgerichteten sozialistischen Kräften gearbeitet, auch mit Kontakt u.a. mit Otto Strasser (8). Bei den Neuen Blättern war man aber anscheinend skeptisch über eine solche "Einheitsfront" um Schleicher, aber die Fühlungnahme wird als Teil der in diese Richtung gehenden Anstrengungen gesehen (9). Schleicher's Pläne für eine "Dritte Front" kamen nicht zum Zug. Er dachte wohl auch immer noch an eine "Zähmung" der Nationalsozialisten als Alternative. Die Heeresleitung war zweifelhaft, ob ein Einsatz der Reichswehr gegen Hitlers Kampfverbände noch durchführbar sein würde. Strasser schien den Stein ins Rollen zu bringen und legte mit einem Applomb am 8. Dezember alle seine Ämter in der NSDAP nieder. Es schockierte Hitler, er soll von Selbstmord gesprochen haben (10), aber es kam nicht zur erwarteten Spaltung der Partei. Auf der anderen Seite wurde auch Leipart vom Parteivorstand der SPD zurückbeordert (11), der abgesetzte v. Papen sorgte über Schleichers Kopf für neuen rechtsbürgerlichen Support für Hitler und schließlich für Hindenburgs Beschluß, Hitler am 30.Januar 1933 zum Reichskanzler zu ernennen (12). Nicht alle der in diesem Rückblick erwähnten Zusammenhänge und Vorgänge sind dem Miterlebenden in jenen schicksalshaften Monaten schon vollkommen klar geworden. Ich habe für meine Darstellung auch auf die reichhaltige Nachkriegsliteratur und Aktenforschung hinweisen können (13). Ich habe diese bewegten Monate zwischen der Universität Breslau und Kattowitz miterlebt, wo man natürlich viele Kontakte, wie auch alle Zeitungen und Zeitschriften hatte. Mit "Tat" und "Neuen Blätter" war ich ja seit langem vertraut, ebenso mit Schwarzschilds Tagebuch, nun las man auch die "Tägliche Rundschau". Aber es kam anders, das Unheil Hitler wurde nicht aufgehalten. Einem grausigen Vorfall auf dem tragischen Weg zu Hitlers Machtergreifung war ich auch besonders nahe gewesen. Im August 1932 hatte die Mordtat der Nationalsozialisten im deutsch­oberschlesischen Potempa, bei Gleiwitz, die Gemüter in ganz Deutschland erregt. Hitler hatte sich mit den Tätern voll und ganz solidarisch erklärt, die ihr Opfer zu fünft zu Hause überfallen und durch wiederholte Tritte in den Hals ermordet hatten (14). Ich war damals im August in Kattowitz auf der polnischen Seite Oberschlesiens nur etwa 30 km vom Tatort entfernt, wo Presse­ und Rundfunknachhall noch intensiver waren. Ich wußte, was die Nazis sind, da war ja nicht nur Hammersen gewesen, es hatte ständig schwere nationalsozialistische Grausamkeiten in Straßenkämpfen gegeben. Potempa war nicht im Straßenkampf, es war ein Überfall von fünf Nazis auf einen als kommunistisch verdächtigten jungen Arbeiter. Ob auch mitspielte, daß die Familie des Opfers polnisch­sprechend war, ist nicht klar. Erschütternd war danach wieder, wie bedrohlich eine mögliche Machtergreifung Hitlers für Deutschland sein würde, und man mußte dabei nun auch an die sich abzeichnende Drohung für die Juden in Deutschland denken. Wie Hitler die Täter des Potempa Mordes als Helden seiner Bewegung herausstellte, machte klar, daß es bei ihm keine Schranken gab für die Anwendung brutalster, rechtloser physischer Gewalt. Aber er wurde Reichskanzler. Was würde nun wohl aus Deutschland werden? Kapitel 6 Nach dem Ende von Weimar Die Machtübernahme Hitlers als Reichskanzler erlebte ich nun in Kattowitz mit Rundfunk, Zeitungen, einigen Telefongesprächen, dann gab es Filmwochenschauen. Es war ganz eindeutig mit dem Aufgebot an SA Märschen und Publikumserregung, obwohl das Kabinett noch eine Mehrheit von bürgerlichen und Fachministern hatte, das war die Machtergreifung. Hitler und seine Nazis schienen eine nachtwandlerische Begabung zu haben, solche Ereignisse zu inszenieren. Von den Festmärschen ging die SA wieder direkt zurück auf die Straße und Schlimmeres. Es kamen die Meldungen von blutigem Terror und Vergeltungsmaßnahmen. Bald mußte ich lesen, daß mein älterer FWV Bundesbruder Günter Joachim in Berlin von SA­Leuten abgeholt und grausam erschlagen wurde. Die Meldungen über Menschen, die als bekannte Gegner der Nationalsozialisten umgebracht oder in eines der schnell entstehenden Konzentrationslager gebracht wurden, häuften sich, besonders nachdem der Reichstagsbrand die Szene in Deutschland hell beleuchtet hatte, und es waren darunter immer wieder Namen, die ich gut kannte, und manche, denen ich begegnet war. Eine ganze Reihe meiner Freunde verließ Deutschland schon damals. Bei den neuen Reichstagswahlen am 4. März 1933 erhielt Hitlers Partei immer noch keine 50% der Stimmen, mit Hugenbergs Partei aber hatten sie es nun, und andere Parteien wurden soweit eingeschüchtert, daß ein Ermächtigungsgesetz Hitler vollkommene Macht gab. Es hatte von Nazis und ihrer SA veranstaltete antijüdische Kundgebungen gegeben, und am 1.April kam ein Tag des Boykotts aller jüdischen Geschäfte als Signal, daß die Unterdrückung des jüdischen Bevölkerungsteils nun im Ernst einsetzte. Es war gut, daß ich in diesen Wochen sehr beschäftigt war mit meiner Dissertation. Auch nahm ich ja an den Vorgängen im Geschäft und zu Hause in Kattowitz teil. Es war im Geschäft 1932 eine Veränderung eingetreten, die auch meine eigene Stellung und Zukunft betreffen sollte. Die Liquidität im Geschäft war angespannt geblieben, der Absatz der Ziegelei kam erst langsam aus der Wirtschaftskrise, weitere Kredite hatten beschafft werden müssen, wobei ich entscheidend mitgeholfen hatte. Dann kam 1932 der Tod des früheren Partners Max Grünfeld, für dessen Kremation Vater und ich nach Berlin gefahren waren. Nach seinem Ausscheiden hatte er in Berlin ein bequemes und geruhsames Leben führen können und danach noch geheiratet. Es war ihm noch ein verzinsliches Guthaben in der Firma verblieben, nach seinem Tode wurde nun verlangt, daß das für die Erben gesichert wird, und zu denen gehörte nicht nur die Witwe, Tante Mucke, sondern nach ihr alle Vettern und Kusinen, die etwas von solcher Erbschaft brauchen konnten, und da gab es einige. Daher waren nun an solcher Sicherung auch die interessiert, die sich als Sachwalter solcher Familieninteressen fühlten. Zu deren Auflagen gehörte außer hypothekarischer Sicherung auch, daß ich keine anderen Pläne für meine Karriere machen, sondern bei meinem Vater in Kattowitz bleiben sollte. Mit Verhältnissen in Polen hatte ich mich ja nicht nur durch die im Osteuropainstitut in Breslau vorhandene Literatur und Zeitschriften, sondern auch in Kattowitz vertraut machen können. Mein Polnisch hatte sich zusehends verbessert, wenn auch mehr zum Lesen solcher Literatur und Zeitungen oder auch Geschäftspapieren als für Konversation und Umgangssprache. Im Spätsommer 1932 besuchte ich zum ersten Mal Warschau. Meine Münchner Freundin hatte sich einer Rußland­Exkursion des Kutscher'schen Theaterwissenschaftlichen Seminars der Universität München angeschlossen, zu der auf der Rückreise ein Aufenthalt in Warschau gehörte, und ich wollte sie dort treffen. Sie kam dann auch nach Kattowitz. Meine Schwester Lotte hatte sich unterdessen mit dem Betriebsleiter der Ziegelei Zygmunt Weingrün, der überhaupt eine Stütze des Geschäfts geworden war, sehr angefreundet, sie schienen es sehr ernst zu nehmen. Bei Familie und Freunden traf Lotte damit zunächst auf Erstaunen, nicht nur, da er polnisch­jüdisch war und dementsprechend seine Familie und sein Freundeskreis, aber viele empfanden ihn auch als einen recht harten Menschen. Ich habe ihn im Laufe vieler Jahre dann eben als nicht nur sehr intelligent und tatkräftig, sondern auch als besonders zuverlässig für alle Dinge, für die er sich einsetzte, schätzen gelernt. In den Monaten nach Hitlers Machtübernahme, die ich in Kattowitz verbrachte, hatte sich Lotte mit ihm bereits verlobt, die Hochzeit sollte im Juni stattfinden. Ich aber wollte zu Semesterbeginn Anfang Mai doch wieder nach Breslau gehen, um meine Dissertation bei Dr. Hesse einzureichen. Zur Hochzeit meiner Schwester hätte ich ja dann kurz nach Kattowitz kommen können. Aber das kam dann anders. Ich hatte natürlich ein merkwürdiges Gefühl, jetzt nach Breslau zu kommen. Ich hatte mich ja als Gegner der Nazis exponiert und Hammersen wäre ich gewiß nicht gern begegnet. Aber wie eigenartig sich das jetzt fügte. Ich hatte ja einen polnischen Paß, und was man so hörte, auch mißliebigen fremden Staatsbürgern wurde damals gewöhnlich keine rohe Gewalt angetan. Ich unterhielt mich mit Dr. Hesse ganz offen über die Lage; an der Universität war man noch unsicher, neue Richtlinien über eine Sonderstellung jüdischer Studenten waren nicht ergangen, aber wurden erwartet, er nahm aber meine Dissertation entgegen und wollte mir Bescheid geben. Unterdeß nahm ich an Seminaren teil, seines war sachlich und diszipliniert, etwas ungemütlicher fühlte ich mich im Seminar des Dr. Bräuer. Ich konnte zunächst bei den Eltern meines FWV Bundesbruders Kurt Leipziger übernachten, bis ich ein möbliertes Zimmer fand. Ich meldete mich auch bei Rudi Treuenfels, er bat mich, ihn sofort zu verständigen, wenn ich in der Universität irgendwelche Schwierigkeiten habe. Ein Zimmer fand ich durch Hans­Werner Niemann. Er hatte eines in der sehr großen Wohnung von Dr. Ernst Fraenkel am Nikolaistadtgraben und es war noch ein anderes frei. Frau Fraenkel war eine sehr eindrucksvolle Frau, es waren viele Kinder im Haus (den Sohn Ernst, damals 9 Jahre alt, sollte ich 23 Jahre später in London wiedertreffen). Ihr Mann, Jurist, sehr kämpferisch gesinnter KCer und mit Auszeichnungen versehener Frontkämpfer des 1.Weltkriegs, widmete sich jetzt voll seinem Amt im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, durch dem bedrängten jüdischen Kriegsteilnehmern oft geholfen werden konnte. Dazu gehörten Vorstellungen von ihren Spitzenfunktionären sogar bei Hindenburg, aber Dr. Fraenkel war besonders bekannt dafür geworden, daß er sich in die Höhle des Löwens zum Breslauer Gauleiter Heines, einem der berüchtigsten SA Führer, gewagt und mit großem Schneid diese Intervention überstanden hatte. Er war jetzt meist im Berliner Büro des Jüdischen Frontkämpferbundes; wenn er am Wochenende nach Hause kam, reihten sich Besucher an Besucher, die Hilfe oder auch nur Rat von ihm haben wollten. Es war ein Zufall, daß ich nun dort war, ein sehr passenden Rahmen für meinen kurzen Mai 1933 Aufenthalt in Breslau, so kurz, weil Dr. Hesse mir bald mitteilte, daß neue Anweisungen nun vorlägen und jüdische Studenten nicht mehr promovieren dürften. Er bedauerte das, bot an, mir eine Empfehlung an Dr. Büchner, früher auch in Breslau, jetzt Ordinarius in Zürich zu geben, die ich auch gerne annahm. Man hatte ja solch eine Sperre nicht ausschließen können, und ich hatte für diesen Fall nicht nur an die Schweiz, sondern auch an die deutsche Universität in Prag gedacht, wo ich eventuell mit meiner Dissertation noch promovieren könnte. Zunächst verständigte ich auch Rudi Treuenfels; für meinen Besuch bei ihm hatte er auch seinen Freund Dr. Rademacher, früher so aktiv als republikanischer Professor, ein bekannter Mathematiker, gebeten. Beide bestanden darauf, daß man eine Beschwerde an das Kultusministerium machen müßte. Rudi Treuenfels, der ja zur Abstimmungszeit oft bei uns in Kattowitz war, fand, das wäre doch ein ausgezeichneter Fall, der Regierung die Unsinnigkeit ihrer Verfügungen nahe zu bringen. Ich war nicht sehr für diesen Plan, war dann doch bereit, eine solche Eingabe da und dort mitzuverfassen und zu unterschreiben, aber machte ganz klar, daß ich mich dadurch nicht gebunden fühlte und wahrscheinlich Breslau sofort verlassen und eine andere Universität außerhalb Deutschlands mir suchen würde. Nach Verständigung mit zu Hause beschloß ich, es erst in Prag zu versuchen. Nazi Grenzkontrollen beim Verlassen Deutschlands waren schon etwas wie ein Schreckgespenst geworden. Eine Bekannte von Kurt Leipziger wollte auch über Prag ausreisen; wir fuhren zusammen, man war bange, aber es gab gar keine Zwischenfälle. In Prag sah ich meine Freunde von der Rede­ und Lesehalle, man war dort schon Emigranten gewöhnt, und auf der Straße begegnete ich Dr. Otto Friedländer, einst Vorgänger meines Freundes Berlowitz an der Spitze der Sozialistischen Studenten in Deutschland. Wir kannten uns gut, er war dann später sehr aktiv in der studentischen Völkerbundsgruppe, wie ich ja auch. Er war nun schon einige Zeit in Prag als politischer Flüchtling, und ich hörte viel über die sich dort versammelnde politische Emigration, ihre Probleme, Pläne und beginnenden Aktivitäten. Er arbeitete auch zusammen mit Kurt Großmann, bekannt gewesen als Sekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, auf dessen Bitte ich auch bereit war, daß sein Haushaltsgut von Deutschland über meine Adresse in Kattowitz geleitet würde, sodaß es von dort nach Prag gehen konnte. An der Deutschen Universität Prag war man nicht bereit, mich noch für das Sommersemester einzuschreiben, und so fuhr ich über München weiter nach Zürich. Beim Umsteigen in München besuchte ich ganz schnell noch meine Freundin; sie war krank, und so ging ich allein essen, in die Osteria Bavaria, es war ziemlich leer, aber da saß Hans Bethe, Freund meines Vetters Werner Sachs, ich hatte ihn öfters in Dahlem getroffen, und so aß ich mit ihm. Als Physiker schien er schon weit aufgestiegen, war gerade von einer Gastdozentur in England zurückgekommen, es gefiel ihm nicht in Deutschland, er würde gleich wieder weggehen. Von Heisenberg und Schrödinger sprach er schon damals wie von Gleichgestellten. In Zürich, nach September 1930 war dies nun mein 2.Besuch und es regnete wieder, wurde ich sehr freundlich und hilfsbereit von Dr. Büchner empfangen und hätte bei ihm meine Dissertation fertigstellen können. Er konnte aber nicht garantieren, daß die Vorschriften erlauben würden, daß ich noch für das Sommersemester immatrikuliert werde. Das Sekretariat der Universität lehnte das dann auch ab, für das Wintersemester sollte es möglich sein, aber zusagen könne man es jetzt nicht. Ich traf in Zürich an diesem Tag auch die, wie ich schon von Hans Wener Niemann gehört hatte, unterdeß im Breslauer Seminar zu Rabbinern promovierten Bekannten Schlesinger und Funkenstein. Wir gingen zusammen essen, es gab da ein koscheres Restaurant in Zürich, und meiner neuen Lage war das ja auch sehr angemessen, daß ich dort so viel jüdische Atmosphäre zu spüren bekam und soviel darüber hörte. Unsere Unterhaltung war sehr lebhaft. Sie wollten durchaus ihr Bestes tun, um mich etwas mehr auf jüdische Wellenlängen zu bringen. Als sie besonders lebhaft sprachen und gestikulierten, wie ich es bei ihnen von Breslau her gar nicht gewöhnt war, schreckte ich wohl etwas zurück, und da meinte Schlesinger halb Scherz, halb Ernst, ich müsse mich eben daran gewöhnen, daß wir Juden eine orientalische Bevölkerung sind. Mein nächstes Ziel sollte die Universität Basel sein, sie gaben mir die Adresse ihres Kollegen Lothar Rothschild in Basel. Dort ging ich sofort zur Universität, die für mich unterdeß eine gewisse Gloriole als ein Wunschziel bekommen hatte. Sie war sehr alt und voller Prestige, man brachte sie schon mit Erasmus von Rotterdams Aufenthalt in Basel in Verbindung, dann waren da so bedeutende Namen wie Jakob Burkhardt und Friedrich Nietzsche. In der Kanzlei schien der Pedell die Szene zu beherrschen, seine Erscheinung entsprach so ganz dem Ruhm der Universität, wie ich ihn zu sehen begonnen hatte. Er hatte einen wundervollen Vollbart, an den ich mich als rötlich­braun erinnere, und er stand ganz vorn, wo der Amtsraum von den Besuchern abgegrenzt war, vor ihm lag ein großes ledergebundenes Buch. Ich trug ihm meinen Fall vor, und mit einer einladenden Handbewegung schlug er das Buch auf und bat mich, meinen Namen einzutragen. Damit war ich immatrikuliert. Es hatten sich damals in Basel seit Beginn des Sommersemesters 1933 eine größere Zahl von Studenten versammelt, die aus politischen oder "rassischen" Gründen ihr Studium in Deutschland abbrechen mußten. Ich war denn auch keineswegs der letzte Refugee, der noch im Laufe des Sommersemesters angenommen wurde. Diesmal ohne jede Empfehlung meldete ich mich mit meiner Dissertation bei Dr. Edgar Salin, der mich als Doktorand annahm. Die Begegnung mit ihm beeindruckte mich sehr und eröffnete viele neue Dimensionen (1). Wenn man ihm zuhörte, begann man zu vergessen, daß er als so rechtsgerichtet galt. Er war vehement gegen die Erfüllungspolitik für die deutschen Reparationen aufgetreten, als Gegenpol zu dem mir vom Demokratischen Studentenbund einst als häufiger Gast so gut bekannten Dr. M.J. Bonn. Aber es war schwer möglich, sich Edgar Salin in der Nähe auch nur Hugenbergs vorzustellen. Wesentlich war bei ihm Friedrich List, der deutsche Nationalökonom des frühen 19. Jahrhunderts, der an deutschen Hochschulen kaum noch neben Adam Smith oder Ricardo erwähnt worden war. List war ein "Nationaler" Ökonomist gewesen, für den staatliches Denken die Basis war, so etwas wie ein post­absolutistischer Merkantilist. Bei Edgar Salin war es auch die Staatsidee, die mit seiner Verbundenheit mit dem Stefan George Kreis zusammenhing, er hatte auch über Plato's Staatsidee ein Buch geschrieben. Bemerkenswert war dabei, daß er in allen Problemen der modernen Markt­ und Verkehrswirtschaft meisterhaft zu Hause war und sich dafür in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg noch einen erheblichen Ruf errang. Sein Seminar auch in 1933 war mehr davon erfüllt als von Plato und Friedrich List, und man hörte viel auch über Schumpeter und Keynes. Es ging damals dem langsamen Ende der Wirtschaftskrise entgegen, Roosevelt hatte sein Amt angetreten, die Allgegenwart des Staates in der kapitalistischen Wirtschaft war einem sehr stark bewußt geworden. Schutzzölle waren noch durch Devisenbewirtschaftung aufgestockt worden, und der Weg aus der Krise schien in den USA Roosevelts wie auch im Deutschland Hitlers und Schachts wiederum durch massives Einwirken des Staates zu führen. Edgar Salin schien die auf Adam Smith und Ricardo basierenden Theorien der reinen Verkehrswirtschaft als Abstraktionen zu sehen, nützlich für die erstrebenswerten Ziele der Marktwirtschaft, aber eben kein vollständiges Bild der Wirklichkeit, aus der "die öffentliche Hand" im Wirtschaftsgeschehen intern und international durch die Jahrhunderte, ganz gleich unter welcher Herrschaft, gar nicht weg zu denken ist (2). Neben den so interessanten Seminaren Edgar Salins und dort gemachten Bekanntschaften bot die Zeit in Basel auch andere anregende Abwechselung. Es gab die schönen Sommerabend­Konzerte im Hof des alten Münsters mit seinen Kreuzgängen, Orchesterkonzerte unter Felix Weingartner. Die Frau unseres Kattowitzer Anwalts und entfernten Vetters Hans Loebinger hatte mir Empfehlungen an zwei Verwandte in Basel gegeben, die beide aus Schlesien stammten. Der eine war Dr. Karl Joel, als Ordinarius der Philosophie Nachfolger auf dem Lehrstuhl Friedrich Nietzsches. Er lebte mit seiner Schwester; sie hatten Sonntagmittag jetzt oft eine Reihe von Emigrantenstudenten eingeladen. Sie waren beide sehr warm empfindende und geistig lebhafte Menschen. Auch wenn er nach einem Schlaganfall war, hielt er immer noch Vorlesungen. Sie gehörten sehr zu Basel und seiner Universität, aus den Unterhaltungen ergab sich, daß Albert Schweizer und Heinrich Wölfflin zu den engsten Freunden gehörten. Die andere Einführung war an Dr. Ludwig Scherbel, führend in der Motor Columbus, die seinerzeit auch das Elektrizitätswerk in Prinzengrube in Oberschlesien, eine alte Kindheitserinnerung von mir, mitfinanziert hatte. Er war nicht nur ein prominenter und sachverständiger Geschäftsmann, sondern auch ein Mensch mit auserlesenen kulturellen Interessen und Geschmack, großer Bibliophile und Kunstsammler. Er empfing mich überaus freundlich, ich lernte viele interessante Leute in seinem Haus kennen und war dort sehr gern. In der Universität hatte ich im Seminar den etwas älteren sozialistischen Studentenführer Beyer aus Berlin wiedergetroffen. Er erkannte mich vom DStV her, wir sahen uns auch sonst, meist saß ich im Seminar neben ihm. Auch in Basel war von FWVern wieder der schon von München her befreundete Ralph Kleeman und von Breslau Franz Ledermann, und ich war viel zusammen mit einigen Medizinstudentinnen, auch emigriert aus Deutschland. Natürlich beschäftigte einen damals die jüdische Frage besonders und Kontakte die damit zusammenhingen waren intensiv. Bei Lothar Rothschild hatte ich mich schon gleich nach Ankunft gemeldet und wurde gleich zum Freitagabend eingeladen. Er war noch ohne Stellung als Rabbiner, der Prophet gilt nichts im eigenen Vaterland, wie er meinte. Er lebte zu Haus bei seinem verwitweten Vater, wir hatten lange Spaziergänge und Gespräche über Gott, vor allem aber den damaligen Zustand der Welt und die jüdische Lage. Durch ihn und Funkenstein lernte ich auch andere, meistens auch Emigranten kennen, die stark in jüdischem Bewußtsein und Interessen verwurzelt waren. Es gab auch einen Diskussionsabend von einer zionistischen Studentengruppe arrangiert, wo die in Basel angekommenen sich aussprechen sollten. Die meisten kamen als bisherige Gegner oder Skeptiker, jemand, es wurde mir berichtet, es war einer meiner FWV er Freunde, sagte, wir selbst können einen Weg zum Zionismus nicht mehr finden (man war in seinen frühen zwanziger Jahren), vielleicht mal unsere Kinder. Ich fühlte, auch wenn man für sich selber aus der hergebrachten Abwehrstellung und Skepsis schwer herauskam, daß es doch ein natürliches Bedürfnis wurde, in der für die Juden durch Hitlers Machtübernahme in Deutschland sichtbaren Entwicklung den zionistischen Gedanken und Bestrebungen Interesse und aktive Sympathie entgegen zu bringen. Man wußte ja von ihnen, man war aber ein eher ablehnender Beobachter gewesen, der Akzent wurde jetzt doch anders. Ich hörte auch Martin Buber, der als diesjähriger Gast der Studentenschaft Basel in ihren Vortragsreihen einen religionsphilosophischen Vortrag hielt und ihn mit den Worten "Sören Kierkegaard.." anfing. Da war also ein alter Zionist der frühen Stunde, der den Zusammenhang mit europäischer Geistesgeschichte so betonte und in ihr seinen Platz einnahm. Am Ende des Sommersemesters besuchte ich auf dem Weg nach Hause meinen Vetter Ernst Grünfeld in Freiburg i.Br., wo er weiter Chemie studierte. Wir waren während des Semesters in nachbarschaftlichen Kontakt getreten, und nun zeigte er mir Freiburg. Wir tranken Wein auf dem Münsterplatz, aber obwohl es so eine katholische Stadt war, sah man auch viele Naziuniformen, und als das große Skandalum war da natürlich die Befremdung über die nazifreundliche Haltung, die der bekannte Philisoph Martin Heidegger als damaliger Rektor der Universität zeigte. Man hatte darüber in Basel mehr gesprochen als anscheinend in Freiburg. Es war für mich keine persönliche Enttäuschung, bei allem Interesse für seinen Lehrer Husserl, er war für mich ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Husserl hatte ja auch in Freiburg gelehrt, auch der alte Nationalökonom Schultze­Gaevernitz, häufiger Gast bei uns im Demokratischen Studentenbund in Berlin, ebenso wie seine Tochter, und ich erinnerte mich an Rudolf Küstermeyer, treibender Geist für unseren DStV. Jetzt stand über allem in Freiburg ein großes Fragezeichen. Ich fuhr nach Hause mit einem Zug, der mich direkt durch den Schwarzwald nach Osten führte und mir noch ein neues, schönes Stück Süddeutschlands zeigte. Irgendwo in Bayern saß ich im Abteil mit einem Bauern, er war sichtlich nicht sehr eingenommen von Hitler, aber lassen wir es mal, sagte er, der muß ja jetzt zeigen, was er kann, wahrscheinlich dauert das Ganze nur ein paar Monate. Solche Äußerungen hörte man gern, aber konnte man wirklich hoffen, daß es so ausgeht? Bei Beginn des Wintersemesters stellte es sich heraus, daß ich es gar nicht mehr auszusitzen brauchte, schon im Dezember konnte ich meine Prüfungen ablegen und am 15. Dezember erfolgte meine Promotion. Der Pedell mit dem wunderbaren Bart zog in einem Talar mir voran und dann wurde ich vom Dekan promoviert, langer Mühe und mancher Hindernisse Lohn. Nach meinem Examen lud ich zum Abschied zu einem kleinen Abendessen ein, italienisch, für mich damals ganz neu, aber so hatten es sich die Medizinstudentinnen gewünscht, und eine von ihnen fuhr mit mir, als ich vor der Rückkehr nach Kattowitz noch über Weihnachten und Neujahr meine Schwester Marianne in Paris besuchen wollte. Sie hatte aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen Chemie zu studieren und war zu Sprachkursen nach Paris gegangen. Paris und etwas vom Leben in Frankreich war nochmals ein neues Erlebnis und eine neue Erfahrung, und auch eine aktuelle. Es hatte in der Politik gerade den Stavisky Skandal gegeben, man wußte nicht, war das auch eine tödliche Krise der Republik, es gab auch Straßendemonstrationen, Ausschreitungen. Werden sie das System umstürzen? Nein, sagte Kurt Kronheim, der alte Freund vom Demokratischen Studentenbund, die französische Republik steht fest auf ihren Füßen, und er schien recht zu behalten. Er war einer von vielen deutschen Emigranten, die ich in Paris nun wiedertraf, auch Kurt Berlowitz war darunter. Marianne wohnte am Boulevard des Augustins, nahe dem Quartier Latin. Auch hier waren, wie in Prag, bereits viele der deutschen Emigrantenzeitschriften entstanden, die bis zum Kriegsausbruch 1939 für mich wichtige Beziehungspunkte mit politischen Entwicklungen bleiben sollten. Marianne und ihre Freunde führten mich zu Weihnachten in ein elsässisches Restaurant, sie hatten alle noch Heimweh. Berlowitz war vom Weltstudentenwerk gebeten worden, einen Artikel über die Lage der jüdischen Studenten zu schreiben. Er schlug vor, ich sollte das an seiner Stelle tun, ich wüßte ja mehr z.B. über Polen, und jetzt in Basel hatte ich ja nicht nur deutsche Emigranten getroffen, sondern auch jüdische Studenten aus Ost und Südosteuropa, von denen seit Jahren viele ins Ausland gehen mußten, um zu studieren. Es war ein wirkliches Problem, über das ich da nachdenken sollte, das die Sorgen jüngster deutsch­jüdischer Emigration in einen viel weiteren Rahmen stellte. Wo gab es da Wegweiser, war eine verstärkte jüdische Berufsumschichtung zu einer normaleren soziologischen Struktur, weg vom hohen Prozentsatz akademischer Berufe und Ambitionen, wie ihn ja nicht nur die Zionisten für die Möglichkeiten, die sich ihnen in Palästina bieten könnten, sondern auch für die weite Diaspora zum Beispiel die Gesellschaft "Ort" als Ziel hatte? Aber welche Chancen konnten verloren gehen für wirkliche Intelligenz aus dieser jüdischen Bevölkerung Europas, man mußte nur an die vielen Nobelpreisträger denken, die aus ihr hervorgegangen waren. Mit diesem zu verfassenden Artikel im Gepäck fuhr ich dann von Paris nach Hause. Kapitel 7 Emigration nach Hause, in Polen Wenn ich mir vorstellte, wo ich mir einst eine Karriere und Aufgabenfeld für meine Zukunft aufbauen würde, war mir im Laufe meiner Studentenjahre doch immer die Weimarer Republik als das natürliche Habitat für die Zukunft erschienen. Die gab es nun nicht mehr. Meine Freunde aus der Studentenzeit emigrierten, meist in die weite Welt, wo immer man ein Visum bekommen konnte, manche auch nach Palästina, für manche hieß es Umschulung weg von ihrem Studiengebiet auf einen praktischen Beruf. Für mich aber hatte wieder gegolten, daß ich jedenfalls zur Zeit an der Seite des Vaters gebraucht würde, und so sollte Mitarbeit im Familiengeschäft jetzt meine Hauptbeschäftigung werden. Man mußte sehen, wie sich das gestalten würde. Für weitere Sicht blieb Auswanderung, weiter weg von Hitlers Deutschland, immer noch im Blickfeld. Geschäftlich aber konnten wir damals in Kattowitz mit sich verbessernder Konjunktur wieder zuversichtlicher sein. Die Ziegelei stellte als eine ihrer Spezialitäten aus ihren Tonreserven Eisenklinker her, für die sich plötzlich substantielles Interesse für den Straßenbau ergab. Das Projekt war im Verhandlungsstadium und interessierte mich sehr. Im Verhältnis der deutschen Juden zu den offiziellen deutschen Organisationen hatte sich nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland alles geändert. Es gab gewiß auch Kräfte bei den Deutschen dort gegen eine Gleichschaltung dieser Organisationen mit den Nationalsozialisten in Deutschland (1), aber es wurde doch unmöglich für jüdische Mitglieder, in einer Organisation zu bleiben, die nicht offiziell von der judenfeindlichen Linie der Nazis abrückte. Mein Vater legte sein Amt als Vizepräsident des Deutschen Volksbunds sehr bald unter Protest dagegen nieder und schied aus der Stadtverordnetenversammlung aus (2). Die persönlichen Kontakte zum Leben der deutschen Minderheitsgruppen und zu manchen guten Freunden wurden auch betroffen. Meine Mutter und andere jüdische Mitglieder zogen sich nach einiger Zeit aus dem Meister'schen Gesangverein zurück, auch aus dem Hilfsverein Deutscher Frauen, und man ging nicht mehr in die Veranstaltungen der Deutschen Theatergemeinde, deren Spielplan ja von Deutsch­Oberschlesien herkam. Zum Teil war das ein langsamer Erosionsprozeß, es gab ja doch die verschiedensten Deutschen, die das wirklich bedauerten und aus ihrer Distanzierung zu den Nationalsozialisten keinen Hehl machten, es war ja auch nicht so wie in Deutschland, daß ein behördlicher Druck dagegen stand. Als bezeichnend für das Bild der deutschen Minderheit vor 1933 sehe ich, daß am Vortragsprogramm des Deutschen Kulturbunds, unter Leitung von Viktor Kauder, auch viele republikanische Akademiker und Schriftsteller aus Deutschland teilnahmen, so die Professoren G. Kessler, Th.Litt, Bergsträsser, H.v.Eckart, unter den Schriftstellern Walter v.Molo und Klaus Mann, der sich damals für den noch sehr jungen Autor Dr. Franz Goldstein sehr einsetzte (3). Bis Kriegsausbruch gab es dann zwei deutsche politische Gruppen im damaligen Polnisch­Schlesien, die sich offen gegen Hitler stellten. Da war die deutsche Sozialdemokratische Partei unter ihrem schon langjährigen oberschlesischen Führer Johann Kowoll und Dr. Siegfried Glücksmann aus dem früher östereichischen Teil (Bielitz). Sie hatte weiter ihre eigene Fraktion im Schlesischen Sejm, unterhielt ihre Zeitung "Volkswille", aber verglichen mit den 1920er Jahren waren ihre Statur und Einfluß zurückgegangen. Bei hoher Arbeitslosigkeit und der gegen deutsche Arbeiter gerichteten Einstellungspolitik der polnischen Regierungspartei hatten die deutschen Gewerkschaften an Boden verloren, und als 1933 die Freien Gewerkschaften in Deutschland gleichgeschaltet wurden, verloren die deutschen Sozialdemokraten in Polnisch­Oberschlesien noch mehr an Rückhalt. Ihre Partei und einige ihrer Organisationen blieben aber aktiv und arbeiteten effektiv mit an der gefährlichen Tätigkeit des sozialdemokratischen Widerstands gegen Hitler in Deutschland zusammen mit der deutschen sozialdemokratischen Emigration in Prag. Dazu gehörte sowohl "Kuriertätigkeit" für Einschleusen von Flugblättern und anderer Literatur, wie auch Rettung von politisch Verfolgten, die Deutschland heimlich verlassen mußten (4). Ich wußte damals nicht im Einzelnen über diese Aktivitäten, aber kannte den Gewerkschaftsvertreter Johann Kowoll. Mein Vater hatte ja auch einige Ämter in seiner Berufssphäre gehabt, Obermeister der Maurer­ und Zimmererinnung, Vorsitzender der Arbeitgeberverbände für Bau­ und Ziegeleiindustrie, und da hatten die Gewerkschaften ja auf der anderen Seite des Tisches gesessen. Der Syndikus der vom Vater geleiteten Arbeitgeberverbände war Franz Cichon. Er stand der anderen Gruppe von deutschen Hitlergegnern in Polnisch­Schlesien nahe, deren Auftreten besonders bemerkenswert ist. Sie bestand aus einem Teil der ursprünglichen Deutschen Katholischen Volkspartei. Unter deren Vorsitzenden Dr. Eduard Pant war diese Partei und ihre Zeitung "Oberschlesischer Kurier" zunächst ganz offen gegen den Machtwechsel in Deutschland aufgetreten (5). Auf Pants Antrag hatte sie gleich im März 1933 ihren Namen in Deutsche Christliche Volkspartei gewechselt, um auch anderen christlichen Hitlergegnern Zusammenarbeit anzubieten, und Dr. Pant fand dafür noch im August 1933 eine Mehrheit seines Parteitags. Daneben gab es noch den "Verband der Deutschen Katholiken", wo er auch bis Dezember 1934 die Oberhand behielt. Seit Februar 1934 gab er eine Wochenzeitung, "Der Deutsche in Polen", heraus; der bisherige Chefredakteur des Oberschlesischen Kuriers J.C. Maier wurde dort schon früher wegen seiner offenen antihitlerischen Haltung sehr angefeindet und wechselte zu Dr. Pants Zeitung als Chefredakteur. Im Juni 1934 legte Dr. Pant sein Amt im Deutschen Volksbund nieder, und im Dezember 1934 erzielten die Gruppen der deutschen Katholiken, die es vorzogen sich nicht offen gegen Nationalsozialisten zu stellen, eine Mehrheit gegen Dr. Pant im Verband der deutschen Katholiken. Dr. Pant und seine Gruppe blieben danach isoliert, ihre Haltung blieb eindeutig gegen die Nationalsozialisten gerichtet, und der "Deutsche in Polen" brachte fortlaufend viele kritische Berichte über Nazigreueltaten und auch die antisemitischen Exzesse. Natürlich wurden in deutsch­jüdischen Kreisen die Entwicklung von Dr. Pants Partei zu einer so entschlossenen antihitler Organisation mit ihrer eigenen sehr gut redigierten Zeitung außerordentlich begrüßt und bewundert. Wir waren Abonnenten der Zeitung und verbundene Leser, es war aber eine sehr betont auf christlicher und eigentlich eben katholischer Basis bestehende Gruppierung, so daß sich die Frage einer eventuellen Mitarbeit oder Einbeziehung deutsch­jüdischer Kreise nie stellte. Ich erinnere mich auch nicht an persönliche Kontakte mit Dr. Pant selber aus dieser Zeit. Er war aus dem österreichischen Teil Schlesiens gekommen, von daher in seine führende Stellung unter den deutschen Katholiken Polnisch­Schlesiens aufgestiegen und später nach Kattowitz gezogen, gehörte also nicht zu den alten Bekannten (6). In der ideologischen Einstellung gab es einen gewissen Unterschied zwischen reichsdeutschen und den österreichischen Katholiken, mit ihrer stärkeren Betonung einer völkischen Note und damit einem gewissen offenen Antisemitismus, anders als man es gewöhnlich von einem Führer des katholischen Zentrums in Deutschland gewohnt war (7). Bei Dr. Pant hatte man Anfang der dreißiger Jahre vor Hitlers Machtergreifung einen Kampf um den Vorsitz der Deutschen Theatergemeinde in Kattowitz, vielleicht zu Unrecht, etwas in diesem Licht gesehen. Die langjährige Vorsitzende Rosa Speyer sah sich einer Gegenkandidatur Dr. Pants gegenüber. Ich war bei dieser erregten Versammlung, die Wogen gingen hoch, es wurde durchaus nichts antisemitisches gesagt, für Dr. Pant schien es eine Sache christlich­nationaler Thematik für das Kulturprogramm im Gegensatz zu dem vermeintlich bisher vorherrschenden liberalem Einfluß (8). Es ist eigenartig: protestantische Gruppen und Jugend, aus der sich später viele pro­Nazis rekrutierten, stimmten damals gegen Dr. Pant für die Wiederwahl der langjährigen Vorsitzenden Rosa Speier, und als einer ihrer Freunde beschwerte ich mich beim katholischen Abgeordneten Jankowski, daß seine Organisation die Einheit stören wolle. Er selbst aber war dann in der Hitlerzeit unter den Katholiken nicht mehr auf der Seite Dr. Pants. Nun war also gerade Dr. Pant an die Spitze der katholischen Abwehrbewegung gegen Hitler getreten und gab ihr soviel Profil und Aggressivität. Persönlich besser bekannt waren uns einige der angestammten Oberschlesier, die zu ihm hielten, so der langjährige Kattowitzer Stadtrat Schmiegel, Dr. Alfons Rojek von den Christlichen Gewerkschaften und Dr. Alfred Gawlik, Geschäftsführer der "Wirtschaftlichen Vereinigung in Polnisch­Schlesien". Ihn sah ich dann oft, denn die Vereinigung ermöglichte es Dr. Franz Goldstern, Redakteur ihrer Wochenzeitung "Wirtschaftskorrespondenz in Polen" zu bleiben und auch seine literarische Beilage im bisherigen Stil weiterzuführen. Er hatte mich gebeten, Buchrezensionen über politische und geschichtliche Themen zu übernehmen, da seine Interesse mehr Literatur und Musik galten, und ich hatte auch angefangen, über aktuelle wirtschaftspolitische Tagesthemen Leitartikel für das Hauptblatt zu schreiben. Dabei bewegten mich auch Sorgen wegen der polnischen Finanzpolitik, die sich strikt an französischen Theorien modellierte, während woanders eine expansionistische Geldpolitik basierend auf den Ideen von Keynes betrieben wurde. Das Amerika Roosevelts war das einprägsamste Beispiel dafür, über das ich oft schrieb. Für Polen sollte ja die Nähe des sich auch mit expansionistischer Geldpolitik rapide aufrüstenden Hitlerdeutschlands ein Grund gewesen sein, seine Geldpolitik zu überdenken und sich von den Fesseln der französischen Schule von Gide und Rist zu emanzipieren, wovon ich auch sprach. Polen schien sich lange durch seine Finanzpolitik den notwendigen Spielraum zur erforderlichen Weiteraufrüstung zu verbauen. Zur Zeit der Weimarer Republik mit ihrer 100.000 Mann Reichswehr galt ja wohl in Deutschland mit Recht die polnische Armee als eine mögliche Bedrohung. Die Welt erwachte nur sehr langsam zu dem Ausmaß der von Hitler seit 1934 betriebenen, viele Vorstellungen sprengenden deutschen Aufrüstung. Jemand, der darüber laut und stark sprach, war Leopold Schwarzschild in seinem in Paris erscheinenden Neuen Tagebuch, das wir in Kattowitz natürlich abonnierten. Überhaupt war nun die in allen ihren Schattierungen bei uns vorhandene deutsche Emigrationspresse eine wesentliche Quelle von Information und Verbindung mit den Vorgängen in der Westlichen Welt. Man hatte sich ja auch neue Tageszeitungen suchen müssen, die Vossische Zeitung gab es nicht mehr, die lokale Kattowitzer Zeitung war gleichgeschaltet, so kamen wir zunächst zum "Prager Tagblatt", eine liberale Zeitung, die durch den Zuzug so vieler deutscher Emigranten nach Prag an Profil noch gewonnen hatte. Als sie nachließ, war da die "Prager Presse", im Besitz der tschechischen Regierung, aber auch mit Beiträgen von deutschen Emigranten, zum Schluß, wohl bis März 1939 war es dann noch die Mährisch­Ostrauer Morgenzeitung, die uns in Kattowitz ganz gut versorgte. Mein Freund Dr. Fritz Guttmann wurde auch von Kattowitz aus ein Mitarbeiter. Von allen politischen Emigrantenzeitschriften hat mich Schwarzschild's Neues Tagebuch immer am nachhaltigsten beeindruckt. Um die Warnungen vor der tödlichen Bedrohlichkeit der Hitler'schen Aufrüstung zu unterstreichen, brachte er häufig Beiträge von Winston Churchill und André Tardieu, den prominentesten der einsamen Rufer unter westlichen Politikern, die das Gleiche fühlten. Meine Mitarbeit an der Wirtschaftskorrespondenz für Polen gab mir natürlich einige Genugtuung. Meine Schwester Marianne erzählte nach einem Skiausflug in die Beskiden, daß auf der Rückfahrt in ihrem Abteil zwei Beamte des Wojewodschaftsamts saßen, die sich über meine prokeynesianischen Artikel lebhaft unterhielten. Ich wurde also gelesen. Es änderte sich aber wenig in der Politik. Was wir in der Wirtschaftskorrespondenz schrieben, machte sie nicht zu einem politischen antihitler Kampforgan, wie es Dr. Pant's "Der Deutsche in Polen" war. Es war ja eine Wirtschaftszeitung mit Literaturbeilage, aber aus der klaren antinationalsozialistischen Einstellung wurde kein Hehl gemacht, und unter den Büchern, die besprochen wurden, waren viele, die in Deutschland verboten worden waren. Für mich blieb das eine Nebenbeschäftigung, für die ich kein Honorar bezog. Ich schrieb unter einem Pseudonym, denn meine Hauptaufgabe dort in Kattowitz war ja im väterlichen Geschäft. Dort war das Projekt für Bau großer Straßen mit Eisenklinkern weiter fortgeschritten, der Initiator war der frühere polnische Finanzminister Wladyslaw Grasbki in Warschau, auch Eigentümer einer großen Ziegelei und sehr interessiert an der Mitwirkung unserer Ziegelei, die ihrer Kapazität nach eine der größten in Polen war. Der Vater fuhr nach Warschau mit Zygmunt Weingrün zu einer Besprechung mit Grabski, der zwar ein Politiker der nationaldemokratischen Opposition, aber doch mit guten Verbindungen war, und das Projekt sah weiter vielversprechend aus. Zusätzliche Kredite wurden von der Stadtsparkasse in Kattowitz dafür in Aussicht gestellt, und ich sollte nach Berlin fahren, um das dafür nötige Einverständnis der Witwe des Onkel Max zu erlangen, die von der dortigen Familie beraten wurde. Bevor ich nach Berlin fuhr, kamen die Nachrichten von der politischen Mordaktion Hitlers am 30. Juni 1934. Ich war gerade für einen Tag nach Krakau gefahren, man saß im Kaffee auf dem Platz vor den Tuchlauben gegenüber der alten Marienkirche; Kaffeehaus dort schien ein Anklang an die österreichische Vergangenheit Galiziens. Da kamen die Zeitungen heraus mit den Nachrichten über Hitlers Mordaktion und die Kommentare, die Hitler dazu abgab. Es war unbeschreiblich und unfaßbar, wie so etwas vom Zaune gebrochen, wie es aufgezogen war, dahin also waren die Deutschen gekommen, so sah ihre Regierung aus (9). Kurz danach fuhr ich also nach Berlin. Die alten Kumpane vom Demokratischen Studentenbund Franz Suchan und Horst Mendershausen holten mich am Bahnhof ab. Ich wohnte in Dahlem, die geschäftlichen Unterhaltungen spielten sich im Büro der GfE an der Hardenbergstraße ab. Mein Vetter Herbert schien dort im Sattel als ein Primus inter pares in der GfE Leitung mit Leo Forchheimer und Dr. Hans Krakenberger. Mein Onkel Paul war viel abwesend durch Krankheit. Meine geschäftlichen Gespräche verliefen befriedigend, also stand der Aufnahme des Kredits in Kattowitz, der für das neue Projekt gebraucht wurde, nichts mehr entgegen. Die Eindrücke während des Besuchs in Berlin waren schlimm. Die meisten Menschen, die ich traf, waren verwundert und verschreckt. Freunde, die nahe bei den Kasernen in Lichterfelde wohnten, wo man die ganze Nacht die Schüsse gehört hatte, ja es wurde immer noch weiter geschossen, waren ein lebhaftes Beispiel. Ich besuchte auch Richard Winners und Else Runge, er arbeitete jetzt wieder für eine amerikanische Zeitung. Ich fragte, was nun wirklich passiert wäre, das können Sie uns doch viel besser erzählen. Da meinten beide, Sie kommen ja aus dem Ausland, und das hörte ich noch oft. Dabei gehörte Winners' amerikanische Zeitung zu den prominentesten, die sich durch konsequente antihitlerische Berichterstattung und Haltung auszeichneten, und das war auch ganz energisch wie je seine Haltung. Bei manchen anderen schienen es nicht nur die Schwierigkeiten zu sein, richtige Informationen zu bekommen, sondern auch das Risiko, dem man sich aussetzte, wenn man zuviel herumzuhören schien. Ich glaube da eine beginnende Übung zu entdecken, möglichst nicht mehr zu viel zu sehen und zu hören. Das waren also die Wochen nach dem 30. Juni 1934. Auf der Rückfahrt von einer meiner Reisen nach Berlin während der Hitlerzeit hatte ich in Breslau Station gemacht und war auf der Schweidnitzer Straße Dr. Hans Lukaschek begegnet. Er hatte bei Hitlers Machtübernahme sein Amt als Oberpräsident von Deutsch­Oberschlesien verloren, ein engagierter Zentrumsmann. Er hatte sich als Anwalt in Breslau niedergelassen, erkundigte sich nach meinen Eltern. Als ich fragte, was er über die Entwicklung in Deutschland denke, sagte er, Sie haben es doch nun selbst gesehen, Sie wissen es doch, ich sah zu ihm auf, es liefen Tränen über seine Backen. So stand dieser große, starke Mann vor mir, für den ich immer soviel Sympathie und Hochachtung gehabt hatte, ein Eindruck, den ich in den kommenden Jahren nie vergessen konnte. Am Morgen nach meiner Rückkehr gab es bei uns Alarm. In der Ziegelei war in der Nacht ein Feuer ausgebrochen, sie war weitgehend zerstört, es hatte lange gedauert, bis die vielen Feuerwehren, die von der ganzen Umgebung zusammenkamen, den Brand unter Kontrolle bringen konnten. Für den Vater war es besonders tragisch, das Werk, auf das er so stolz war, als Ruine zu sehen; für uns alle war es ein großer Schock. Der Betrieb mußte eingestellt werden, für mich wurde die Auseinandersetzung mit den Versicherungsgesellschaften, die das Feuerrisiko teilten, die Hauptaufgabe. Die Sachverständigengutachten der beiden Seiten über die Schadenshöhe gingen weit auseinander, es kam zu einem Prozeß. Da der Grund von der Kopalnia Wujek (Oheimgrube) der Hohenlohewerke unterbaut war, wurden diese auch in die Auseinandersetzungen verwickelt, da die Sachverständigen der Versicherungen einen Teil der festgestellten Schäden, besonders an den großen Öfen, als Bergbauschäden bezeichneten. Die Hohenlohewerke, damals von den Gebrüdern Petchek kontrolliert, waren ja immer wieder wegen drohender Bergschäden im Gespräch gewesen, sogar ihr Ankauf des Grunds als Lösung. Jetzt gab es erneuten Kontakt, ihr Markscheider Dlugoborski war ein häufiger Besucher in den Ruinen der Ziegelei, für die sie ihren Abbau in diesem Teil der Oheimgrube hatten beschränken müssen. Ich hatte also einiges zu tun, und gut, daß ich da war. Unser Anwalt Hans Loebinger hatte unterdeß einen neuen, sehr intelligenten und versierten polnisch­jüdischen Partner in Marek Reichmann bekommen. Er kam aus der Gegend Lembergs, war erst kürzlich von Bielitz nach Kattowitz übergesiedelt. Es wurde 1935, bis wir den Prozeß gewannen und sich viele neue Fragen ergaben. Wiederaufbau der Ziegelei schien ein sehr schwieriges Vorhaben, und die Kosten hätten die Entschädigungssumme überschritten, die Rehabilitierung der Schornsteine alleine wäre der bergbaulichen Situation wegen zweifelhaft gewesen. In der Nähe war der Flugplatz entstanden, auch von da war Widerstand zu erwarten. Für vorstädtische Bebauung für Wohnzwecke wurde das Gelände aber als geeignet gefunden, und wir entschlossen uns dazu. Das Stadtbauamt befürwortete den Plan für die Parzellierung in Villengrundstücke. Die Tischlerei sollte aber vorläufig weiter bestehen, hatte sich schon in eine erfolgreiche Möbelfabrik entwickelt, es wurde noch dort investiert, ein Verkaufgeschäft in der Stadt eröffnet, so hatten Lotte und ihr Mann dort eine Existenz, die sie voll ausfüllte. Im August 1935 wurde ihre Tochter Nina geboren. Sie bekam ein deutschsprechendes Kinderfräulein, Thea, und wuchs damals mit Deutsch als ihrer Muttersprache auf. Ich mußte nach dem Ausgang des Prozesses wieder nach Berlin, Tante Mucke beanspruchte einen Teil der Entschädigung, ihre Hypothek mußte für die Parzellierungsaktion gelöscht werden. Es gab wieder die vielen Sitzungen im Büro der GFE, Onkel Felix Benjamin, Vetter Herbert Grünfeld, Anwälte. Der von uns an die Tante zu bezahlende Betrag wurde vereinbart (10). Von meinen jüdischen Freunden in Berlin waren die meisten schon ausgewandert, Kurt und Elli Lange, er erfolgreicher Mediziner, warteten darauf. Otto und Lore Lilien wollten nach Palästina und dort eine Druckerei aufmachen. Das hat mich interessiert, ich wollte sehen, ob ich mich daran nicht beteiligen könnte. Nicht nur in Deutschland, ich sah auch eigentlich nicht in Kattowitz oder überhaupt in Polen eine wirkliche Zukunft für mich. Wenn die Parzellierung erfolgreich eingeleitet ist, wäre für mich doch Auswanderung auch der richtige Weg gewesen. In der Einstellung zu zionistischen Hoffnungen in Palästina hatte sich doch manches geändert. Wie konnte es auch anders sein. Auch wenn die Aussonderung der Juden aus der deutschen Gesellschaft, zu der sie doch so stark und lebendig gehörten, und eben die nationalsozialistische Herrschaft nichts Endgültiges sein mußten, die Ungewißheiten jüdischen Diasporadaseins waren in neues Licht gerückt. Was für Möglichkeiten die zionistischen Hoffnungen wirklich bieten würden, das mußte sich noch zeigen, und eigene Identifikation mit nationalen jüdischen Zielen war noch wieder eine andere Frage, aber aktiver Sympathie für diejenigen, die sich dafür voll einsetzen wollten, konnte man sich nicht mehr verschließen. Wir waren zu Hause auch bald Abonnenten der in Berlin von Robert Weltsch herausgegebenen "Jüdischen Rundschau" geworden, die ein hervorragendes Forum für die Familiarisierung weiter Kreise des deutschen Judentums mit zionistischem Gedankengut und der politischen Entwicklung in und um Palästina wurde. Nun erlebte ich ja Zionismus auch aus nächster Nähe von einer anderen Seite, durch meinen zunehmenden Kontakt mit polnischen Juden. Hier waren seit langem auch in Intelligenz und Bürgertum fast alle prozionistisch eingestellt. Polen, das Zufluchtsland für europäische Juden nach mittelalterlichen und späteren Verfolgungen, hatte ein wirkliches jüdisches Bevölkerungsproblem im Zuge rapide wachsender Industrialisierung und Urbanisierung seiner Bevölkerung. Es gab Rufe nach einer drastischen Berufsumschichtung in der jüdischen Bevölkerung oder eben auch massiver Auswanderung, und das waren Fragen, die auch von den einsichtigsten Leuten auf jüdischer Seite empfunden wurden. Zionisten und Ort hatten daher einen fruchtbaren Boden für ihre Bestrebungen. In Krakau gab es eine jüdische polnische Tageszeitung "Nowy Dziennik", auch prozionistisch eingestellt, und die habe ich auch verfolgt. Ich nahm auch an Veranstaltungen der Zionistischen Vereinigung in Kattowitz teil, sie bestand aus einigen alteingesessenen deutschen Juden, Zionisten der ersten oder jedenfalls frühen Stunden und manchen der polnisch­jüdischen Zuzügler. Zu Vorträgen kamen Martin Buber, Harry Torczyner, Dr. Elias Auerbach, Olschwang u.a., nach denen man die Redner auch noch beim Tee kennen lernen konnte. Hannah Rappaport, vorher kurze Zeit mit Franz Neumann verlobt, hatte den aus Krakau stammenden Zygmunt Krieger, Importeur Schweizer Uhren, Bruder des sehr erfolgreichen Bankiers Hennek Krieger, geheiratet, ich wurde ein enger Freund. Sie war sehr aktiv bei den Zionisten, und ich erklärte mich bereit, an Spendenwerbungen teilzunehmen, man wies mir als Mitglied der entferntesten Kreise die "hoffnungslosen Fälle" zu. Dazu gehörte auch die Frau Else Silberstein. Ich rief an und sagte, ich wolle sie zusammen mit Hannah Krieger besuchen. Sie wußte daher gleich, worum es gehen sollte und sagte, Herr Walter, Sie wissen doch wie gern ich Sie habe, und Sie sind doch immer bei mir willkommen, aber, bitte, kommen Sie mir doch nicht "mit diesen Leuten". Ich mußte mich darauf einigen, daß sie eine Spende per Post schicken würde. Sie tat es auch, aber die Spende war sehr klein. Es schien nicht einmal ein hoffnungsvoller Anfang, und leider konnte es auch keiner werden, denn sie wurde bald schwer krank. Bei der Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof fand ich mich in der Reihe, die am Grab vorbeizog, um Erde auf den Sarg zu streuen, plötzlich hinter den einstigen Bridgepartnern v.d. Knesebeck und Waclawek. Jeder verabschiedete sich von der alten Dame noch mit einer formellen Verbeugung wie einem militärischen Salut. Es schien wie das Symbol einer vergehenden Zeit. Es blieb schon dabei, das zentrale Anliegen war einem der Sturz des Hitlerregimes in Deutschland, die Verbundenheit mit der deutschen Emigration und ihrer Publizistik das eigentliche Medium. Das war nicht nur das persönliche, jüdische Interesse, sondern auch die deutsche und schlechthin europäische Betroffenheit, die man darüber empfand. Das jüdische Interesse aber an neuen Lösungen und dann auch die Lage Polens, seine Probleme und Innenpolitik waren Fragen des Alltags geworden, mit denen man auch zunehmend befaßt war. Einige meiner jüdischen Schulfreunde waren aus ihrer juristischen Karriere in Deutschland geworfen worden, lebten zeitweilig auch wieder in Kattowitz. So hatten wir einen kleinen Kreis ähnlich gestellter (11). Meine Großmutter Oettinger war von Breslau nach Berlin zu ihrem Sohn gezogen. Er war nach den Nürnberger Gesetzen vorzeitig pensioniert worden und war im Verein nicht­arischer Christen tätig. Sie kamen beide öfters für lange Besuche zu uns. Weiterer von Hitler bedingter langer Besuch waren meine Vettern Gerber. Wolfgang, nachdem er den Juristischen Dienst quittieren mußte, war im Berliner Büro der GfE untergekommen. Der Rassenschande angeklagt, kam er schnellstens zu uns, sein Bruder Hans, Mediziner, später auch. Die polnische Regierung gab Aufenthaltsbewilligungen, aber nicht unbegrenzt, Wolfgang mußte später nach Prag gehen, Hans ging nochmal zurück nach Deutschland. Sie waren beide als Protestanten aufgewachsen, nun lernten sie auch unsere vielen neuen Kontake aus polnisch­jüdischen Kreisen kennen. Diese waren fast alle in polnischer Sprache aufgewachsen, Anwälte, Ärzte, Ingenieure oder Geschäftsleute, sie gehörten zu den jüdischen Gebildeten, die mit ihren lebhaften Interessen, gutem Geschmack und Temperament viel beitrugen zum pulsierenden Leben und der kulturellen Szene von Städten wie Warschau und Krakau. Die wir kannten, waren eben die, die es nach Oberschlesien verschlagen hatte. Meine Eltern nahmen an neuen Kontakten mit polnisch­jüdischen Kreisen kaum Teil, aber die mit deutsch­jüdischen wurden enger und vielfältiger. Unsere Parzellierung hatte gute Anfangserfolge aber ging dann langsam, ein neuer Durchbruch mußte noch kommen. Mein Vater hatte im Oktober 1935 seinen 70.Geburtstag gefeiert. Er meinte, wenn man genug Grund verkaufen könnte, müßte die Familie wieder eine neue "Produktionsstätte" aufbauen. Das blieb sein wirklicher Wunsch. Ich begann verschiedentlich, mich auch nach einstweiliger anderer Beschäftigung in der Nähe von zu Hause umzusehen. Dabei helfen wollte mir Hans Proskauer, Sohn unseres einstigen Hausarztes, der Karriere als Syndikus der Oberschlesischen Kohlenkonvention noch unter dem alten Geheimrat Williger gemacht hatte und nun auch unter den neuen polnischen Führungskräften in der Industrie in seiner wichtigen Stellung blieb. Er war einiges älter als ich, aber wie seine Eltern Freund unserer Familie. Dann waren Pläne für eine Beteiligung an einem Transportgeschäft in Danzig zwecks Eröffnung einer Filiale im neuen polnischen Hafen Gdyngen für mich, und schließlich näher dem Kriegsausbruch Ankauf eines Agenturgeschäfts in Kattowitz, das den Import von Rohstoffen für kleinere Industrien betrieb. Es hätte Kommissionsguthaben im Ausland gebracht. In Polen war seit 1936 auch volle Devisenbeschränkung eingeführt und Auswanderungspläne waren sehr erschwert. Es kam aber doch so, daß ich ganz mit den Angelegenheiten des väterlichen Vermögens in Kattowitz befaßt blieb. Wegen der Baubeschränkungen sollten Entschädigung von Hohenlohe und der Luftverteidigungsliga (LOP) gezahlt werden, ich fuhr mehrfach nach Warschau mit unserem Anwalt, der mit dem Syndikus der LOP gut bekannt war, die auch bereit schien, etwas zu tun. In der großen Tongrube der Ziegelei war ein sehr schöner Teich entstanden. Wir hörten über einen Plan in der Wojewodschaft in Kattowitz, daß dieses Teichgelände uns abgekauft und als Erholungsgebiet gestaltet werden sollte, als Abgeltung etwaiger Ansprüche von uns an die LOP. Das war dann aber schon sehr nahe dem Kriegsausbruch, und so blieben das alles Probleme und Hoffnungen, die sich in der dann einsetzenden Katastrophe wie Rauch und Dunst verflüchtigten. In diesen späteren 1930er Jahren ging ich auch noch mehrfach auf Ferien in die Hohe Tatra, wieder auf die slowakische Seite, nun in das Sanatorium des Dr. Holtzmann. Die Mischung war von ungarischem, slowakischen und deutschem Element, auch recht viel jüdisches Publikum, es war noch das einstige Mitteleuropa in einer so anziehenden Form. Nach Berlin war ich seit Mai 1936 nicht mehr gekommen. Kontakt mit den Berliner Verwandten gab es dann immer noch, da Vetter Herbert öfters auf Geschäftsreisen nach Polen kam und uns besuchte, einmal traf ich ihn sogar zufällig in Warschau. Im September 1937 starb der Onkel Paul Grünfeld. Er hatte sich immer geweigert, an Aufgabe der deutschen GfE Werke und Auswanderung zu denken. Die Familie war aber unter zunehmenden Druck der Nazis gekommen, mußte verkaufen und Deutschland verlassen. Tante Grete und die beiden Söhne Herbert und Ernst wanderten nach England aus. Für uns in Kattowitz wurde die weitere politische Entwicklung auch Grund zunehmender Beängstigung. Hitler hatte provokativ einen einseitigen Bruch des Versailler Vertrags nach dem anderen verkünden und durchführen können, ohne Widerstand seitens der Westmächte, das flagranteste die Remilitarisierung des Rheinlandes Anfang 1936, bei der man allgemein und wohl auch in Kreisen der deutschen Heeresleitung französische und englische Militäraktionen erwartet hatte, die, hoffnungsvoll, vielleicht zu einem Ende des Hitlerregimes hätten führen können. Diese Erwartung, daß eines Tages die Heeresleitung es ablehnen würde, die Verantwortung für Hitlers abenteuerliche Kriegspolitik weiter mitzutragen, gab es ja immer wieder, aber die Erfolge, die ihm wiederholt vergönnt wurden, schwächten in Deutschland Skepsis und Widerstandswillen gegen Hitler und schienen bei den Westmächten das Streben nach Appeasement nur noch zu vergrößern. Im September 1936 kam Stella Braham zu Besuch, Mutters Freundin aus Breslauer Jungmädchenjahren. Ihr Mann Dudley Braham war unterdeß einer der Editors der "Times" in London. Sie war nach Schlesien gekommen, um zu sehen, wie es den alten Freunden, die noch dort waren, in der Hitlerzeit erging, und so kam sie auch über die Grenze zu uns. Marianne hatte ihre Zeit in Frankreich abgeschlossen, Arbeitsgenehmigungen waren schwer, sie hatte zum Schluß dort als Au Pair oder Praktikantin in Bauernbetrieben auf dem Land verbracht, das hatte ihr sehr gelegen. Tante Stella lud sie nach London ein, sehr wesentliche Folge ihres Besuchs. Marianne war immer ein Mensch mit einem Lächeln und gewinnendem Wesen, sehr natürlich und "down to earth". Sie gewann dann auch in England viele Freunde. Mit unserem Besuch sprachen wir auch viel über Politik. Die "Times" war ja später ein Hauptpfeiler für Neville Chamberlains Appeasement Politik. Wie immer stark unter dem Eindruck von Leopold Schwarzschild's "Tagebuch" über die Gefahren deutscher Aufrüstung und drohenden Krieges und die Artikel Churchills, die dort veröffentlicht wurden, fragte ich sie, wann denn in England Winston Churchill in die Regierung aufgenommen würde. Nein, sagte sie, uns in England ist er zu abenteuerlich, man hat Mißtrauen, er wird nicht wieder in die Regierung kommen. Ich war sehr betroffen über diese Antwort, und das steigerte sich zur kritischen Verzweiflung beim Miterleben der ständig sich brauenden Katastrophe, die sich dann von Beginn des Jahres 1938 an unaufhaltsam entwickelte (12). Im Februar hörte man vom erzwungenen Rücktritt des Chefs der deutschen Heeresleitung v. Fritsch wie von einem Warnzeichen weiterer Zuspitzung. Viele hatten ihn für eine Hoffnung militärischen Widerstands gegen Hitler angesehen. Danach folgte der Einmarsch in Wien. Von Oberschlesien aus war man Wien näher gerückt, es war noch ein deutsches Gebiet gewesen, das nicht gleichgeschaltet war, auch viele unserer polnischen Freunde waren noch aus galizischer Vergangenheit her gewohnt, nach Wien als Beziehungspunkt zu sehen, so für Einkauf, Mode, Theater, ärztliche und zahnärztliche Kapazitäten. Wellen von politischen und jüdischen Flüchtlingen strömten nach Prag und manche kamen schon von dort nach Polnisch­Schlesien, als Hitler seine Aggressivität und Propaganda gleich nach dem österreichischen Anschluß auf die Tschechoslowakei richtete, mit der er dann im September in München einen vollen Erfolg erzielte: die Tschechoslowakei wurde ihm von Neville Chamberlain und Daladier ausgeliefert. Schon für einige Zeit hatte sie Zweifel am Wert des französischen Bündnisses gehabt und einen Vertrag auch mit Rußland abgeschlossen. Es schien uns in diesen späten Septembertagen 1938 ungewiß, ob die Russen, selbst wenn das Münchener Abkommen zustande kam, was ja auch bis zum letzten Moment unsicher war, nicht doch zunächst durch Luftangriffe bei einem Einmarsch Hitlers in die Tschechoslowakei intervenieren würden, und dann wohl nicht ohne Auswirkungen auf das benachbarte Oberschlesien. Überhaupt waren diese Tage des Münchner Abkommens für uns ja nicht nur Tage aufregender Radio­ und Zeitungsmeldungen. Polen selber hatte eine sehr eigenartige Stellung bezogen. Schon im Januar 1934 hatte Pilsudski, nachdem die Westmächte seinen Vorschlag (13) gemeinsamer militärischer Intervention gegen den damals noch schlecht bewaffneten Hitler abgelehnt hatten, einen Nichtangriffspakt mit Deutschland geschlossen, durch den Hitler auch die bestehenden Grenzen für zehn Jahre anerkannte. Auch nach Pilsudskis Tod 1935 änderte sich wenig in dem semiautoritären Regime Polens, dessen "Obersten"Regierung versuchte, Konflikte mit Deutschland zu vermeiden und eine gute Atmosphäre zu erhalten. So wurden, obgleich die Kreise um Pilsudski eher von linker, nichtklerikaler Seite kamen, eines Tages alle Freimaurerlogen verboten. Es gab keine Gesetze, die jüdische bürgerliche Gleichberechtigung einschränkte und schon gar nicht Rassengesetze, aber zunehmende Diskussion über die Notwendigkeit verstärkter jüdischer Auswanderung z.B. durch eine spezielle Aktion nach Madagaskar, und es kam ein stark umstrittenes Verbot ritueller Schächtung, das der polnischen Regierung auch wirtschaftlich vorteilhaft erschien. Am auffälligsten aber wurde die eigenhändige außenpolitische Linie der polnischen Oberstenregierung in den beiden großen Krisen des Jahres 1938. Die Zeit des österreichischen Anschlusses benutzten sie, um ultimativ eine alte Rechnung mit Litauen zu begleichen, und in der Krise der Tschechoslowakei verlangte Polen die Zuteilung des 1920 bei der Tschechoslowakei verbliebenen westlichen Olzateils des früheren Österreich­Schlesiens und bereitete sich vor, dort mit polnischen Truppen einzurücken, sobald Hitler die Tschechoslowakei angreifen würde. Gewiß war das nicht als deutschfreundliche Maßnahme gedacht, es war der verzweifelte Versuch, wenn die westlichen Alliierten die CSR nicht verteidigen würden, die Grenze zu Hitler dort wenigstens etwas nach Westen zu schieben. Es war aber auch die polnische Verweigerung russischer Durchmarschrechte, die eine Einigung des Westens mit Rußland hinderte und zum Weg nach München führte. So erlebten wir denn die Tage um München bei uns in Kattowitz als wirkliche Vorboten kriegerischer Verwicklungen, als polnische Militärbewegungen sich in der Stadt bemerkbar machten. Wir hatten auch Grundstücke in Nikolai, bei Kattowitz, es war auf dem Weg nach der Tschechoslowakischen Grenze bei Teschen. Ich mußte gerade dorthin fahren, es wurde eine Reise mit Hindernissen, die Straße war voll mit motorisiertem Militärtransport, auch Artillerie war zu sehen. Man konnte nur den Kopf schütteln, es sollte also wirklich dort einmarschiert werden, und es wurde auch. Der Versöhnungstag 1938 stimmte einen besonders ernst, als ob man ahnte, es könnte der letzte in Kattowitz sein (14). Zunächst gab es neue dramatische Vorfälle, auch für uns persönlich. Die Naziregierung hatte bisher Aufenthaltsrechte jüdischer polnischer Bürger in Deutschland respektiert. Gleich nach München hatten sie begonnen, ihre Aggressivität auch gegen Polen zu richten, noch im Oktober gab es Forderungen und dann plötzliche gewalttätige Ausweisung aller polnischer Juden, die einfach abgeführt und an die nächste polnische Grenzstation transportiert wurden. Man kann sich vorstellen, was solch eine spätherbstliche, nächtliche Aktion gegen ganze Familien und viele ältere Menschen an Härte und Grausamkeit bedeutete. Jenny Grünfeld, die schon betagte, unverheiratete Kusine des Vaters aus der Zalenzer Grünfeld Familie, war einer Erbschaft wegen unlängst von Kattowitz nach Beuthen gezogen, hatte einen polnischen Paß. Sie wurde auch zwangsweise nachts an die Grenze gestellt, die von den Polen zunächst geschlossen wurde. An manchen Stellen zwangen die Nazis die Deportierten zu Fuß auf die polnischen Grenzposten zuzulaufen, es wurde eine grausame Nacht für alle Betroffenen. Bei uns läutete morgens das Telefon, meine Mutter fuhr an die Grenze, um die Tante auszulösen. Sie hat dann in Kattowitz bei uns zu Hause bis zu Kriegsausbruch und Flucht gewohnt. Man erinnert sich, in Paris war der junge Grünspan so erschüttert über die Deportation seiner Eltern, daß er auf einen deutschen Diplomaten, der das nicht verdiente, ein Attentat verübte. Die Nazis benutzten das in der Nacht des 9.November 1938 als Anlaß für die "Reichskristallnacht". In allen jüdischen Geschäften wurden die Schaufenster eingeschlagen, und alle Synagogen in Deutschland sollten angezündet werden. Durch einen seltsamen Zufall kamen wir diesem bis dahin massivsten Nazi Gewaltausbruch gegen die Juden auch selber ganz nahe. Großmutter und Walter Oettinger hatten uns nicht mehr in Kattowitz besuchen können. Ein "J" war in ihren Paß gestempelt und Ausreise nur mit ordnungsgemäßen Auswanderungspapieren erlaubt. Wir hatten mit dem Onkel ein Treffen in Beuthen für 9.November verabredet, bevor man ahnen konnte, was an dem Tag passieren wird. Erika Schlesinger, Kusine aus der Zalenzer Grünfeld Familie, hatte angeboten, in ihrer Wohnung in Beuthen zusammenzukommen. Auch mein Vater wollte mitfahren, um den Onkel Walter zu sehen. Am Morgen wußte man schon in Kattowitz, was sich in der Nacht in ganz Deutschland und auch in Beuthen ereignet hatte. Wir hörten von Erika, daß inzwischen weiter alle jüdischen Männer abgeholt oder gesucht und in Konzentrationslager gebracht wurden. Ihr Mann, er war protestantisch, war noch nicht abgeholt worden, aber man befürchtete es. Da Onkel Walter schon angekommen war, fuhren wir auch nach Beuthen und nahmen teil an den Gefühlen und der Beklemmung, die die Vorgänge der Kristallnacht bei den deutschen Juden auslösten. In der Wohnung wartete man ängstlich jede Minute, ob SS oder Polizei doch kommt, um den Arzt Dr. Schlesinger abzuholen. Man hörte über andere Beuthener Verwandte, darunter den über 80 jährigen Onkel Wachsmann und Frau Bertha, älteste Tochter der Zalenzer Grünfelds, und deren Kinder Weissenberg und Brann, die abgeholt und gezwungen wurden, die Nacht über mit an der brennenden Synagoge zu stehen. Am Nachmittag gingen wir auf die Rückreise, die Straßen immer noch voll Glas und Trümmer, eine bedrückende Stimmung lag in der Luft. Die Vorgänge hatten großen Nachhall von Abscheu und Zweifel im Ausland. So kurz nach den unerwarteten Konzessionen, die Hitler in München gemacht worden waren und "Frieden für unsere Generation" bedeuten sollten, brachte diese massive Exhibition Hitler'scher Grausamkeit und Zerstörungswut große Ernüchterung und damit einen Schritt weg vom Geiste des Appeasements. Auch in Deutschland schien Zustimmung zu diesen Vorgängen nicht allgemein zu sein. Unser jüngerer Onkel Paul hatte 1937, als der Ablauf des Genfer Minderheitenschutzabkommens auch die Juden in Deutsch-Oberschlesien voll der Nazi Gesetzgebung aussetzte, sein Geschäft in Beuthen aufgeben müssen und es seinem bisherigen Geschäftsführer Slamal, einem guten oberschlesischen Deutschen überlassen. Er selbst konnte sich nicht zur Auswanderung entschließen und zog nach Berlin. Herr Slamal kam kurz nach der Kristallnacht nach Kattowitz und besuchte uns. Er war sehr erschüttert und in Aufruhr über die Vorgänge der Kristallnacht, es gäbe viele, die seine Entrüstung teilten. Er fand überhaupt, daß es viel Ablehnung gäbe. Neulich hatte er Besuch von einem Verkaufsdirektor von Krupp aus dem Westen, war zum Frühstück mit ihm verabredet. Als er ihn pflichtgemäß mit dem Hitlergruß begrüßte, winkte der Besucher ab, nein bitte, daß könne er vor dem Frühstück schon überhaupt nicht vertragen. So etwas gab es also, auch in solchen Kreisen, aber es hatte, leider, keine Konsequenzen. Im weiteren Verlauf des Winters wurde die Wendung Hitlers nun zu aggressiver Frontstellung auch gegen Polen immer klarer. Weihnachten besuchte uns Marianne. Sie hatte in England nach der Einladung bei Brahams und Sprachkursen eine Au Pair Stellung bei dem älteren, kinderlosen Ehepaar Dr. Kidd, er Naturwissenschaftler, gefunden, was auch mit Landwirtschaft zu tun hatte, und sie wurden ihr sehr gute Freunde. Daraus wurde dann Studium des Gartenbaus an der Universität Reading, so daß sie für diese Zeit keine Aufenthalts­Schwierigkeiten in England hatte. Für nachher machte sie sich Sorgen. Man hatte sie für Auswanderung nach Neuseeland begeistert, oder, wenn wir ihr finanziell von Kattowitz dafür helfen konnten, wollte sie ein kleines Gartenbaugrundstück in England kaufen, wovon man bei harter Arbeit gut leben könnte. Die Eltern, meinte sie, könnten dann auch hinkommen, wenn Hitler auch bei uns angreift. Das Ehepaar Kidd wollte sie adoptieren, wie würde Vater das nehmen? Ich fand man sollte ihm das nicht antun. Natürlich war das ganz falsch. Sie wollte sich auch taufen lassen, was ohnehin ihren Neigungen entsprach, anders als Lotte und ich hatte sie nie eine positive Beziehung zu ihrem Jüdischsein. Arme Marianne, die Tragweite des Ernstes unserer Situation hatte man nicht richtig begriffen. Heute weiß ich es, man hätte alles in Bewegung setzen, alles andere hintanstellen sollen, und versuchen sollen, ihr das Geld für die kleine Gartenwirtschaft freizumachen und ihr nach England zu transferieren, und ihr zur Adoption durch die Professor Kidds zuraten sollen. Als ich sie zum Abschied auf die Bahn brachte, erzählte sie, Vater hatte ihr beim Abschied gesagt, sie würden sich wohl nicht wiedersehen. Er ahnte und verstand es vielleicht viel besser. Die Stimmung ängstlicher Ungewißheit erreichte einen neuen Höhepunkt und eigentlich den entscheidenden Wendepunkt mit Hitlers Einmarsch am 15. März 1939 in die nach München noch unabhängig verbliebenen Teile Böhmens und Mährens, und Abtrennung der Slowakei von was bis dahin der tschechoslowakische Staat gewesen war. Es war mit hergebrachten Kategorien des Denkens schwer faßbar. Nach all den Zusicherungen, die Hitler in München gegeben hatte, marschierte er weiter. Churchill hatte es immer gesagt, Leute wie Schwarzschild hatten vergeblich versucht, Hitler die biedere Maske vom Gesicht zu reißen, jetzt ließ er sie selber ganz unverfroren fallen. Die Wirkung war momentan. Als Hitler gleich darauf seine Forderungen an Polen betreffs Danzig und den Korridor stellte, verpflichtete sich England schon am 31.März zu gemeinsamer englisch­französischer Hilfe für Polen. Nach weiteren fünf Monaten brach der 2.Weltkrieg aus. Nach der Besetzung Prags durch die Nazis ergoß sich ein Strom von politischen und jüdischen Flüchtlingen an und über die tschechisch­polnische Grenze. Es waren dabei auch viele, die erst ein Jahr vorher von Wien nach Prag entkommen waren. Es fanden sich verborgene Wege über "die grüne Grenze" und wegkundige Begleiter, für politische Flüchtlinge einschließlich Journalisten wurde auch viel getan von den Deutschen Sozialdemokraten in Kattowitz unter Johann Kowoll. Viele, die entkommen konnten, lernte man in Kattowitz kennen, die Kaffeehäuser Skala und Opera waren voll von ihnen, es entstanden gute Bekanntschaften, ja Freundschaften, bei uns zu Hause kamen immer irgendwelche neue oder auch wiedergefundene Flüchtlingsfreunde zum Essen. Viele blieben nur kurz, hatten schon von Prag aus an Visas gearbeitet, oder konnten sie jetzt sich verschaffen, die Konsulate, besonders das englische hatten viel zu tun und versuchten so viel zu helfen, wie es London ihnen erlaubte, die polnischen Behörden drückten alle Augen zu. Polen war ja nun selber in der heißesten Schußlinie. Die Leute, die da geflohen waren, sie erschienen beinahe schon Schicksalsgenossen. Viele der Flüchtlinge aber wurden von den Nazis bei Ankunft von Prag an der Grenze geschnappt und für weitere Untersuchung interniert. So erging es meinem armen Vetter Wolfgang Gerber. Er war einige Zeit in Prag geblieben, er kannte ja das GfE Geschäft und sie hatten dort Aufträge für ihn, mit späteren Bemühungen um Auslandsvisas hatte er noch keinen Erfolg gehabt, er war aus Prag geflohen, aber nicht bei uns angekommen, und wir hatten keine Nachricht. Bei Rosa Speier hatte ich damals das Ehepaar Kowoll getroffen, schließlich fuhr ich mit ihm wieder auf der Straße nach Teschen zu seinen Kontakten an der Grenze. Er erfuhr, daß Wolfgang auf der anderen Seite im Gefängnis saß, es wurden in Berlin Nachforschungen gemacht, ob etwas gegen ihn vorliegt. Das klang nicht gut. Wenn man etwas über das Rassenschandeverfahren gegen ihn fand, würde er wohl zur Aburteilung nach Deutschland gebracht werden. Wenn nichts vorlag, wurden die Flüchtlinge meist entlassen und konnten dann sehen, wie sie über die Grenze kamen. Die Fahrt mit Kowoll gab mir eine Idee von seiner wichtigen Arbeit, ich hielt mit ihm Kontakt aufrecht. Die wachsende Spannung zwischen Deutschland und Polen machte sich in Polens westlichen Provinzen besonders bemerkbar, Zeichen von Sympathie, ja Begeisterung von großen Teilen der deutschen Minderheit für Hitlers Forderungen auf Abtretung polnischer Gebiete wurden immer markanter, es kam zu Zusammenstößen, jugendliche Deutsche flohen auf die deutsche Seite und bildeten dort Stoßtrupps für den Tag, der kommen sollte. Man war umgeben von dauernder Kampfstimmung um die Zukunft Polens, und es waren nicht nur die vielen Flüchtlinge aus Prag, die einem die Lage deutlich machten. Einer unser häufigen Flüchtlingsgäste, früher Syndikus der österreichisch­englischen Handelskammer in Wien, schlug meinem Vater Besorgung von brasilianischen Einwanderungsvisen für die ganze Familie vor. Es war schwer vorstellbar, mein Vater nahe 74 Jahre, finanziell waren wir sehr gebunden, die Parzellierung kam nur langsam vorwärts, so auch unsere Entschädigungsklagen. Als sich die Lage so zuspitzte, machten wir besondere Anstrengungen auch für billigen Verkauf des gesamten Grundbesitzes. Als ein Interessent erschien unerwartet der polnische Bergarbeiterverband, noch immer unter Führung von Herrn Grajek wie zur Abstimmungszeit, jetzt war er Mitglied des polnischen Senats in Warschau. Er fand, sein Verband sollte die Grundstücke erwerben, aber konnte nicht allein entscheiden. Ich war interessiert zu hören, wie das mit seinen Erwartungen über Aussichten für einen Krieg zusammenhing. Ja, sagte der Senator Grajek, ich weiß, was Sie denken, aber die Schicksale des Krieges sind wechselhaft, ich weiß, wenn die Deutschen angreifen, wir werden schon weichen und Grund aufgeben müssen, aber wir werden dann wiederkommen. Das war also ein alter polnischer Oberschlesier, Bergarbeiterführer. Ich habe oft an diesen Ausspruch gedacht. So wie es dann kam, haben wir es uns beide wahrscheinlich in diesem Sommer 1939 kaum vorgestellt. Die Verhandlungen kamen nicht zum Zuge. Es gelang uns aber in den Wochen vor Kriegsausbruch die vier Gebäude, Wohn­ und Bürohäuser, die noch von dem Betrieb der Ziegelei her bestanden, zu verkaufen, und so hatten wir bei Kriegsausbruch etwas flüssige Mittel, um für das Gröbste zunächst gerüstet zu sein. Das brachte uns dann aber schon bis in die letzten Tage des August 1939. Es gab immer stärkere Anzeichen, daß Hitler eine Vermittlung überhaupt nicht haben wollte, daß er ganz auf Krieg setzte. Ich hoffte noch, wenn er sich überzeugt, daß England und Frankreich wirklich für Polen in den Krieg gehen, er doch noch zurückschreckt. Aber die Spannung wuchs, wir begannen, wieder zu beraten, was man tun würde, wenn es wirklich... Die Eltern würden in Kattowitz bleiben, das wurde eigentlich immer angenommen. Wenn die Deutschen kommen sollten, für die Eltern als alte Leute, und sie hatten ja auch verschiedene alte Bekannte, hoffte man, es könnte kaum so schlimm werden, wie auf einer Flucht. Wir Kinder würden weggehen, weder ich noch mein Schwager sollten riskieren, den Nazis, falls sie in Kattowitz einrückten, in die Hände zu fallen. Da war, wenn man die Lage betrachtete, noch die offene Frage, was Rußland im Konfliktfall tun würde. Man wußte, London und Paris verhandelten intensiv, aber es schien zu keiner Vereinbarung zu kommen. Trotz aller politischen Aggressivität und autokratischem Gebaren, wie sie es zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg gezeigt hatten, ich selbst sah die Russen nicht als militärisch aggressiv an. Waren sie dafür genug gerüstet? Einstellung zu ihnen war eine sich wiederholende Kette von versuchtem positivem Interesse und gewaltiger Enttäuschung. Ich hatte das ja auch lebhaft in Literatur und Presse der deutschen Emigration verfolgt. Mitte der dreißiger Jahre, als man desillusioniert wurde über die Haltung der Westmächte gegenüber Hitler, bemühte man sich, herauszufinden, ob Rußland doch sich als eine Hoffnung für fortschrittliche und freiheitliche Gesinnung entwickeln könnte. Die Vergangenheit war nicht ermutigend. Gab es Entwicklungen, die zu Hoffnung berechtigen konnten? Zu wem konnte man hinsehen, wenn der Westen zu beginnen schien, sich mit Hitler abzufinden? Es gab Erkundigungs­Pilgerschaften nach Moskau, auch Thomas Mann ging. Lion Feuchtwanger blieb sogar lange ein Getreuer, Schwarzschild hielt Distanz, und in Prag machte Willy Schlamm in der Weltbühne sogar einen Salto und wurde einer der heftigsten Rußlandgegner. Das hat man damals alles sehr miterlebt. Für mich war mit Stalins Säuberungsprozessen und Exekutionen wieder einmal alles vorüber. So war es ja schon in Deutschland spätestens 1932 beim Verkehrsarbeiterstreik in Berlin gewesen. Man konnte sich nur abwenden, und so war es ja auch mit der Behandlung von linken Abweichlern im Spanischen Bürgerkrieg, die Orwell zum Feinde machten, und auch als Arthur Koestler enttäuscht aus Rußland in den Westen zurückkehrte. Nun wartete man, konnten die Westmächte als Trumpfkarte gegen Hitler doch noch zu einem Abkommen mit Rußland kommen? Dann kam das rüde Erwachen als Stalin einen Pakt mit Hitler schloß. Nun schien der Ausbruch des Krieges fast unabwendbar. Viele gingen schon fort von Kattowitz. Lotte reiste mit Nina nach Lemberg ab, viel Haushaltsgut, auch z.B. Silber von den Eltern wurde dorthin geschickt. Ich war zweifelhaft über die Wahl von Lemberg in ukrainischer Umgebung, würde ein Krieg sich nicht auch bald auf den Balkan ausdehnen, mit Rumänien und Jugoslawien, Restmitglieder der Kleinen Entente und Verbündete Frankreichs? Aber viele Bekannte und Freunde gingen nach Lemberg. Manche aber waren schon vor Monaten nach Warschau gegangen, hatten dort Wohnungen gemietet. Ich war auch für Flucht in Richtung Warschau, wenn einem schon nicht mehr Chance und Zeit blieb, noch eine Reise ins westliche Ausland zu versuchen. Manche unserer Bekannten waren vorsorglich auf Ferien gegangen. Man konnte in Polen damals Ausreiseerlaubnis und kleine Devisenzuteilung für Ferienreisen nach Frankreich oder England bekommen. Bis in die allerletzten Tage des August war ich aber mit Vater noch mit den verschiedenen Notariatsterminen und anderem im Zusammenhang mit den Hausverkäufen "unabkömmlich". Mein Schwager plante schon während dieser Tage, auch nach Lemberg zu fahren, aber er war noch in Kattowitz, als es im Laufe des 31. August ganz klar wurde, daß Hitlers Angriff auf Polen unmittelbar bevorsteht. In Polen wurde Mobilmachung erklärt, der zivile Verkehr auf der Eisenbahn sollte um Mitternacht eingestellt werden, der letzte Zug von Kattowitz nach Warschau um 9.30 Uhr abends abgehen. Ich begann meinen Koffer zu packen. Mein Schwager wollte im kleineren Skoda Wagen, den er immer benutzte, nach Lemberg fahren. Manchmal hatte ich gedacht mit unserem alten großen Mercedes wegzufahren, hatte Telefongespräche mit Johann Kowoll über die Lage und ob wir nicht zusammen wegfahren würden, aber woher sollte das Benzin für so einen schweren Mercedes im Kriegsfall kommen? Ich war auch kein guter Fahrer, es kam also für mich auf die Eisenbahn heraus. Ich rief Kowoll noch an, er hatte auch gesagt, J. Maier vom "Der Deutsche in Polen" war auch interessiert, aber es war niemand mehr da, das Telefon antwortete nicht mehr. Ich packte fertig, nur ein handlicher Koffer, man mußte leicht und beweglich sein, es waren sehr heiße Sommertage, so packte man also. Ahnte man, wie lange es sein würde, daß man nie wiederkommen, die Eltern nie mehr sehen würde? Man konnte es nicht ausschließen. Es gab einen herzzerreißenden, ganz kurzen Abschied, es war beinahe, als ob Mutter doch dachte, die Eltern sollten auch mitfahren. Mein Schwager brachte mich auf den Bahnhof, wir verabschiedeten uns, er wollte noch die Nacht durch nach Lemberg zu Lotte und Tochter fahren. Als polnischer Staatsbürger war ich ja militärpflichtig, hatte zunächst Aufschub für mein Studium erhalten. Als ich mich 1931 zur Musterung stellen mußte, wurde ich wegen Kurzsichtigkeit zur Kategorie C eingeteilt, vom Dienst befreit, aber konnte im Fall einer Mobilmachung doch eingezogen werden. Ich hatte einen entsprechenden Militärausweis erhalten, unter Personalien stand da auch "Nationalität: Deutsch", "Religion: mosaisch". Neben meinem Paß hatte ich diesen Ausweis auch bei mir, als ich nun meinen Zug bestieg. Kapitel 8 Der 2.Weltkrieg bricht aus Der Zug war übervoll. Mein einziger Koffer lag da irgendwo oben, ich stand oder vielmehr hing an dem Handgriff, der von der Decke kam, so voll war das Coupé, gesprochen wurde kaum. Von Station zu Station kamen noch Leute in den Zug, erst nach langer Zeit erreichte der Zug das so nahe Sosnowiec, und da es Mitternacht war und der Zivilverkehr eingestellt wurde, sollte der Zug nicht weitergehen. Man sollte aber warten. Auf dem Bahnsteig sprach mich ein untersetzter Mann mittleren Alters auf deutsch an. Er war ein jüdischer Anwalt aus Chemnitz, der aus Prag nach Kattowitz geflohen war, und hatte mich, wie er sagte, öfters im Café Skala gesehen. Er war ganz allein, sprach kein Wort polnisch. Was für ein Elend, dachte ich. Er hatte gehört, am Ende des Zugs sei ein spezieller Wagen für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei, könnte ich ihm helfen, dorthin zu kommen. Wir kamen auch dort an, es war ein Salonwagen, für tschechische politische Flüchtlinge, wie es sich herausstellte, vielleicht waren auch einige Prominente darunter, sie taten eher so, jedenfalls für ihn hatten sie keinen Platz, er wäre ja nur ein "wirtschaftlicher" Flüchtling. Wir mußten abziehen, er sprach immerfort deutsch mit mir, wir wurden aufgehalten, mußten uns ausweisen, er fuhr dabei gut, er hatte von der polnischen Polizei in Kattowitz einen Flüchtlingsausweis erhalten. Ich mußte meinen Militärausweis zeigen, da stand ja Nationalität deutsch, Bekenntnis mosaisch. Das schien schwieriger für die Bahnhofspolizei, er konnte gehen, ich blieb verhaftet. Dann hieß es, der Zug geht doch weiter, ich wurde freigelassen und stieg wieder in mein Coupé, es war mehr Platz, ich konnte sitzen, und wir fuhren auf Umwegen Dombrowa­Olkusz, kamen nach Wolbrom. Es kam schon die Morgendämmerung und man sah eine Gruppe von Flugzeugen, sie flogen niedrig, paßten sich den Konturen des hügeligen Geländes an, eigenartig und unheimlich. Waren das schon deutsche Flugzeuge? Man wußte es nicht, aber konnte wenig Illusionen haben. Es gab also doch Krieg, all die letzten Bemühungen des 31. August, belgischholländisch noch, waren wohl gescheitert, es war nun der frühe Morgen des 1. September. Die eigene Situation war schwer zu glauben. Zu Hause waren die Eltern geblieben, hier war ich allein in diesem Zug, wohin fuhr er? Wo führte das alles hin, versank jetzt alles, was man kannte? Ich sah einen Lichtblick: Es würde wohl das Ende Hitlers sein, auch Deutschland würde von ihm befreit werden, aber was war der Preis? Was hieß Krieg 1939 verglichen mit 1914? Was würde die Zerstörung durch Flugzeugbomben sein? Man hatte von Guernica viel gehört, würden alle Städte im Nu zerstört werden? Für meine eigene Situation hatte ich ja schon in Sosnowiec noch einen zusätzlichen gehörigen Schock bekommen. Schon in den Wochen vor Kriegsausbruch war ja die Luft voll gewesen von Furcht und Verdächtigungen gegen eine 5. Kolonne, jetzt nahm das noch ganz andere Formen an. Auf einer Zwischenstation hatte ich die Abteiltür geöffnet, mein Weggenosse aus Chemnitz war froh, mich wiederzuentdecken und stieg ein, wir sprachen wieder deutsch, ich versuchte, es zu beschränken. Man wartete auf die nächste größere Station, Tunel, Knotenpunkt mit der Bahn von Krakau nach Warschau, was würde man dort hören, wie war das mit diesen Flugzeugen? Die Abteiltüren gingen auf, man sprach die ersten Leute, ja, deutsche Flugzeuge waren gekommen und hatten Bomben abgeworfen. Also das war es, der Krieg war da. Es war noch früher Morgen am 1.September. Alles war bedrückt und aufgeregt, dann kam Polizei, jemand im Coupé mußte sie gerufen haben, wir beide wurden verhaftet. Es war wieder dasselbe, auf seinen Flüchtlingsausweis wurde er gleich freigelassen, ich mußte warten. Es war wohl auch besser, daß wir uns trennten. Schließlich konnte ich auch weiterfahren, mußte nochmals den Zug wechseln, es gab weitere deutsche Fliegerangriffe, aber ich kam in Warschau an und fand ein Zimmer im Hotel Angielski. Meine Freunde Zygmunt und Hannah Krieger hatten auch eine Wohnung in Warschau gemietet und waren schon vor Wochen dorthin gezogen. Ich rief an, sein Bruder, Bankier Hennek, war auch da, wohnte bei ihnen, ein Prokurist der Bank, Zygmunt Rosshändler war grade angekommen, da ich ein Doppelzimmer im Hotel hatte, könnte er nicht zu mir kommen. Ja, natürlich. Auf der Straße und im Café traf ich einige Kattowitzer, den Schulkameraden "Julek" darunter, überhaupt manche deutsche Juden mit polnischen oder deutschen Pässen. Von der Vereinigten Holzindustrie Viktor Bulowa und Frau, sie wollten mit ihrem Auto nach Schweden, ja das würde mich interessieren, sie wollten mich wissen lassen. Es gab Sirenen, Luftangriffe, schon schlechte Nachrichten von deutschen Erfolgen in den Grenzgebieten. Am Sonntag 3.September saßen wir im Café vor dem Hotel Europejski, als die Nachricht über Englands Kriegserklärung durchkam, es war eine enorme Erleichterung, man spürte es allgemein, vor den Botschaften Englands und Frankreichs gab es Sympathiekundgebungen (1). Zum Abendbrot verabredete ich mich dort also mit dem Schulfreund, mein Hotel war ganz nahe dem Europejski. Es entsprach zwar den Gewohnheiten für einen Besuch in Warschau, aber an dem Tag war es wohl eine irre Idee. Ich bekam eine Tisch für zwei, aber er kam nicht, ich sah immerfort nach ihm aus, fiel wahrscheinlich auf, bestellte mein Essen, nachher in der Toilette verwickelte mich einer von diesen pfadfinderähnlich grün gekleideten jungen Männern mit Luftschutzabwehrtaschen umgehängt in eine Unterhaltung, erzählte mir über verschiedene deutsche Angriffe und die Wirkungen, die sie hatten, wollte wissen, was ich gehört hätte. Mit meinem holprigen Polnisch und heftigem Akzent sprach ich so wenig wie möglich, ging zum Tisch und zahlte. Als ich aus der Tür auf die Straße kam, wurde ich von zwei Bewaffneten verhaftet und in die Festung von Warschau gebracht, tief im Keller. In einem ziemlich großen Raum waren schon etwa 40 Leute, man konnte sitzen. Es war eine eigenartige Mischung, ich sah Bekannte, das Ehepaar Löbel aus Kattowitz, er aus Bayern mit deutschem Paß, ich hatte sie schon am Morgen getroffen, einige ähnliche Fälle. Von verschiedenen Polen, die dort auch saßen, wurde besonders ein deutscher katholischer Geistlicher beschimpft, dem man nicht glauben wollte, daß er vor Hitler auf der Flucht war. Es wurde nicht viel gesprochen, plötzlich sah ich Ernst Berliner hereinkommen. Der jüngste Bruder des Schulfreundes Ludel Berliner hatte spät in Freiburg sein Chemiestudium beendet, war dann auch mit uns in Kattowitz, wir hatten uns gut kennengelernt. Da er ein sehr gutes Examen gemacht hatte, bekam er ein Stipendium für die Harvard University, ein amerikanisches Visum und Schiffsbillet von Gdyngen für die letzten Augusttage. Würde er es noch schaffen? Nun sah ich, er hatte es nicht mehr geschafft, war offensichtlich von Gdyngen noch nach Warschau gekommen, und nun fand man sich im Keller der Citadelle. Zunächst blieben wir alle dort unten. Bei mir meldete sich mein Asthma besonders stark, und ich hatte meine Tabletten gar nicht mit. Die Nacht wurde eine Qual. Morgens wurden wir in Gruppen in ein Büro geführt, ein sehr ruhiger und sachlich scheinender Offizier prüfte die Ausweise; man wurde dazu aufgerufen, er sah meinen Militärpaß, fragte nach meinem zweiten Vornamen. Ich kannte ihn als Hans, aber zögerte, stand da vielleicht auf polnisch Jan? Ich entschied mich dafür, es stimmte, ich wurde entlassen, ging eine schiefe Ebene hinauf, an deren Ende man von weitem Licht sah. Mir entgegen wankte ein vollkommen mit stellenweise durchbluteten weißen Verbänden bedeckter Mann, er schien im Delirium, an den Seiten standen mehrere Wachen mit ihren Gewehren auf ihn gerichtet, anscheinend um sein Entkommen zu verhindern. Ich konnte durchgehen, ein grausiger Eindruck, dieses Ende einer schrecklichen Episode. Auf der Straße sah ich bald eine Apotheke, sie war schon offen, kaufte meine Tabletten, konnte dann besser gehen. Im Hotel ging ich nach dieser Nacht im Festungskerker gleich unter die Dusche, und da war ich noch, als Zygmunt Rosshändler hereinstürzte, seine Sachen zusammenpackte und Adieu sagte. Er fahre mit Dr. Krieger weg aus Warschau, hoffe über Lemberg herauszukommen. Wie ich da stand, konnte ich nicht gut mitfahren. Das war's denn. Ich rief bei meinen Freunden Krieger an, erzählte, was mir passiert war. Da der Bruder Hennek nun weg war, hatten sie das Zimmer frei und luden mich ein, zu ihnen heraus zu kommen. Das paßte mir sehr. Sulkiewicza 8 war ein ganz neues Sechsfamilienhaus in einer kleinen Seitenstraße der Belwederska, direkt am Lazienki Park, es hätte nicht schöner, passender und ruhiger sein können. Passend auch, denn außer meinen Freunden Kriegers hatten noch zwei andere Zuzügler aus Kattowitz dort Wohnungen gemietet: Ferdinand Baender mit Frau und noch sehr junger Tochter Steffi; er besaß ein großes Haus an der Grundmannstraße in Kattowitz mit einem Konfektionsgeschäft, hatte aber in Breslau gelebt, war von dort 1938 mit der Oktoberaktion der Nazis vertrieben worden und dann nach Warschau gekommen. Die anderen Zuzügler waren Erich Steinitz mit Familie; seine Firma L. Borinski, liiert mit der Familie Weichmann, hatte den alten Kolonialwaren­ und Produktengroßhandel in Kattowitz durch ein großartiges Delikatessengeschäft ergänzt. Beide hatten schon Logierbesuch aus Kattowitz. Bei Steinitzs wohnten die alten elterlichen Freunde Dr. Max Koenigsfelds und bei Baenders Dr. Hurtigs (2). Der Hausbesitzer Rosen.....hatte auch eine der Wohnungen, eine andere Ing.Zandberg, der selber beim Militär war, seine Familie war da und mit ihnen Frau Dr. Krz. aus Gdyngen und Tochter Helena, Studentin. Sie war zum Luftschutzwart des Gebäudes ernannt worden. Das war also das Kompliment unseres Hauses, in dem wir die kommenden Wochen Belagerung, Fall und Okkupation von Warschau zusammen erleben sollten. Ich erzählte Kriegers, wie ich Ernst Berliner traf, und sie schlugen vor, daß er auch kommen sollte. Die Kriegers selber zogen dann bald in eine Pension in der Stadt und ließen uns die Wohnung (mit Dienstmädchen Bolla) hüten. Man war natürlich fast dauernd mit allen Hausbewohnern zusammen, denn zunehmend spielte sich das Leben im Luftschutzkeller ab. Das Radio spielte eine große Rolle, es wurde sehr gut geführt, dem Ernst der Stunden angemessen, viele Bekanntmachungen, Reden, Kommentare, Musik, viel klassische, auch das bekannte Warschauer Orchester unter dem alten Fitelberg. Am stärksten in Erinnerung blieb das Pausenzeichen, der Anfang von Chopins Polonaise A­dur, immer wieder, und dann die ominösen Signale: "uwaga, uwaga nadchodzi..", es schien die Möglichkeit eines baldigen Airraid Alarms anzudeuten, Sirenen und alles wieder in den Keller. Dazwischen sollte man auf der Belwederska helfen, Luftabwehrgräben auszuheben. Helena war verantwortlich, daß man da mithalf. Ich habe das erklärt, ich wollte nicht nochmals riskieren, als verdächtig von patriotisch begeisterten Mithelfern denunziert zu werden. Das verstand man auch. Wenn ich hinausging, dann um mitzuhelfen bei der Versorgung der Freunde mit Lebensmitteln. Diese wurden sehr knapp, je mehr sich die Lage in Warschau verschärfte. Man mußte alle Vorkost­, Fleischer­ und Bäckerläden der Umgebung abklappern, um einfach irgendetwas zu beschaffen. Für besondere Gelegenheiten erwies sich Erich Steinitz sehr großzügig und verteilte Konserven und anderes von den Vorräten, die er aus seinem Geschäft nach Warschau gebracht hatte. Ihm gebührte wirklicher Dank dafür. Es war sehr schnell gegangen, daß die Stadt Warschau de fakto von deutschen Truppen belagert war. Schon vom 3.September an hatten sich die Luftangriffe sehr verstärkt und schlechte Nachrichten über Zusammenbruch polnischer Verteidigung in den Westgebieten Polens häuften sich. Die Deutschen hatten ja zugeschlagen, als die Mobilisierung in Polen noch in den Anfängen war, Teile der Zivilbevölkerung in den polnischen Westgebieten begaben sich auf panische Flucht, überfüllten Verkehrsmittel und Straßen, auch Warschau füllte sich mit Flüchtlingen, aber auch mit versprengten Truppen von Heeresteilen, die im Westen aufgerieben wurden, und es kamen die ersten Transporte von Verwundeten. Die Möglichkeit Warschau zu halten wurde bald in Zweifel gestellt, die Regierung ordnete zunächst Verlegung der Ämter auf das Ostufer der Weichsel an und beschloß schon am 4.September Verlegung von Warschau nach Lublin, die am 5 und 6 eilig durchgeführt wurde; auch der Staatspräsident verließ Warschau. Aber der Gedanke, Warschau aufzugeben, drang nicht durch, der Bürgermeister Stefan Starzynski wurde zum Zivilen Kommissar für die Verteidigung ernannt, und schließlich gab auch der Oberkommandierende General Rydz­Smigly von Lublin aus den Befehl zur Verteidung Warschaus und ernannte dafür einen militärischen Kommandanten. Starzynski gab ihr seine starke Note. Sein Name war mir gut bekannt, er war ein prominenter Vertreter der wirtschaftspolitischen Ideen des Pilsudski Regimes, eben des Etatismus, und ich hatte viel über und von ihm gelesen. Nun hörte man ihn täglich mit seinen Radioansprachen an die Bevölkerung und mußte seine Energie und seinen Mut bewundern, mit der er alles versuchte, die Verteidigung, das Funktionieren der technischen Einrichtungen und Feuerwehr und die Versorgung der Bevölkerung so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Als Übergang von "mittelbarer" zu "unmittelbarer" Verteidigung Warschaus wird der 8.September angesehen, als Beschießung mit Feldartillerie begann und die ersten deutschen Panzerabteilungen in der Umgebung von Warschau getroffen wurden, am 9. begann schon Feuer von schwerer Artillerie. Obgleich die Stadt schon von den verschiedensten Seiten her unter Angriff war, gab es immer wieder Reste polnischer Heeresgruppen, die sich durchschlugen und in die Stadt kamen, ebenso wie viele Zivilflüchtlinge. Neben dem Artilleriefeuer und meist mit ihm abwechselnd, gab es fortgesetzte Luftangriffe, die Zerstörung und großen Brände waren furchtbar, viele Tote wurden schon oft nur an Straßenrändern begraben. Die Spitäler waren überfüllt, viele fielen Zerstörung oder Bränden zum Opfer, über der geschundenen, verzweifelt kämpfenden Stadt breitete sich eine riesige Rauchschicht, der Himmel wurde gelb von all dem Schwefel, den man auch stark riechen konnte und einatmen mußte, er wechselte bald von gelb in lila­gelb, rotgelb, blaugelb, die Detonationen peinigten. Die Haltung und Stimmung der Bevölkerung in allen Teilen blieb exemplarisch, es war eine Atmosphäre der Bereitschaft und Einigkeit, solidarischer Handlungen und Verständnisses. Starzynski trug mit seinen Ansprachen wohl entscheidend dazu bei, aber auch viele Organisationen von Bürger­ und Arbeiterschaft. Während von außerhalb der Regierungslager stehenden Kräften die sozialistischen Arbeitergruppen unter dem Veteranen Niedzialkowski einen prominenten Platz im Beirat des kommandierenden Generals einnahmen (3), nahm man die Mitarbeit, zu der die Jüdische Gemeinde und andere Jüdische Organisationen aufgerufen hatten, wohl als gegeben an, sie waren im Verteidigungsrat nicht vertreten. Dabei war etwa ein Drittel der Bevölkerung Warschaus jüdisch. Starzynski hatte in seinen Ermahnungen an die Bevölkerung häufig von der Wichtigkeit der Sauberhaltung von Straßen und Häusern gesprochen und dabei auch das dicht besiedelte jüdische Viertel, das Warschauer Ghetto erwähnt und an die jüdische Bevölkerung appelliert. Außer den deutsch­jüdischen Bewohnern unseres Hauses hatten sich noch eine ganze Reihe anderer in der näheren Umgebung gefunden, auch hatten wir Besuch von dem ursprünglich polnisch­jüdischen Dr. Alberg aus Kattowitz, wo er als Syndikus von Giesche arbeitete, auch spanischer Honorarkonsul war. Er war Katholik geworden. Nun schien er sehr aktiv bei der Verteidigung Warschaus. Sein Vater aber war ein sehr typischer Warschauer Jude, mit entsprechendem Akzent, er kam uns öfters besuchen. Als das jüdische Neujahrsfest kam, wurde in Erich Steinitz's Wohnung gebetet, er war sehr kompetent dafür, es waren nostalgische Stunden. Die Chronik verzeichnet etwas ruhigere Tage vorher, da deutsche Truppen von Warschau wegen der Schlacht mit polnischen Heeresteilen an der Bzura abgezogen wurden, aber am 13.September griff die deutsche Luftwaffe mit größter Vehemenz wieder an, mit 150 Großbränden verzeichnet für diesen Tag, mit besonders heftigen Verlusten im jüdischen Stadtteil. Die Bevölkerung der Stadt zeigte große Beherrschung und Starzynski dankt ihr besonders für den Einsatz beim Löschen der Brände. Die Deutschen melden am 14., die Polen dann für den 16., daß der Ring um Warschau vom Osten her auch geschlossen ist. Deutsche Versuche, in die Stadt einzudringen, werden noch erfolgreich abgewiesen, Artilleriefeuer steigert sich am 17. zu bisher unerlebter Intensität, die Chronik berichtet über um 5000 Geschosse in weniger als 20 Stunden, und dazu kamen noch die Luftangriffe wie eine Arbeitsteilung der Angreifer. Auch machte sich ein Rhythmus bei der Artillerie bemerkbar, die Batterien strichen mit ihrem Feuer in bestimmten Abständen und Intervallen über unseren Stadtteil oder Vorort, so daß man schon erwarten konnte, wann sie bei uns oder in nächster Nähe einschlagen könnten. Dann gab es auch Pausen, vermutlich für Frühstück etc. Als es zu solch enggezieltem Artilleriefeuer kam, war der Platz doch auch im Luftschutzkeller, vorher hatte man sich schon so an Artillerie gewöhnt, daß man auch bei leichterer Beschießung heraus oder auch in die Stadt ging. Am 17. September wurde auch das Elektrizitätswerk durch Feuer beschädigt. Als das wichtigste Ereignis dieses 17.September erwies sich aber die Meldung vom Einmarsch russischer Truppen in die Ostgebiete Polens. Kriegers hatten in ihrer Wohnung einen sehr guten Radioapparat und wir konnten uns gut informiert halten. Außer dem Warschauer Radio hörten wir nicht nur deutsche Stationen, sondern auch Sendungen der BBC, und so hörten wir auch sofort über dieses schicksalhafte Ereignis. So empfand ich es und habe spontan gesagt, wir haben schon viel erlebt, aber das wird sich als das schwerwiegendste erweisen, die Russen haben angefangen zu marschieren, wahrscheinlich werden sie erst am Rhein halt machen. Warum ich diesen blitzschnellen Gedanken hatte? Es stellte sich ja auch zunächst als ganz falsch heraus, dann aber auch gar nicht, es wurde aber nur die Elbe, und das ist schwerwiegend genug geworden für Europa. Man wußte damals dort in Warschau am 17.September 1939 nicht, ob das eine gezielte aber einseitige Abwehrmaßnahme der Russen im Hinblick auf die schnellen deutschen Erfolge in Polen war. Daß es ein abgekartetes Spiel war, schon im Hitler­Stalin Abkommen vom 22.August vorgesehen, das begann man erst langsam zu ahnen. Der Warschauer Bevölkerung wurde die Nachricht zunächst vorenthalten. Es war ja auch für die Menschen im belagerten und verzweifelt sich verteidigenden Warschau eine erschütternde Wendung. Als Ernst Berliner und ich in den Luftschutzkeller kamen und niemand etwas gehört hatte, haben wir zunächst auch nichts gesagt, aber am nächsten Tag ging das dann im Laufe von den üblichen Unterhaltungen über die Lage doch nicht mehr. Warum hatte das Warschauer Radio nichts gesagt? Außer unseren engeren Bekannten glaubte man uns nicht recht, nur Frau Zandberg schien anzunehmen, daß ich nicht Unsinn rede. Aber als die nächsten Nachrichtensendungen des Warschauer Radios immer noch nichts sagten, da sah sie mich auch vorwurfsvoll an, und Helena sagte, wenn wir Sie nicht schätzten und sie nicht ganz sympathisch fänden, müßte ich eigentlich jetzt dafür sorgen, daß Sie an die Wand gestellt und erschossen werden. Dann am 19.September kam doch die Nachricht, und die Betretenheit schlug breite Wellen. Nichts über Hilfe hatte man vom Westen gehört, jetzt wurde der Rest Polens von den Russen verschlungen, Warschau und sein Kampf blieben einsam und allein. Die Not wuchs ins Ungeheuerliche, Straßenränder und Plätze füllten sich weiter mit Gräbern, es brannte überall, Häuser stürzten ein, in der Versorgung mit Strom gab es Störungen. Die Chronik verzeichnet schon für den 16. September Anstrengungen des Diplomatischen Korps, auf ein Abkommen mit den Deutschen für eine Evakuierung der Ausländer hinzuarbeiten, und verzeichnet die Evakuierung am 21. September von 178 Mitgliedern des Diplomatischen Korps und 1200 anderen Ausländern (4). Im noch immer intensiver werdenden Artilleriefeuer und bei Fliegerangriffen verbrachten wir dann den Versöhnungstag, wieder auch mit Gebet bei Steinitz, oft unterbrochen, wenn man doch in den Keller mußte, und an diesem 23. September deutete die Intensität des Feuers darauf hin, daß die Deutschen den Angriff auf die Stadt vorbereiteten. Lärm, Feuer, Rauch, Schwefelgeruch, der gelb­rote Himmel ließen einem kaum Atem daran zu denken, was uns passieren wird, wenn die Deutschen einrücken sollten. Die Elektrizitätsversorgung brach am 24. September vollkommen zusammen und damit auch die Radiosendungen, die Wasserversorgung versagte weitgehend, Feuer konnte kaum noch gelöscht werden. Für den 25. verzeichnet die Chronik Luftangriffe von 7 Uhr morgens bis abends. Ich erinnere mich, das waren Stuka (Sturzkampf) Flieger, eine unbeschreibliche Tortur, und es gab zu jeder Zeit des Tages etwa 200 gleichzeitige Brände in der Stadt. Am 26. September beschloß die militärische Führung und der Verteidigungsrat mit den Deutschen über Kapitulation zu verhandeln. Am 27.September, um 14 Uhr, trat ein Waffenstillstand ein, die deutschen Truppen waren jetzt unter dem Kommando des Generals v. Blaskowitz, der die wenigen von polnischer Seite gestellten Bedingungen annahm. Dann gab es Verhandlungen, zu denen außer den Bevollmächtigten des polnischen Militärs auch der Bürgermeister Starzynski zusammen mit technischen Beamten der Stadtverwaltung kommen mußte, die für Gesundheit, Elektrizitäts­ und Wasserversorgung verantwortlich waren. Die Deutschen verlangten die Stellung von zwölf Geiseln aus allen Teilen der Bevölkerung, unter ihnen war auch Schmuel Zygielboim von der jüdischen Arbeiterorganisation "Bund", dessen Name ich vorher noch nicht gehört hatte (5). Unter deutscher Besetzung Der erste Eindruck war, daß die Deutschen sich mit einiger Vorsicht an die Aufgabe des Einmarsches und der Besetzung der Stadt herantasteten. Es war ja wohl auch keine alltägliche Operation, eine Millionenstadt, die sich militärisch verteidigt hatte, ihre technischen Einrichtungen weitgehend zerstört, zu besetzen und dafür ein Abkommen mit Militär und Stadtverwaltung zu verhandeln. Der Einmarsch deutscher Truppen war erst für die nächsten Tage angesagt, aber aus der Stadt wurde uns berichtet, daß an einigen Punkten Soldaten in polnischer Uniform erschienen, die Deutsche waren. Noch am 30.September schien es unklar, ob der Einmarsch stattgefunden hatte oder wie weit er gekommen war (6). In unserem Haus Sulkowicza 8 habe ich damals keine deutschen Truppen erlebt, wie ein Wunder blieben wir verschont, aber aus naher Nachbarschaft gab es bald schreckenerregende Berichte. Es war nun nicht so, daß deutsche Einheiten und schon gar nicht Militär kamen und blindlings Juden ermordeten, aber es zeigte sich sofort, daß Juden weitgehend vogelfrei waren, jeder Willkür ausgesetzt und eben in ständiger persönlicher Gefahr, auch Gefahr ihres Lebens. Meine erste Assoziation war, Leben unter dieser deutschen Okkupation in Warschau, das war wie "die ganze Zeit Reichskristallnacht". Soldaten waren zunächst gleich auf Missionen geschickt, Wohnungseinrichtungen zu requirieren, die von der Besatzungsmacht gebraucht wurden. Das war wohl nicht ungewöhnlich, wenn fremdes Militär einrückte. Aber hier wurden sie in jüdische Wohnungen geschickt. In der Nachbarschaft kam eine Truppe, ließ sich bestätigen, daß die Bewohner Juden sind und begannen, alle Betten wegzutragen. Die alte Großmutter war krank, sie wurden gebeten, wenigstens das eine Bett ihr zu lassen, der befehlende Leutnant wollte das auch tun, da trat einer seiner Leute hervor und fragte ihn, "sind das nun Juden, oder nicht?". Das Bett wurde auch mitgenommen. Das war so einer der Berichte, die einem vermeintlich Anhaltspunkte geben konnten, wie es bei den Deutschen damals aussah. Die Frage danach hatte ja einen wesentlich weiteren Rahmen, als wie sie es mit dem Antisemitismus hielten: Es hatte immer wieder Anzeichen und Berichte gegeben über hohe militärische Opposition gegen die nationalsozialistische Regierung, die dann im Widerspruch gegen die mehr abenteuerlichen Pläne Hitlers zum Vorschein kam. Darüber hatte man vor dem Einmarsch in Österreich und der Tschechoslowakei gehört, es gab die Rücktritte v. Fritzschs und v. Becks, und nun hatte man während der Belagerung gehört, daß der frühere Oberbefehlshaber Generaloberst v. Fritzsch aus seinem 1938 erzwungenen Ruhestand heraus mit den deutschen Truppen vor Warschau gekämpft habe. Hieß das, daß er dann von Warschau zurückkommen und die Wehrmacht dann Hitler zum Rücktritt zwingen würde, um einen Friedensschluß mit England und Frankreich zu erreichen? Das war so eine der flüchtigen Spekulationen über ein mögliches rechtzeitiges Ende der Katastrophe, in die Hitler die Welt gestürzt hatte. In unserer deutsch­jüdischen Enklave dort in Warschau hatten wir von den Meldungen oder Gerüchten über Fritzsches Anwesenheit außerhalb Warschaus Notiz genommen (7). Noch zwei weitere Episoden aus den ersten Tagen der Okkupation fallen mir ein zu unserer sehr intensiven Frage, wie es bei den Deutschen damals aussah. Der alte Dr. Koenigsfeld kam von einem ersten Erkundungsgang in die Stadt zurück. Vor dem nahen Eingang zum Schloß Lazienki hatten zwei Schilderhäuser gestanden, jetzt mit zwei deutschen Soldaten besetzt, auf der Belwederskastraße fuhren gerade Lastautos vorbei, voll besetzt mit schwarzuniformierten SS Leuten, die ersten, die er in Warschau sah, und so ging es anscheinend auch den beiden Soldaten; er hörte, wie der eine zum anderen rief "na, die haben uns hier grade noch gefehlt". Der alte Dr. Königsfeld freute sich diebisch, das zu hören. Also so etwas gab es doch noch. Dann war da noch Gustav T. aus Karlsruhe, der in eine der alten deutsch­jüdischen Familien nach Kattowitz geheiratet hatte und auch in Warschau gestrandet war. An einer Straßenecke hatte ein Auto mit deutschen Offizieren gehalten und die dort wartenden Passanten gefragt, ob jemand deutsch spricht. Neben ihm Stehende hatten auf ihn gewiesen, und er sollte ins Auto zusteigen, wurde gleich gefragt, wie er mit seinem Badenser Akzent hier nach Warschau verschlagen wurde. So wie er uns das erzählt hat, betonte er, ich muß Ihnen gleich sagen, ich bin Jude, vielleicht hatten sie es ohnehin gesehen, jedenfalls sagte der Höchstrangige sofort, aber das macht uns gar nichts, das wird jetzt sowieso alles anders, da können Sie versichert sein. Das gab es also auch. Aber ausgemacht für den weiteren Verlauf der Dinge hat es eben nichts. Außer unserem besonderen Problem, wie sich die Okkupation für die Juden gestalten wird, gab es ja aber noch die allgemeine Not der Stadt, wie sie langsam nach der Belagerung wieder zum Leben finden könnte. Die ersten Tage, mit Wasser und Strom noch unterbrochen, waren schwierig, daß es nicht mehr schoß, brannte, der Himmel langsam nicht mehr gelb und schweflig war, half, aber man mußte weit laufen, um sich nach Wasser anzustellen. Es war nach dem heißen September früh herbstlich kühl geworden, die modernsten Häuser, wo es nicht mal mehr Herde für ein Küchenfeuer gab, sondern alles auf Strom eingestellt war, hatten es am Schlimmsten, in Höfen, Gartenplätzen und Straßen stellten die Bewohner kleine Roste auf, um sich eine Suppe zu kochen; den Anblick werde ich nicht vergessen. Der öffentliche Verkehr spielte sich ausschließlich mit Leiterwagen ab, große und kleinere, man konnte Plätze bekommen, aber eigentlich lief man nur, weite Wege in die Stadt und dort und wieder zurück, viele waren auf den Beinen, es kamen nach der Belagerung neue Schübe von Flüchtlingen aus der Provinz in großen Mengen, es kamen aber auch langsam mehr Lebensmittel. Das schien leichter zu bekommen als manches andere. Statt der Geschäfte gab es zunächst an den Straßen nur Händler, die von Bänken oder in Ständen verkauften, was grade noch zu bekommen gewesen war aus den Trümmern und nach Plünderungen in den allerletzten Tagen der Belagerung. Die Zerstörung in der Stadt war groß und bedrückend, nach meinem Eindruck war es etwa ein Drittel aller Gebäude, die durch Bomben­ oder Brandschäden zerstört waren, und da waren die vielen Gräber auf den Straßen. Ich ging auch bald in die Stadt, ich hatte ja nur Sommerkleidung mitgenommen, es dauerte eine Weile, bis ich etwas finden konnte, Geschäfte richteten sich langsam wieder ein, sogar einen Wintermantel konnte ich auftreiben. Ein wichtiger Besuch war zu dem Rechtsanwaltsfreund aus Kattowitz Marek Reichmann, der schon eine ganze Reihe Verbindungen aufgenommen hatte, die mit dem brennendsten Thema, wie man aus Warschau wegkommen könnte, zu tun hatten. Auf dem Weg nicht so weit von unserer Wohnung hatte ich die Schwedische Botschaft entdeckt, und daß da jemand drin war (8). Am nächsten Tag warf ich einen Brief ein, adressiert an Ragnar Nilson, Chef der immer noch zum Restbesitz meiner nach London ausgewanderten Dahlemer Verwandten gehörenden AB Ferrolegeringar Stockholm, den ich in Dahlem öfters getroffen hatte. Ich bat ihn, nach London mit meiner Adresse mitzuteilen, daß ich in Warschau die Belagerung überlebt habe. Ich hoffte, so auch vielleicht etwas über meine Eltern und Schwestern zu hören. Es gab unterdessen auch Verbindungen mit Kattowitz, und ich habe da schon gehört, daß meine Eltern gar nicht dort geblieben waren. Als ich mich am Bahnhof am 31.August nachts von meinem Schwager verabschiedete, fuhr er nicht sofort zu Lotte nach Lemberg, sondern übernachtete noch bei sich zu Hause. Als die deutschen Bomber am frühen Morgen gekommen waren, fuhr er erst zu meinen Eltern, und da entschlossen sie sich, doch mit ihm die Autofahrt nach Lemberg zu riskieren. Von Lemberg, nun unter russischer Besetzung, hatten wir zunächst in Warschau noch keine Nachrichten. Mittlerweile war verschiedentliche Bewegung in die Frage des Wegkommens von Warschau gekommen. Erstens gab es schon Traffik über die "grüne Grenze" von und nach dem russisch besetzten Teil Polens, eben auch Lemberg, wo ich Lotte und ihre Familie und vielleicht auch meine Eltern glaubte (9). In Kattowitz waren eines Tages alle jüngeren jüdischen Männer verhaftet und nach Osten abtransportiert worden (10), nämlich an die Grenze der russischen Besetzungszone, dort wurden sie herausgelassen und befohlen über die Grenze zu rennen. Es wurde auch nach ihnen geschossen dabei, einige, so auch mein Freund Ludel Berliner kamen in Lemberg an, andere zögerten, verbargen sich und tauchten dann bei uns in Warschau auf, konnten alles erzählen. Für ein Wegkommen setzte ich aber Hoffnungen auf doch noch einen Weg nach dem Westen, denn es gab auch die Italienische Botschaft, die offen war und Transitvisa erteilte. Von anderen Konsulaten, zum Teil wohl auch Honorarkonsulen, tauchten unterdeß Pässe auf, die man kaufen konnte, und einige Bekannte hatten schon beinahe alles zusammen um abzureisen. Es war eine Verordnung ergangen, die auch Ausreisegenehmigungen für Juden vorsah, ähnlich wie ja auch in Deutschland auch nach der Kristallnacht und noch nach Kriegsausbruch Ausreise von Juden zunächst möglich war. Meine Freunde Krieger, die wieder in ihre Wohnung gezogen waren, hatten sich auch bald irgendwelche Visa beschafft, auf die hin man dann ein italienisches Transitvisum und durch das polnische Reisebüro "Orbis" auch eine Ausreisegenehmigung der deutschen Besatzungsbehörde erhielt. Sie reisten ab, wohl schon gegen Ende Oktober, und Ernst Berliner und ich zogen in die untere Wohnung in unserem Hause, von wo die Familie Steinitz auch schon ins Ausland abgereist war. Eines Abends wurde ich in Sulkowicka 8 mit sehr ernster Miene empfangen. Am Nachmittag war meine Tante Jenny Grünfeld da, nach einem Fußmarsch über die russisch­deutsche Zonengrenze von Lemberg her in Warschau angekommen. Sie wollte mir berichten, daß meine Eltern mit ihr und meinem Schwager am Morgen des 1.September auch nach Lemberg geflohen und dort angekommen waren, am 17.September Lotte und Familie weiter gefahren sind, in der Hoffnung nach Rumänien zu entkommen. Meine Eltern blieben mit ihr in Lemberg, mein Vater kam in ein Krankenhaus mit einer Lungenentzündung und starb dort am 20.September. Tante Jenny war mit meiner Mutter allein zurückgeblieben, aber wollte zurück nach Beuthen gehen, meine Mutter wollte in Lemberg bleiben, ließ mir aber sagen, ich sollte auf keinen Fall dorthin kommen, sondern versuchen, nach dem Westen auszureisen. Da Tante Jenny auf mich gar nicht mehr warten wollte, wurde mir das alles von dem Ehepaar Dr. Königsfeld schonend beigebracht. Ich war wie erschlagen, das war ein trauriges Ende für meinen Vater, Ende eines einst so stolzen Lebens. Und die Situation meiner Mutter dort in Lemberg, es war kaum auszudenken, mein Vater starb an dem Tag, als Lemberg schon von deutschen Truppen angegriffen, sich ihnen ergeben hatte, sie zogen aber nicht ein, sondern übergaben die Stadt den Russen. Am Tag ihres Einzugs wurde mein Vater begraben. Das spiegelt so die ganze Verwicklung dieser ersten Kriegswochen wider. Heute, wo man über das Schicksal der unter deutscher Hoheit verbliebenen Juden, Auschwitz und Theresienstadt weiß, muß man es eigentlich noch als ein gnädiges Schicksal empfinden, aber das war damals nicht so, es war eine bittere Nachricht, inmitten all des Unglücks um mich herum in Warschau (11). Ende Oktober mußten sich alle jüdischen Einwohner Warschaus registrieren(12), der Aufruf ging an alle Juden, also nicht wie deutsche Rassegesetze. Es ließen sich noch manche schnell taufen, um zu vermeiden, sich durch Nichtregistrierung strafbar zu machen. Ich tat das nicht, wir registrierten uns. Der Aufruf schuf große Verängstigung, war das nun die Einleitung zu strengeren Maßnahmen gegen die Juden? Es hatte ja immerfort Grausamkeiten und Schikanen gegeben. Auf der Straße konnte man von unterschiedlich Uniformierten angehalten und, wenn man Jude war, um Pelz, Mantel oder Geld gebracht werden. Juden wurden zur Zwangsarbeit in den Ruinen requiriert, man sah dort in zunehmender Kälte die bejammernswerten Gestalten von bärtigen Kaftanjuden, auf zusammenstürzenden Ruinenmauern oder ­gerüsten bei der ungewohnten und ungelernten Zwangsarbeit. Was für ein Elend. Mit der polnischen Bevölkerung teilte man die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen des deutschen Militärs: wenn einem Deutschen etwas zustieß, wurden 100 Leute als Geiseln zusammen gelesen und erschossen; es konnte jeden treffen, der grade vorüberging. Für die polnische Bevölkerung wurden die katholischen Feiertage Allerheiligen/Allerseelen am 1.und 2.November eine eindrucksvolle Kundgebung stillen Widerstands. Ich kannte diese katholischen Totengedenktage von Oberschlesien, wo man auf den Friedhöfen Kerzen auf meist blumen­ oder tannengeschmückten Gräbern sah. Nun hier in Warschau brannten sie auch auf den vielen Gräbern, die auf Straßen und Plätzen während der Belagerung entstanden waren, es war bewegend zu sehen. Es konnten ja kaum nur Angehörige von Umgekommenen sein, die das ganze Lichtermeer bereitet hatten, man schloß, daß dies organisiert war, als Demonstration eines Untergrundwiderstands. Weiteres wurde dann von den Deutschen für den 11. November befürchtet, Waffenstillstandstag des 1. Weltkrieges und Jahrestag der Gründung der Polnischen Republik 1918. Es entstand erhebliche Nervosität und Spannung, man erwartete eine Verhaftungswelle, und wie viele andere zog ich es vor, diesen Tag nicht in der Wohnung, wo ich registriert war, zu verbringen. Ich fand Unterkunft bei Dzidzia Kapellner, einer Verwandten der Krieger Familie. Für die Juden war unterdeß weitere Panik und Verzweiflung ausgebrochen, da bekannt gemacht wurde, daß in Kürze für alle die sofortige Umsiedlung in die Gegend des alten Warschauer Ghettos angeordnet wird. Das konnte dann nur der Anfang zu wesentlich Schlimmerem sein. Man wußte schon, daß es bisher in Warschau noch eher besser zugegangen war als zum Beispiel in Lodz und vielen kleineren Orten. Aus Lodz waren viele Flüchtlinge weiter nach Warschau gekommen. In unserer Enklave hatten wir Besuch von Bruno Altmann, dem Präsidenten der Jüdischen Gemeinde Kattowitz, der zunächst nach Lodz entkommen war und nun in Warschau ankam. Der Schreck und Kelch mit dem Umzug ins Ghetto ging zunächst vorüber, der Plan wurde verschoben (13). Wie man weiß, wurde die Umsiedlung ins Ghetto dann aber doch im Herbst 1940 begonnen. Zu dieser Zeit war ich schon aus Warschau entkommen. Bemühungen um eine Ausreisemöglichkeit hatten bei mir ganz absolute Priorität, nur so konnte ich es doch noch schaffen. Kein Risiko konnte mich abhalten, dafür immer wieder in die Stadt zu wandern. Es wurde auch höchste Zeit. Man konnte mit seinem polnischen Paß abreisen, die deutsche Ausreisegenehmigung beschaffte das alte polnische Reisebüro Orbis als separate Bescheinigung, man brauchte gar keine deutschen Amtsstellen zu sehen. Die Schwierigkeit war ein Visum zu bekommen, auf das die Italiener dann ein Transitvisum erteilen konnten. Gut hatten es Bekannte wie Ernst Berliner mit seinem amerikanischen Stipendium und Visum, ausnahmsweise hatten die Italiener einmal ein echtes Visum zur Weiterreise von Italien vor sich. Die beiden Töchter der Dr. Koenigsfelds waren schon vor dem Krieg nach Brasilien ausgewandert, die Eltern erwarteten also auch echte Auswanderungsvisen. Für Andere mußte versucht werden, Visas zu kaufen. Es mußten immer wieder neue Kombinationen gefunden werden, die für ein italienisches Transitvisum gut waren. So bereitwillig anscheinend die Italienische Botschaft war, es mußte ja dann auch in Italien klappen. Das erste Pech dabei hatten schon die Zygmunt Kriegers gehabt. Die italienischen Grenzbehörden hatten schon etwas Nachteiliges über die spezifische Kombination bemerkt, die Kriegers wurden trotz Transitvisum nicht hereingelassen und kamen in ein deutsches Transitlager. In dieser Notlage konnten ihre Geschäftsfreunde aber sehr schnell damals ein Visum nach der Schweiz für sie bekommen, von wo aus sie dann Auswanderung nach Brasilien arrangieren konnten. Das waren eben die Risiken mit diesen "Kombinationen", denen ich auch ins Auge sehen mußte. Was immer man hatte, konnte sich als schon "abgenutzt" herausstellen, wenn man an der italienischen Grenze ankam, und dann war man in großer Gefahr. Der Weg hinaus führte von Warschau mit schon verkehrendem Schnellzug nach Wien und dann nach Triest über die Grenze bei Tarvisio. Es gab schon auch eine "Grüne Grenze" nicht nur nach Rußland, sondern auch nach Süden, Slowakei und Ungarn. Das war die Route besonders für Polen, die sich der in Frankreich entstehenden polnischen Armee anschließen wollten, aber man konnte auch für private Fluchtmöglichkeiten sorgen. Gesundheitlich kam das für mich aber gar nicht in Frage, nach schweren Asthmaanfällen in den letzten Tagen der Belagerung war ich noch immer in schlechtem Zustand, wir waren ja alle ziemlich verhungert gewesen, ich konnte an eine Flucht zu Fuß über die Karpathen nicht denken. Ragnar Nilson hatte mich unterdeß mit dem seit einiger Zeit in Zürich eröffneten Büro der Ferrolegeringar in Verbindung gebracht, wo mir Dr. Hans Krakenberger und Hans Grelling von Berlin her noch gut bekannt waren. Sie gaben mir die Warschauer Adresse von Frau Janina Nejfeld, falls man sich wegen Ausreisemöglichkeiten gegenseitig helfen könnte. Sie war Witwe des früheren Vertreters des Konzerns in Polen und hatte selbst die Vertretung noch weitergeführt. Sie war jetzt aus Lodz nach Warschau gekommen und hatte mit Zürich Kontakt aufgenommen. Wir hatten beide das Gefühl, daß man bei Ankunft in Italien auf erste Hilfe von diesem Büro in Zürich hoffen konnte. Visas waren schon schwer zu beschaffen. Die nächste "Kombination", die Marek Reichmann fand, dann auch selbst benutzte und mir anbot, war einfach eine Bescheinigung in den Paß geklebt, daß für den Inhaber bei Ankunft in Triest ein Zertifikat zur Einreise nach Palästina bereit liegt. Die Italienische Botschaft war bereit, auch darauf ein Transitvisum zu geben. Es kostete ebenso viel wie ein "besseres" "richtiges" Visum; das ganze wurde für eine Gruppe arrangiert, wobei die Hälfte, ich eingeschlossen, zahlt, und die andere Hälfte nicht, nämlich alles verdiente zionistische Funktionäre mit Familien, und zwar, etwas zu meinem Leidwesen, Revisionisten. So jedenfalls wurde mir das erklärt. Ich lernte zwei der Revisionisten auch kennen (14). Alles ging auch durch "Orbis", wo ich außer in Marek Reichmanns Wohnung ein beinahe täglicher Besucher wurde. Vom 1.Dezember an (15) wurde für Juden das Tragen eines weiß­blauen Davidsternabzeichens verordnet. Es war also kein "Gelber Fleck" wie in den Deutschland einverleibten westlichen Gebieten. Was es auch war, das Leben wurde gefährlicher, nicht zuletzt das Risiko von der Straße weg zu Zwangsarbeit requiriert zu werden. Man überlegte sich jeden Morgen, was das größere Risiko war, mit oder ohne den Davidstern auszugehen. Wochentags in die Stadt ging ich meist ohne das Abzeichen, für sonntägliche Besuche von Freunden in den Vororten dachte ich, man kann sich den Luxus des Davidsterns erlauben, denn es wurde ja kaum gearbeitet. Das Risiko ihn nicht tragend ertappt zu werden war wochentags geringer als das Tragen des Sterns, wenn man ertappt wurde, konnte es aber total sein. Daran hatte man sich eben gewöhnen müssen, nach dem Risiko von Artilleriefeuer und Bomben während der Belagerung war jetzt das Risiko der Konfrontation mit SS und Gestapo oder ihren geringeren Helfern getreten. Ich mußte Gott danken, mit welchem Glück ich in der Okkupationszeit meine Anonymität behalten konnte und davonkam. Die einzige Begegnung mit einem SS­Mann in Warschau verlief auch harmlos. In der Wohnung von Marek Reichmann, der selbst schon abgereist war, erschien ein junger, anscheinend oberschlesischer SS­Mann, gestikulierte wild und machte Ansätze zu schreien, wollte prüfen, wer da ist. Er war offenkundig ein Anfänger, noch nicht lange bei der SS, das Schreien kam ihm nicht natürlich. Eine andere Besucherin Frau B., gefragt ob sie jüdisch ist, sagte nein, aber setzte dann hinzu, sie sei getauft, seit dem 24.Oktober (also eben vor dem Registrierungsstichtag 29. Oktober). Ich sah sie fassungslos an, dann mußte ich lächeln, auf dem Gesicht des SS Manns war auch ein breites Grinsen. Er zog sich bald zurück, er hatte wohl gemerkt, daß er sich hatte ertappen lassen, daß er doch ein Mensch war. Noch war die Gefahr für mich nicht vorüber, meine Abreise verzögerte sich. Für Benutzung eines Schnellzuges brauchte man eine Genehmigung, und Juden waren Schnellzüge neuerdings verboten. Orbis hatte noch keine Lösung für mich. Eine kleine Verbesserung in den Verhältnissen war noch gewesen, daß der Postverkehr von und zwischen dem besetzten Warschau und Orten in Deutschland aber auch dem neutralen Ausland schon gut funktionierte. So hatte ich Kontakt nicht nur mit Zürich, sondern auch der noch in Berlin lebenden Familie, Großmutter und Onkel Walter Oettinger, von der Grünfeld Familie die Epsteins und Hans Hirschel. Kontakt hatten wir von unserer Enklave auch weiter mit Erika Schlesinger in Beuthen, wo Tante Jenny unterdeß zurückgekehrt war, und durch das Hausmädchen von Königsfelds mit den vielen traurigen Vorgängen in Kattowitz. Ich war sehr gerührt, als durch sie der Kürschnermeister Klimanek, zur katholischen deutschen Gruppe gehörend, bei dem wir jeden Sommer unsere Pelze aufbewahrten, mir den Pelz meines Vaters nach Warschau schickte. Ich bekam auch einige Kondolationen zum Tode meines Vaters, so eine besonders bewegende von dem deutschen Baumeister Kutchera, Nachfolger meines Vaters in verschiedenen Berufsverbänden. Die Verwandten in Berlin rieten, ich soll doch versuchen, zu ihnen zu kommen. In diesen ersten Kriegsmonaten hatte man wohl noch keine richtige Vorstellung dort, was das Schicksal der in Deutschland zurückgebliebenen Juden sein würde. Als ich meine Papiere mit D­Zugbillet nach Triest bei Orbis endlich abholen konnte, um mit dem nächsten D­Zug am 10. Januar 1940 abzufahren, wurde ich gefragt, ob ich bereit bin, mit einer alten polnischen Dame und ihrem Enkelsohn zusammen zu fahren, da sie gar kein Deutsch sprechen. Es war eine Frau Aleksandrowicz, Mutter des amtierenden polnischen Konsuls in Triest, und dessen kleiner Sohn. Ich war verwundert, vielleicht war es ganz natürlich, daß man bei Orbis auf diese Idee kam, aber in Wirklichkeit, dachte ich, war meine Passage unter einem größeren Risiko als die der alten Dame. Ich sagte aber doch zu. In der Sulkiewicza 8 gab es einen bewegten Abschied. Bei den freundschaftlichen Gefühlen, die sich entwickelt hatten, wurde es so schwer, sie alle dort ihrem so ungewissen, aber doch so bedrohend schwer aussehende Schicksal zurückzulassen. Ich hatte schon lange versucht, besonders den Familien Baender und Hurtig zur Ausreise zuzureden, sie hätten die Mittel in Warschau gehabt aber hatten Sorge für das Leben im Ausland. Ich meinte, es ist noch niemand verhungert, und was einen in Warschau erwartete, sah grimm aus. Ich nahm Abschied. Es war ein sehr kalter Winter geworden, 1939/40, so war es ja in ganz Europa. Der Zug sollte gegen 10 Uhr abends gehen, ich traf jemanden von Orbis auf dem Perron, der mich mit Frau Aleksandrowicz bekannt machte. Wegen des Wetters verspätete sich die Abfahrt des Zuges um einige Stunden, wir mußten bei minus 26 Grad auf dem überfüllten Bahnsteig warten. So fing die Fahrt schon mit einer schweren Probe an, dann ging es ganz glatt, vor Kattowitz verschwand mein Gesicht unter meinem Mantel und blieb. Man mußte annehmen, daß wir den Anschluß an den Zug, der unsere Wagen durchgehend nach Wien plombiert und ohne Grenzkontrolle durch das "Protektorat" (die besetzte Tschechoslowakei) bringen sollte, schon längst versäumt hatten, die Verspätung war des kalten Wetters wegen nur noch größer geworden. Mir ahnte nichts Gutes, selbst nachdem ich Kattowitz ohne Zwischenfall passiert hatte. So war es auch; wir hatten keinen durchgehenden Zug nach Wien, mußten einen Zug im "Protektorat" nehmen und eine unvorhergesehene Grenzkontrolle zwischen dem "Protektorat" und Österreich in Breclav (Lundenburg) passieren. Sie wurde für mich sehr unangenehm. Männer und Frauen wurden getrennt, Frau Aleskandrowicz konnte mit ihrem Enkelsohn gehen, mich grillten drei SS­Leute. Ich dachte zeitweise nicht, daß ich davon komme, einer schien ein fanatischer und grober Judenhasser, die beiden anderen mehr zivilisiert, zum Schluß fanden sie wohl, sie sollten meine Ausreisegenehmigung aus Warschau honorieren. Die Aleksandrowiczs warteten schon besorgt auf mich, wir fuhren nach Wien weiter, mußten den Bahnhof wechseln. Das waren wohl auch die Dinge, wegen der man mich gebeten hatte, sie unter meine Obhut zu nehmen. Wir aßen Abendbrot am Südbahnhof und fuhren dann nach Triest weiter. An der deutschen Grenzkontrolle nach Italien erschienen nochmals SS Leute, stolzten provokativ umher, schrien, aber es war wohl mehr ein Einschüchterungsmanöver, wir kamen ohne Schwierigkeiten durch, dann auch an der italienischen Kontrolle, meine "Kombination" schien also noch zu halten. Als der Zug weiter fuhr in Richtung Udine überkam mich ein großes, unvergeßliches Gefühl der Erleichterung. Es war kaum vorstellbar, nun schien ich gerettet vor Nazis und Gestapo, was für eine Wendung. Sicher, die Zukunft war ungewiß, noch mit vielen undurchsichtigen Wolken verhüllt, aber das war eine Erlösung, wie man sie selten empfinden konnte. Frau Aleksandrowicz bemerkte das gleich, wie ich fühlte und nahm Anteil. Die Fahrt hinein nach Triest hoch über den unwirtlichen, windgefegten Karst nahm sich auch wie eine schicksalsvolle Reise aus, beim Abschied bat sie, ich möchte doch ihren Sohn bald im polnischen Konsulat besuchen. Kapitel 9 Kriegsflüchtling In Transit in Italien Es war mein erster Besuch in Italien. In Triest war es auch kalt und unfreundlich, mich reizte der bunte, geschichtliche Hintergrund, man spürte die Nachbarschaft Jugoslawiens und manches von der österreichischen Vergangenheit. Es gab viele Flüchtlinge und andere Reisende. Von meinen Kattowitz­Warschauer Freunden war die Familie Steinitz noch dort, auf Emigration wartend. Er war ein großer Lehrmeister, wie man als Flüchtling so sparsam wie möglich leben mußte. Ich nahm gleich Kontakt mit Zürich auf, die Nachricht, daß ich aus Warschau entkommen war, wurde schnell in der Familie verbreitet, Lotte und Familie waren in Bukarest, standen in Kontakt mit meiner Mutter in Lemberg. Jetzt konnte ich wenigstens in Korrespondenz mit ihnen sein. Von Marianne hörte ich aus England und auch von der Dahlemer Familie, Tante Grete, Herbert mit Frau Ery und der jüngere Bruder Ernst. Er hatte arrangiert, daß Lotte und Familie in Bukarest bei den Eltern des gemeinsamen Freundes Ralph Kleeman wohnen konnten. Beim polnischen Konsul Aleksandrowicz wurde ich freundlich, aber etwas zurückhaltend empfangen. Ich vermutete, daß er über mich rätselte, als ich meine Personalien und Lage erklärte. Mit meinen Papieren sollte ich so schnell wie möglich Italien verlassen, und Frankreich schien am nächsten. Ich erkundete mich beim Konsul, ob er mir dabei helfen könnte, ich würde mich dann für die polnische Armee stellen. Er winkte gleich ab, ich war ja Kategorie "C" wegen Kurzsichtigkeit, die polnische Armee in Frankreich war noch sehr klein und konnte nur gut trainierte Leute mit vorherigem Armeedienst brauchen. Der nächste Besuch war beim Büro der Jewish Agency. Laut meinen Papieren lag dort für mich ein Zertifikat für Einwanderung nach Palästina, was ich ja natürlich gar nicht geltend machen wollte, aber ich sah den Leiter des Büros Dr. Goldin, um mich über Möglichkeiten zu erkunden, wie man nach Palästina kommen kann. Ich fand auch, daß ich die Bescheinigung in meinem Paß über ein Zertifikat erwähnen mußte. Es war mir nicht klar, ob er über diese "Kombination" aus Warschau zu fliehen, zum ersten Mal hörte, jedenfalls zeigte er sich empört und sagte mir, ich hätte in Warschau bleiben sollen. So provoziert, teilte ich noch mit, daß auch andere, darunter sehr aktive Zionisten, und zwar Revisionisten mit solchen Papieren ankommen, da sagte er, die sollen dort bleiben. Ich traute meinen Ohren nicht, weiß er, was er da sagt, fragte ich. Ich begann zu verstehen, daß es in Zionistischen Ämtern nur strikt politische Kategorien gab, die hatten mit charitativem Denken oder Gefühlen nichts zu tun. Seit der Nachricht vom Tod meines Vaters hatte ich an keinem Gottesdienst mehr teilgenommen, in Triest nun ging ich Freitag abends in die Synagoge, um das Kaddisch Gebet zu sagen, und das habe ich dann versucht, bis zum Ende des Trauerjahrs aufrecht zu erhalten, wo immer ich nahe einer Synagoge war. Es hieß Bekanntschaft mit ganz verschiedenen Gemeinden und Gottesdienstformen, eine traurige, aber auch anregende und wichtige Erfahrung gerade in dieser Zeit der Verfolgung. Ich blieb nicht lange in Triest, fand, daß Marek Reichmann und Familie sich in San Remo aufhielten, und beschloß, dort herauszufinden, wie man nach Frankreich gelangen kann. Anscheinend gab es dafür Wege über die Grüne oder auch die Blaue Grenze, nämlich mit einer Motorbootfahrt, aber sehr riskant. Ich machte Halt in Mailand, wo Ernst Berliner war, auch Danek Zins aus Kattowitz, Pianist und Begleiter des Tenors Jan Kiepuras, und Frau B. mit Tochter, und traf einen polnischen Diplomaten, früher Handelsdelegierter in Hongkong, der erklärte, warum Leute wie er jetzt in der Emigration soviel Kontakt mit jüdischen Landsleuten suchten. Die Juden, fand er, haben einen so ausgeprägten Sinn für Kommunikation, und das ist, was wir jetzt als Emigranten alle brauchen. Es war auffällig, wie eng sich der Kontakt in der Emigration, wo immer man hinkam, gestaltete. In Mailand lernte ich auch einen älteren Mitemigranten, Anwalt aus Lemberg, auch Danzig, Dr. Parnes kennen, den ich später in Rom wiedertraf. Er wurde dann für mein rechtzeitiges Wegkommen von Italien entscheidend. Der kalte Winter 1939/40 hielt noch immer an, Mailand war tief im Schnee. Erst auf der Fahrt nach Genua südlich der Bergkette änderte es sich etwas, und da war auch das Erlebnis der Mittelmeer­Vegetation mit Pinien anstatt der gewohnten Bäume. In San Remo fand ich eine billige Pension. Die Unbilden von Belagerung, Okkupation, Reise und andauernder Ungewißheit machten sich bemerkbar, ich wurde sehr krank, an die Motorbootfahrt nach Frankreich war ohnehin nicht zu denken. Mein Vetter Herbert in London wollte mir Einwanderung nach Bolivien ermöglichen. Nach dem Tod meines Onkels Paul Grünfeld und der Auswanderung der Familie mit einigen Mitarbeitern nach London wurde dort eine neue Firma gegründet, die schwedischen Werke und Chromerzgruben in Türkei und Cypern gehörten weiter dazu. Lotte und Familie konnten am 21.März von Bukarest nach Cypern abreisen, wo ihr Mann durch Herbert eine Stellung als Chemiker erhielt. Bei einer neuentstandenen Verbindung in Bolivien für Einkauf von Erzen wollte Herbert mich unterbringen. Ich wartete sehr, daß das zustandekommt. Ernst Berliner fuhr von Genua nach den USA ab, und dann auch Dr. Koenigsfelds, direkt aus Warschau nach Genua kommend, auf dem Weg nach Brasilien. Die Abschiede waren immer bewegend, man hoffte, auch einmal so weit zu sein, aber der Bolivienplan für mich schien nicht gut zu gehen. Statt dessen bekam ich von der Fremdenpolizei in San Remo Ende März einen Ausweisungsbefehl, die Zeit für ein Transitvisum sei abgelaufen. Ich sollte mich sofort bei der italienischen Grenzpolizei in Tarvisio melden, um über die Grenze, über die ich hereingekomen war, wieder zurückgestellt zu werden. Anstatt der vorläufigen, nun nicht verlängerten Aufenthaltsgenehmigung der Fremdenpolizei, wurde das von nun an mein einziger gültiger polizeilicher Ausweis, den ich in Italien vorzeigen konnte. Kaum von schwerer Erkrankung etwas erholt, befand ich mich also erneut in Alarmzustand. Inzwischen war Marek Reichmann nach Rom gefahren, um dort an seiner weiteren Auswanderung zu arbeiten, ich mußte jedenfalls aus San Remo verschwinden und beschloß, nach Rom zu gehen. Die Geschwister Grelling hatten einen Teil ihrer Jugend in Florenz verbracht, ihr Vater hatte Deutschland im 1.Weltkrieg als Gegner des Kriegs verlassen, seinerzeit eine "cause celebre". Die Tochter Annemarie kannte ich von Dahlem her, sie hatte unterdeß den jungen Verleger Gentile geheiratet, Sohn des bekannten italienischen Philosophen, Senators und zeitweiligen Kultusministers Mussolinis, Dr. Giovanni Gentile. Ich hatte Annemarie's Adresse in Florenz (Fiesole) von Hans Grelling aus Zürich erhalten, hatte ihr schon geschrieben und gehört, daß ich jederzeit zu einem Besuch willkommen sei. So meldete ich mich an, um auf der Reise nach Rom kurz in Florenz halt zu machen. Dieser Tag in Florenz war ein Lichtblick in meinem oft so bedrückenden und angespannten Flüchtlingsaufenthalt in Italien. Früh schaute ich mich um in den großen Kunstschätzen in Florenz und genoß das Stadtbild, machte einen Besuch im Verlag Olschki, worum mich Warschauer Leidensgenossen gebeten hatten. Die freundschaftliche Aufnahme zum Mittagessen in der alten Villa in Fiesole bei Annemarie und ihrem Verlegergatten war so wohltuend, man saß im Freien in der Frühlingssonne, es wurde viel Interessantes erzählt. Der kleine Sohn Giovanni spielte herum und machte die Verzauberung vollkommen durch sein Lächeln, wenn auch soviel Trauriges zu erzählen war. Ich sollte mich gleich am nächsten Tag bei Dr. Gentile (1) in Rom melden, fuhr über Nacht hin. Er war nun Präsident der Italienischen Akademie der Wissenschaften, ein imposantes Gebäude und Büro. Auch hier war der Empfang wieder überaus freundlich. Er erkundigte sich nach "Tante Grete", wie er sie wohl in der Sprache seiner Schwiegertochter Annemarie nannte. Er verfaßte eine Eingabe an ein Ministerium und beruhigte mich. Wenn ich in Schwierigkeiten mit der Polizei komme, sollte ich ihn sofort anrufen. Es kam nicht dazu, aber ich konnte auch nicht sicher sein, wie es ausgegangen wäre, ob noch Zeit geblieben wäre für einen Anruf. Das Damoklesschwert war noch nicht wirklich fort in meinen Gedanken, und die Wochen in Rom blieben davon beschwert. Es war nicht so einfach, sich ein Bild von der politischen Stimmung in Italien zu machen. Der 9.April, an dem ich in Rom ankam, brachte auch die Nachricht vom Angriff Hitlers auf Dänemark und Norwegen, also das Ende des angespannten Zwischenstadiums, in dem der Krieg seit dem Zusammenbruch Polens geblieben war. Das trug natürlich dazu bei, das Gefühl eigener Bedrohtheit zu steigern. Man kam nicht heraus aus dem Staunen über die Pracht von Rom, und doch hatte man dafür zunächst nur einige flüchtige Blicke, man war unter lauter Flüchtlingen, die Suche nach Reisezielen und Visen verdrängte alles. Man traf nicht nur jüdische oder polnische Flüchtlinge. So teilte ich in Rom einen Tisch in der Pension mit einem jungen lettischen Historiker und Journalisten, es war interessant und neu. In Triest war es ein alter griechischer Politiker gewesen, der zu Steinitz und mir sagte, wir hätten doch in Polen bleiben und gegen Hitler kämpfen sollen, wie das eben die Griechen seit Jahrhunderten für ihre nationale Sache tun mußten. Ein Merkmal des Flüchtlingsdaseins wurde eine immer größer werdende Korrespondenz. So lange man noch im neutralen Ausland war, wie damals noch Italien, gab es Kontakt mit zu Hause, der nahen Schweiz, ebenso wie England, Frankreich und USA. Man hatte viele Bitten, Nachrichten zu übermitteln, auch an die in Warschau, Oberschlesien oder Berlin/Breslau Zurückgebliebenen. Mein Vetter Herbert konnte den Bolivienplan für mich nicht weiterverfolgen, aber durch meine Bekanntschaft mit Dr. Parnes fand ich unerwartet die Möglichkeit, ein Visum nach der Türkei zu bekommen. Sie wurde zusehends ein Zufluchtshafen für die polnischen Flüchtlinge, meistens nur auf Transitbasis. Ich bekam ein Einreisevisum. Herbert bot sofort an, daß die Firma der türkischen Chromgruben, Türk Maden, sich um mich kümmern würde, aber Arbeitsgenehmigung für eine Anstellung bei ihnen könnten sie nicht bekommen. Lotte und Familie waren bei kurzer Durchreise nach Cypern schon in Istanbul betreut worden, hatten mir davon geschrieben. In Dahlem hatte ich einst die Tänzerin Palukka kennengelernt, ihr Vater war der Chef der Türk Maden in Istanbul, ich wußte auch, daß eine Reihe deutscher, darunter viele jüdische Emigranten als Professoren von der türkischen Regierung nach der Türkei gerufen worden waren. Es gab also Bezugspunkte. In Rom traf ich auch wieder Frau Nejfeld und sie bekam auch ein türkisches Visum. Während des Wartens auf die Visaausfertigung und Buchung einer Schiffspassage Neapel­Piräus­Izmir­Istanbul hatte ich doch noch mir viel von Rom, auch seinen Museen und Kirchen in etwas größerer Ruhe ansehen können. Neapel ging an mir schnell vorüber, dafür war aber die Schiffsreise schön, wenn auch ins so ziemlich Ungewisse, und schön war auch der erste Blick auf Istanbul. In der Türkei Alfred Palukka hatte im Park Hotel für mich gebucht. Ein älterer Herr, viele Jahre mit der Firma meines Onkels Paul in der Türkei verbunden, er war albanischer Herkunft, sehr ruhig und weise, gab mir freundliche Einführung ins Leben in der Türkei, im Nahen Osten überhaupt, und nun mußte ich mich umsehen. Zu den deutschen Emigrantenprofessoren an der Universität Istanbul gehörte der Breslauer Mediziner, Internist, Dr. Frank. Er war ein jüngerer Vereinsbruder meines Onkels Walter Oettinger. Meine Großmutter schrieb sofort von Berlin, ich muß mich bei Franks melden, mit denen die Familie in Breslau gut bekannt war. Dann stellte sich auch heraus, daß Frau Frank aus Kattowitz kam, Mitschülerin meiner Kusine Margot Epstein, die mir auch darüber schrieb. Sie hatten zusammen viel Tennis auf unserem Tennisplatz gespielt. Franks hatten eine Tochter Sabine, die in Istanbul Orientalistik studierte, und einen jüngeren Sohn. Ich wurde sehr freundschaftlich aufgenommen und bin der Familie immer wirklich dankbar dafür gewesen. Durch sie lernte ich auch viele andere Mitglieder der deutschen akademischen Emigration in Istanbul kennen; das wurde einer der recht verschiedenen Kreise, die ich dort hatte. Für meine Suche nach einer beruflichen Lösung hatte Dr. Frank mich an einen aus rassischen Gründen abgesetzten Direktor der Deutschen Bank in Istanbul empfohlen, der nach seinem Auscheiden eine Handelsfirma gegründet hatte. Es ergab sich aber ein anderer Plan. Frau Nejfeld brachte mich mit ihrem Lodzer Landsmann Podczaski zusammen, ein mit einer Türkin verheirateter Pole, deren Bruder Tekim durch Podczaski zu einer Zusammenarbeit mit der polnischen staatlichen Exportgesellschaft für Agrarprodukte "Dal" gekommen war. Es gab eine Tochterfirma "Turkdal" in der Türkei, für die neue Geschäftstätigkeit gesucht wurde. Ich hoffte, für Außenhandelsgeschäfte Verbindungen durch Ferrolegeringar in Stockholm und Zürich anzuknüpfen, das Türkdal interessierte, und wir kamen zu einer Vereinbarung. Sie sollten alle Kosten tragen, ich selbst war auf Gewinnbeteiligung angewiesen, also es hing für mich alles davon ab, daß auch Geschäfte zustande kommen. Ich begann gleich aus ihrem Büro eine lebhafte Korrespondenz, der türkische Partner Tekim brachte viele mögliche Kunden. Bald zog ich aus dem Parkhotel, in dem Herr Palukka mich glaubte zunächst unterbringen zu müssen, in die Pension Hella, die er mir empfohlen hatte. Sie gehörte Herrn Errol, der ursprünglich Grünfeld hieß, aus Ungarn. Es war eine interessant gemischte kleine Gesellschaft dort. Dr. Weiss aus Wien, ein Chemiker, gehörte zu den jüdischen Emigranten an der Universität, dann waren verschiedene Engländer da, ein älterer war in Istanbul als Sachverständiger für Marinetransport stationiert, ein junger Mann von der japanischen Botschaft und das Ehepaar Daniec, aus Polen geflohen, er war dort einer der Direktoren von Dal gewesen und jetzt in Istanbul verantwortlich für Türkdal. Mit ihm hatte ich auch die Vereinbarungen mit Turkdal abgeschlossen, und es ergab sich eine gute und freundschaftliche Zusammenarbeit. Er schien mir ein besonders guter Prototyp der neuen Wirtschaftselite, die sich im Polen der Zwischenkriegszeit unter den Zeichen des Etatismus gebildet hatte. Dal war eine unabhängige staatliche Wirtschaftsgesellschaft. Ausbildung und geschäftlichem Denken nach schienen Dals Leute aber ganz wie nach privatwirtschaftlichen Kategorien zu arbeiten und hatten in und für Polen gute Erfolge erzielt, zum Beispiel im Aufbau eines großen Exports polnischer prozessierter Schinken u.a. nach England. Es war nur ein Zufall, daß ich in dieser Pension nun auch mit dem Ehepaar Daniec zusammen war. Zur Gesellschaft beim Mittagessen gehörte auch noch ein jugoslawischer Journalist, politisch gut informiert, schien manchmal ins Revolutionäre zu tendieren, so alles zusammen, es war eine lebhafte Tafelrunde mit oft ganz offener Diskussion über die Kriegsereignisse, die sich unterdeß dramatisch entwickelt hatten. Schon zwei Tage nach meiner Ankunft in der Türkei kamen die Meldungen über Hitlers Angriff an der Westfront, Einmarsch in Holland und Belgien, in London übernahm sofort Winston Churchill die Regierung. Der deutsche, uns atemlos haltende Vormarsch in Frankreich bedeutete den Zusammenbruch einer Welt und ließ einen sprachlos. Es waren Wochen der Agonie Europas, die man miterlebte, wie man es und wie es die Geschichte nie gekannt hatte. Rotterdam war Warschau gefolgt mit großen Verwüstungen durch erbarmungslosen deutschen Angriff. Mit meiner Mutter in Lemberg hatte ich von Istanbul gute Postverbindung, mit den regelmäßigen Schiffen aus Odessa kamen auch öfters Ausreisende von dort, die einem über die Verhältnisse berichteten. Für Mutter wurde durch Stella Braham und ihren Mann ein Einreisevisum nach England besorgt, es machte einen hoffnungsvoll, daß sie eines Tages auch mit einem dieser russischen Schiffe in Istanbul ankommen könnte. Bei dieser Aktion für ein englisches Visum hatte Herbert geholfen und auch Marianne. Sie hatte sich aber im April entschlossen, eine Stellung auf Guernsey in den Channel Islands anzunehmen und war dorthin abgereist, grade als ich dabei war, von Italien nach der Türkei zu gehen. Sie hatte keine richtige Arbeitsgenehmigung in England selbst bekommen, lebte von temporären Jobs, die sich ergaben. Für landwirtschaftlichen Betrieb zog Guernsey sie an, so schrieb sie. Als Erleichterung und jedenfalls Versprechen für fortgesetzten Widerstand gegen Hitler empfand man die erfolgreiche Evakuation der britischen Truppen von Dunkerque, auch General de Gaulle entkam nach England. Sein Name war mir gut bekannt, schon durch Schwarzschilds Tagebuch, durch seinen vergeblichen Kampf um stärkere Tankausrüstung der französischen Armee. Noch in Warschau hatte man gesagt, wenn doch nur die polnische Armee seinen Ansichten in den späteren 30er Jahren mehr Beachtung geschenkt hätte. Die Lage nach der Evakuation von Dunkerque machte mir schwere Sorgen über Mariannes Schicksal. Hatte sie sich evakuieren können, hatte sie die richtige Entscheidung dafür getroffen? Sollte man telegraphieren, mit Zensur im Kriege? "Nihil nocere" hatte mir einmal ein Arzt als seine wichtigste Maxime genannt. Es ist eben nicht immer richtig. Ich habe nicht telegraphiert, ich weiß nicht, ob es sie erreicht und auch noch hätte helfen können. Sie ging einem tragischen Schicksal entgegen. Die nationalsozialistische Propaganda über bevorstehende Invasion in England stiftete Verwirrung und Unsicherheit. Aus Berlin schrieb Margot Epstein mit großer Besorgnis über die Verwandten, die es geschafft hatten, nach England auszuwandern. Diese Gedanken teilte ich nicht, der Kampfwille und die Zuversicht, die von Churchill ausgingen, waren sehr überzeugend, die Türken blieben auch bei ihrer ganz eindeutigen proenglischen Haltung. Man sagte ihnen nach, daß sie eine gute Armee hatten, jedenfalls bedeutende Truppenstärke. Nachdem Italien im Juni auch in den Krieg eingetreten war, schien eine Ausdehnung auf das Mittelmeer zu drohen. Ich fand vieles an der türkischen Machtstruktur damals eindrucksvoll. Die modernistische und laizistische Bewegung Kemal Atatürks versuchte Land und Gesellschaft an westliche Ideen und Formen anzugleichen. Verglichen mit anderen "Parteidiktaturen", die im 20.Jahrhundert erwachsen waren, schien mir diese 1940 zivilisiert und mit einer grundsätzlichen Ausrichtung, die zu der stillen Allianz mit den Westmächten durchaus paßte. Eine Richtlinie war gewiß auch das alte Gefühl der Bedrohung durch Rußland, das immer dominiernd zu sein schien. Ich hatte angefangen, etwas Türkisch zu lernen, so konnte ich auch verstehen, woher der Drang nach einem türkischen Geschichtsbewußtsein, unabhängig von arabisch­islamischer Kultur genommen wurde. Es war ja alles auf lateinische Schrift umgestellt, in Postämtern konnte man noch manchmal sehen, wie ältere Beamte sich unter dem Schaltertisch noch Notizen oder Kalkulationen in arabischer Schrift machten, eigentlich war es verboten. Die Verwaltung beruhte auf ältester Tradition, manches noch von Byzanz herkommend, sagte man. Es gab einen Bazar, aber Handel und Wirtschaft waren doch stark in den Händen von Minderheiten, Griechen und Armeniern und nicht zuletzt den Juden, den länger eingesessenen sephardischen und auch später einigen aus Rußland zugewanderten. In türkischen Familien war es mehr üblich, seine Karriere im Militär oder der Verwaltung zu suchen. So ergab sich für die neue modernistische Jungtürkenpartei ein Aufgabenraum, türkische Wirtschaftsentwicklung vom Staat her zu stimulieren, also eine ähnliche Ausgangposition für Etatismus, wie ich sie von Polen her kannte. Von polnischem Etatismus und neuer wirtschaftliche Intelligenz bekam ich in Istanbul noch einiges mehr zu sehen, mein Freund Daniec blieb nicht der einzige, Istanbul war ja ein lebhafter Durchreisepunkt für die verschiedensten polnischen Flüchtlinge geworden. Der Präsident von Dal in Polen war der Senator Roman Przedpelski gewesen, er wurde oft erwähnt, war auch aus Polen entkommen, noch im Balkan, sollte auch auf der Weiterreise durch Istanbul kommen. Dieser Name war mir sehr bekannt, denn sein Bruder war in Oberschlesien als Verwalter des größten Bergbau­ und Hüttenkonzerns vom Staat eingesetzt worden (2). Als Zeichen für die erfolgreiche Profilierung solcher neuen polnischen Wirtschaftselite schien mir auch bemerkenswert, daß im Verlaufe des Krieges und danach eine Reihe polnischer Berg­ und Hüttenfachleute in westlichen Ländern große Anerkennung fanden. Meine Eindrücke und Kenntnisse der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei waren in der nur kurzen Zeit meines Aufenthalts nicht sehr eingehend, aber da ich mich interessierte und durch meine geschäftlichen Anstrengungen bekam ich doch Einiges zu hören. Es gab die beiden zur Wirtschaftsförderung gegründeten neuen staatlichen Banken, die Etibank, hauptsächlich für Bergbau, die Sumerbank für Verwaltung und Entwicklung von Industrie. Die Etibank hatte seit Kriegsausbruch das Monopol für Chromerzexport, damals sollte keines nach Deutschland gehen. Schon die Namen der beiden Banken fand ich interessant, bei Etibank kam er von den alten Hethitern, Sumerbank von den Sumerern. Mit dem Streben nach einem neuen, säkularisierten, von jeder arabischen Akulturierung unabhängigen türkischen Nationalbewußtsein wollte man also weit zurück in die Vergangenheit reichen. Die archäologische Suche nach den Hethitern erregte damals viel Aufmerksamkeit, es wurde viel über Bogazhkoi gesprochen, ich hatte auch unter den deutschen Emigrantenakademikern in Istanbul den jungen, aber schon damals anerkannten Hethitologen Dr. Güterbok kennengelernt. Eine für mich nähere Bekanntschaft wurde aber der Nationalökonom Dr. Kessler, aus Leipzig aus politischen Gründen emigriert, der Vorsitzender des Verbands Republikanischer Hochschullehrer zu Zeiten der Weimarer Republik gewesen war. Er war auch einmal in Kattowitz zu einem Vortrag im Deutschen Kulturbund, wo ich ihn gehört hatte. Franks riefen an, um mich einzuführen. Sabine Frank nahm regelmäßig teil an Abenden bei ihm, wo oft Schauspiele deutscher Klassiker mit verteilten Rollen gelesen wurden, und ich ging mit ihr. Er beeindruckte mich sehr, das Bild eines deutschen Wissenschaftlers, von gediegener Sachlichkeit, mit einem weiten Blick, nicht nur auf seinem Fachgebiet, sondern alles kulturelle und auch religiöse einbeziehend, man konnte ihm nur mit großer Hochschätzung und im Laufe der Monate auch Zuneigung begegnen. Sein Vater war protestantischer Geistlicher gewesen, Generalsuperintendent der Kurmark, und er schrieb, unter anderem, gerade an einer Biographie seines Vaters. Er selbst war ursprünglich erst Althistoriker geworden und dann zur Nationalökonomie gekommen, für die er den Lehrstuhl in Leipzig hatte. Dort war er bald nach Hitlers Machtübernahme verhaftet worden. Für mein Verständnis des türkischen Wirtschaftslebens, aber auch des Kriegsgeschehens, war diese Bekanntschaft sehr interessant, ich habe ihn oft gesehen. Er nahm mich auch mit in sein Institut an der Universität, und ich lernte die türkischen Assistenten kennen, die er dort in Wirtschaftswissenschaften ausbildete. Von einigen anderen Wirtschaftsexperten unter den deutschen Emigranten, die nicht an der Universität, sondern in Regierungsämtern arbeiteten, lernte ich auch den Agrarexperten Dr. Wilfrid Baade kennen (auch seine Frau, die aus der Leinenfabrikantenfamilie F.V. Grünfeld aus Landeshut stammte), und sah auch wieder Dr. Hans Wilbrandt, der bei unserer mitteleuropäischen Studententagung 1931 in Preßburg gesprochen hatte. Die Sommermonate 1940 der "Battle of Britain" waren für die Engländer grausam und verzweifelt, aber doch erfolgreich verlaufen, und das Gefühl unmittelbarer weiterer Bedrohung hatte sich gewendet. Wie aber sollte es weitergehen, woher sollte eine wirkliche Wende kommen? Es war immer noch schwer, wirklich Zuversicht zu gewinnen. Da erinnere ich mich an meine Unterhaltungen mit Lotek Potok aus Bendzin, der einer der vielen polnischen Flüchtlingspassanten auf dem Weg vom Balkan nach dem Westen oder nach Palästina war. Er war ein sehr erfolgreicher Industrieller in der weiterverarbeitenden Stahlindustrie gewesen, einer der Partner in dem Syndikat, das gewalzte verzinkte Bleche nach dem Verfahren des polnischen Ingenieur­Erfinders Sendzimir herstellte und diesem damit zu seinem großen Erfolg verhalf. Potok fand die Lage ganz einfach. Die Amerikaner hatten schon angefangen, England industriell massiv zu unterstützen. Sehen Sie, sagte er, wenn sie die Stahlproduktion der Welt zusammenrechnen, auch wenn der ganze Kontinent Europa jetzt in deutscher Hand ist, das Übergewicht bleibt schwer gegen die Deutschen, und man kann sich darauf verlassen, sie müssen den Krieg verlieren. Es war das Zuversichtlichste, was ich in jenen Tagen hörte, hatte er Recht? War das der allein wichtige Schlüssel? Immerhin, ich habe diese Unterhaltung mit ihm in Istanbul nie vergessen. Aber mit Stahl allein Hitler aus Europa zu vertreiben, da fehlte wohl doch etwas. Wieder, wie Mitte der dreißiger Jahre, mußte einem dabei auch Rußland einfallen. War das nun doch der fehlende Faktor, auf den man noch hoffen mußte? Es interessierte mich immer sehr, Leute zu treffen, die noch immer vereinzelt aus Lemberg mit den russischen Schiffen ankamen, die vom Schwarzen Meer her durch den Bosporus ihren Weg zum Hafen Istanbul nahmen, mit lauten Klängen der Internationalen. Es gibt manchmal so Reaktionen, die man nur als ganz emotionell und primitiv bezeichnen kann, so ging es mir einmal. Jemand beschreibt, wie die russische Polizei auftritt. Man sitzt in einem Kaffee, in Lemberg, sie kommen herein für eine Kontrolle, jeder mit zwei Schußwaffen, eine nach rechts, die andere nach links vom Gang her gerichtet. Ich habe mir das vorgestellt, ich hatte von so einer Szene noch nie gehört, die zwei Pistolen, oder was es war, für jeden, das war mir zuviel. Ich wußte wieder, das ist nicht für uns, es bleibt ganz fremd. Über meine Mutter hatte ich am 15. Juli aus Lemberg eine, wie ich es damals empfand, Schreckensnachricht bekommen. Sie war "nach Rußland abgereist", und, wie sich bei Nachfrage herausstellte, sie war ins Innere Rußland zunächst mit unbekanntem Ziel deportiert worden. Die Briefe, in denen sie die Reise in Viehwagen mit allen Entbehrungen schilderte, waren herzzerbrechend, aber es waren gar nicht die Grausamkeiten und Demütigungen erwähnt, über die man von Deportationen in Viehwagen durch Hitlerdeutschland später hören sollte. Ich telegraphierte gleich an Brahams nach London und die Britische Botschaft in Moskau, wo ja ein englisches Visum für meine Mutter angekommen war. Dr. Frank empfahl mich an einen prominenten Patienten, der seit einiger Zeit in Istanbul stationiert war. Sir Dennison Ross war einer der führenden englischen Orientspezialisten, ein älterer, sehr freundlicher Mann, halb Gelehrter, halb eben ein prominenter Regierungsmann. Er bot sofort an, einen Freund in der Moskauer Botschaft zu alarmieren. Ich blieb in schrecklichster Ungewissheit, bis am 1.August Nachricht kam, daß meine Mutter in der Sowjetrepublik Mariskaja angekommen war, anscheinend interniert in einem Barackenlager im Wald. Das Gute war, die Eltern und zwei Schwestern von Zygmunt Weingrün waren im selben Transport und sie blieben zusammen. Der Winter in dieser entlegenen Gegend wurde hart. Nach dem Krieg erfuhr ich, daß man meiner Mutter Aufnahme in ein russisches Altersheim angeboten hatte, aber sie dachte nur daran, uns Kinder so schnell wie möglich wiederzusehen. Vielleicht hätte sie eine bessere Chance gehabt, den Krieg dort in einem Altersheim zu überleben. Es wurde noch viel versucht, Mutters Ausreise aus Rußland zu erreichen. Die Russen verweigerten damals Gebrauch der alten polnischen Pässe, wie meine Mutter ja einen hatte, für die Ausreise. Die Britische Botschaft konnte kein "Laissez Passer" ausstellen. Schließlich konnte ich durch den befreundeten Kattowitzer Zahnarzt Dr. Fritz Reichmann aus Lissabon einen mittelamerikanischen Paß für Mutter besorgen. Mit dem englischen Visum, oder für Türkei und Cypern, um die wir uns bemühten, hoffte man, darauf russische Ausreiseerlaubnis zu bekommen. Frau und zwei Kinder Dr. Reichmanns waren in Lemberg immer sehr hilfreich zu meiner Mutter, ich hielt auch weiter von Istanbul aus durch sie Verbindung mit Mutter im fernen Marijskaja aufrecht. Unterdeß hatte sich die Kriegssituation im Balkan und am Mittelmeer sehr zugespitzt. Schon im Juni war Rumänien gezwungen worden, Bessarabien an Rußland abzutreten, im August/September andere Gebiete an Ungarn und Bulgarien, und es war in Rumänien eine Nazifreundliche Diktatur entstanden, der König Karol geflohen, antisemitische Richtungen hatten die Oberhand. Im Oktober besetzten die Deutschen Rumänien, und es verbreitete sich Besorgnis in der Türkei, daß deutsche Truppen auch Bulgarien besetzen und so an der türkischen Grenze erscheinen würden. Man gab sich zuversichtlich in der Türkei, daß die Deutschen dort nicht einfallen würden, weil die türkische Armee auf ihrem Gebiet erfolgreich Widerstand leisten könnte, aber als Flüchtling vor Hitler wurde ich, wie viele ähnlich placierte, doch sehr unruhig. Es kamen viele weitere polnische Flüchtlingsfamilien aus Bukarest auf der Durchreise nach Istanbul, viele gingen nach Palästina, andere konnten sich z.B. brasilianische Visen beschaffen. Das tat ich denn auch und dazu noch von der englischen Botschaft ein dazugehöriges Transitvisum für Palästina. Italien griff Ende Oktober Griechenland an. Die Türkei war weitgehend abgeschnitten, jedenfalls für unsereinen. Syrien, damals noch von der mit Hitler zusammenarbeitenden französischen Regierung von Vichy kontrolliert, kam als Durchgangsland auch nicht in Frage. Der einzige Weg für Ausreise führte über den Hafen Mersin im Süden der Türkei mit Schiff nach Haifa, und alle, die nicht Hitler oder anderen Axismächten in die Hand fallen wollten, mußten ihn nehmen. Man traf sich oft mit anderen polnischen Flüchtlingen. Als Neuankömmling stellte sich eines Tages Jozef Winiewicz vor, der Chefredakteur des Dziennik Poznanski in Posen gewesen war, und setzte gleich noch hinzu, er sei ein Endek, also zur nationalistischen Rechtspartei der Dmowski Richtung gehörend. Ich wunderte mich eigentlich, wieso er das so betonen mußte. Man sah ihn dann nicht oft, aber eines Tages sah ich Daniec mit ihm durch den ganzen Raum schnurstracks auf mich zukommen, und Daniec sagt mir, Winiewicz will mich etwas fragen. Er wollte wissen, wie ich mir für nach dem Krieg die Grenze zwischen Polen und Deutschland vorstelle. Offenbar wußte er, wer ich war, woher ich kam. Wie Daniec gesagt hatte, ich trug ja meinen "preußischen Akzent" wie eine Fahne umher. Ich war ganz unvorbereitet auf diese Frage. Es war schon richtig, die Battle of Britain hatte Hitler schon so gut wie verloren und alle, die seine Niederlage herbeiwünschten, sollten sich Gedanken über die Gestaltung der Nachkriegszeit machen und dabei auch über künftige deutsch­polnische Grenzen. Wie es in Europa damals im Spätherbst 1940 aussah, schien mir die Frage früh, und ich mußte sehr schnell denken. Mit voller Überzeugung habe ich dann geantwortet, ich fände die 1939 Vorkriegsgrenzen sollten wiederhergestellt werden. Sie waren doch gar nicht so schlecht gewesen, meinte ich. Daniec schien meine Antwort ganz gut und natürlich für mich zu finden, aber Winiewicz erklärte nach einer Pause sehr entschieden und aggressiv, die Grenze müsse weit nach Westen bis ganz an die Oder verschoben werden. Ich gab zu bedenken, daß dort doch gar nicht polnisch gesprochen wird. Nach ihm war das belanglos, es seien alte slawische Gebiete und sie müßten zu Polen kommen. Daniec klopfte mir beruhigend auf die Schulter und wir trennten uns (3). Während der größten Nervosität über deutschen Einmarsch in Bulgarien im November 1940 war ich nicht nach Mersin abgefahren, um zunächst einmal nach Palästina weiterzukommen, was viele gemacht haben. Es stellte sich heraus, die Flucht wäre auch nicht nötig gewesen. Bulgarien wurde zwar im März 1941 doch von deutschen Truppen besetzt, aber Hitler hat die Türkei nie angegriffen, und alle, die in Istambul blieben, sollten es gut überleben. Im September war Sir Dennison Ross gestorben, der sich für die Ausreise meiner Mutter aus Rußland miteingesetzt hatte; ich nahm teil am Trauergottesdienst in der Englischen Botschaft. Nun am 14. Dezember starb Alfed Palukka nach monatelangem Leiden, ich hatte ihn immer seltener sehen können. Bei der katholischen Beerdigung sah man auch viele Deutsche. Zu Weihnachten lud Dr. Kessler seine jungen Freunde ein, sein Sohn lebte auch bei ihm, es war ein kleiner Kreis, es waren auch mit mir einige andere jüdische Flüchtlinge da. Es war etwas Tragisches dabei, wie er sein Weihnachtsfest verbringen mußte, denn seine Frau war in Deutschland, in Bethel beim Pastor Bodelschwing. Es gab anscheinend nicht nur den Herrn Winiewicz, der sich mit den Problemen der Nachkriegszeit beschäftigte. In der englischen Botschaft sollte jemand auf Dr. Kessler als einen möglichen deutschen Reichspräsidenten hingewiesen haben, wenn Hitler abgesetzt wird. Vielleicht war Kessler durchaus geschmeichelt, als wir darüber sprachen, aber er wollte nichts davon wissen, er könnte es sich gar nicht vorstellen, wieder nach Deutschland zurückzukehren und einigen Leipziger Kollegen zu begegnen, die ihn nicht einmal im Gefängnis besucht hatten. Die Entscheidung, ob und wann ich weiterreisen sollte, wurde mir am 31. Dezember abgenommen. Die Türkische Polizei verlängerte meine Aufenthaltsgenehmigung nicht, und ich mußte sofort nach Mersin abreisen. Die Bahnfahrt ging durch Anatolien und dann die aufregende Gebirgsszenerie des Taurus, ein großartiges Naturschauspiel. An der Mittelmeerküste in Mersin war man schon wieder in einer anderen Welt nahe Syrien, auch bei der Bevölkerung merkte man das. Das Hotel hatte damals viele fremde Transitgäste verschiedener Nationen und Herkunft, die den Weg rund um das Vichy Syrien machen wollten. Man traf viele Bekannte, die kamen und gingen, ich versäumte die nächsten Schiffe und war nicht der einzige. Nachdem meine Mutter nun im Innern Rußlands war, schien ihre baldige Ausreise noch schwieriger. Man wußte damals nicht, daß nach schon sechs Monaten sich Rußlands Stellung im Krieg und damit auch die Bedingungen der dorthin verschlagenen polnischen Flüchtlinge entscheidend ändern würden. Damals, Januar 1941, sah ich Erlangung eines türkischen Transitvisums für sie zur Weiterreise nach Cypern als eine der wenigen Chancen für sie, wieder mit ihren Kindern zusammenzukommen. Ich wäre gern mit dem Anwalt Halil Bey in Istanbul in engem Kontakt geblieben. So versuchte ich, wie ein Freund das nannte, mich noch in Mersin etwas am Rand der Türkei festzuhalten. Es war ja auch noch Vorsorge zu treffen für Finanzierung der Weiterreise. Viele polnische Kriegsflüchtlinge wurden damals von der Exilregierung in London unterstützt, doch dazu gehörte ich nicht. Die Polizei drängte, wenn immer ein Schiff abgehen sollte, und schließlich mußte ich auch eines besteigen. "Vous vous devez débrouiller" sagte der Beamte, und das war es dann. Es war ein kleiner ägyptischer Frachter mit Passagierverkehr. Die Hauptfracht schienen Schafe zu sein, in einem großen offenen "Hold", aus dem ein penetranter Geruch strömte, der den abenteuerlichen Charakter unserer Reise noch verstärkte. Darum herum saßen hunderte von einfachen Passagieren, die man um ihr Los nicht beneiden konnte. Etwas weg davon waren Kajüten, ich bekam einen Platz dort, mit anderen polnischen Flüchtlingen. Im Hotel hatte ich Jerzy Nowak aus Kattowitz kennengelernt, er gehörte zu einer Gruppe, seine Schwester war mit Lotte in der Schule bekannt, er wußte, wer ich war, zeigte sich hilfreich. Zu den Passagieren gehörten der Senator Roman Przedpelski und Sohn, er hatte von meiner Assoziation mit TürkDal und meiner Anwesenheit in Mersin bei der Durchfahrt in Istanbul gehört und begrüßte mich schon im Hotel in Mersin dem entsprechend. Er erwähnte wieder, wie es schon Podczaski und Daniec in Istanbul getan hatten, daß ich in Palästina mich immer an den dortigen langjährigen Vertreter von Dal, Hermann Safir, auch aus Polen stammend, um Rat wenden kann. Das Schiff fuhr verdunkelt, das östliche Mittelmeer war Kriegsgebiet. Der Seegang war beträchtlich, meine Anfälligkeit für Seekrankheit ominös. Nach dem Abendbrot suchte der Ingenieur K., wir hatten uns öfters im Hotel gesprochen, einen Vierten für eine Bridgepartie, ich war bereit. Die beiden anderen Partner, die K. gefunden hatte, waren Roman Maier, den ich auch schon im Hotel in Mersin kennengelernt hatte, Chefredakteur der Sanacja Regierungszeitung in Kattowitz: "Polska Zachodnia", der andere war Josef Winiewicz, und den kannte ich ja auch schon. Ich konnte nicht lange mitspielen, der Seegang wurde immer heftiger, einige verließen schon den Raum, Bridge verpflichtet ja zu mehr, aber ich mußte mich dann auch entschuldigen und in die Kajüte fliehen. Mit Mühe schaffte ich es am nächsten Morgen noch zum Frühstück, dann kamen wir in Haifa an. Die Polen hatten alle kaum Schwierigkeiten, Senator Przedpelski wurde von Hermann Safir abgeholt und stellte mich ihm vor, er sagte, ich solle ihn später in Tel Aviv anrufen, falls ich bei der Landung Schwierigkeiten habe. Bei mir verlief die Paßkontrolle gar nicht glatt. Der für die britische Mandatsverwaltung amtierende Inspektor Tabori, wie man mir nachher sagte, ein ungarischer Jude, sehr bekannt in Palästina, wollte alles über mich wissen. Er prüfte auch die ganze Korrespondenz, die ich mit mir führte, also mit meinen Verwandten in London, auch der Mutter in Rußland, es war ja dort sehr Verschiedenes. Er mußte mich wohl nicht nur vom Standpunkt der Mandatseinwanderungsbestimmungen prüfen, das war ja auch mein Übergang in Kriegszeiten vom neutralen Ausland in Englisch verwaltetes Gebiet. Vielleicht war es Tabori gar nicht so vollkommen fremd, ein polnischer Paß, aber jemand offensichtlich, auch in seiner ganzen Korrespondenz deutschsprachig, und jüdisch, kam nicht mit einem Zertifikat, sondern Transitvisum nach Brasilien, er wollte wohl seiner Sache ganz sicher gehen. Dabei war er sehr freundlich, aber Landegenehmigung gab er mir nur gegen Zahlung eines Deposits von Sechzig Pfund. Ich konnte auf den Quai gehen, jedenfalls um zu telefonieren. Das Geld für das Deposit hatte ich nicht, ich war zuversichtlich, Herbert würde mich da auslösen, aber anscheinend hatte ich nur drei Stunden, dann sollte das Schiff nach Alexandria weiterfahren. Es kam schon ein Matrose, der mein Gepäck wieder an Bord nehmen wollte. Man hatte viel gehört über Flüchtlinge, die monatelang auf dem Mittelmeer herumkreuzten, von manchen hatte man nie wieder gehört. Ich hatte ja schon manches mitgemacht, aber geriet in ziemliche Panik. Sobald ich annehmen konnte, daß Hermann Safir und die Przedpelskis schon in Tel Aviv angekommen sind, rief ich dort an und erklärte meine Lage, hörte, wie er mit Przedpelski sprach, und dann sagte er zu, das Deposit für mich vorzuschießen und sofort alles Nötige zu veranlassen. Das Schiff wurde schon zur Abreise gerüstet, ich aufgefordert, wieder an Bord zu gehen, da kam zur Zeit noch die Bestätigung, daß mein Deposit bezahlt worden war. Ich konnte an Land bleiben (4). Aufenthalt in Palästina Jetzt war ich also in Palästina, eine sehr wichtige, neue Begegnung. Einmal das Land altzeitlicher jüdischer Vergangenheit, sehnsüchtiges Ziel zionistischer Hoffnungen auf jüdische nationale Existenz, ein Thema, dem ich neuerdings mit viel Sympathie, aber als wirkliche persönliche Identifikation doch mit angeborenen Hemmnissen und Vorbehalten bisher begegnet war. Ich wollte es nun wirklich ganz unvoreingenommen und mit soviel Idealismus wie möglich erleben. Der andere Aspekt, und vom Standpunkt meines Erlebens des Krieges ebenso wichtig, ich war jetzt auf englischem Gebiet, auf der Seite, von wo der Kampf gegen Hitler geführt wurde, die Seite der Alliierten, die die Hoffnung aller Gegner des Nationalsozialismus wurde. Meine Kontakte sollten sehr mannigfach sein, und da war die Frage, ob ich werde bleiben wollen, und ob überhaupt bleiben können. Aussichten für Weiterreise nach Brasilien waren ganz undeutlich, im Gegensatz zu Bolivien hatte Herbert schon geschrieben, daß er in Brasilien keine passenden Verbindungen hätte und mir dorthin nicht helfen kann. Man hatte mir für die Nacht ein Hotel am Hafen in Haifa genannt, es gehörte Arabern. Die arabische Umgebung im Hafengebiet und Hotel war natürlich recht fremd. Ich wußte von einigen alten und neueren Bekannten in Palästina, aber von wenigen in Haifa. Ich sah den FWFer Grünpeter, auch aus Oberschlesien, der bei einer Bank arbeitete, mir erste Informationen und auch die Adressen von Bekannten gab, und beschloß, nach Jerusalem zu fahren. Es war nicht leicht, dort Unterkunft zu finden, und ich weiß nicht, wer mich ins Hotel Zion brachte. Es wurde von einem vollbärtigen Besitzer streng orthodox geführt, so streng, das war wieder soviel fremder als alle die guten Bekannten und Freunde, die ich in Jerusalem wiedertraf. Das Klima schien mir gar nicht zu bekommen, ich hatte das stärkste Asthma und andere allergische Krämpfe, Freitagabend ging das Licht aus, und man konnte es auch nicht mehr anzünden im Hotel. Die Wirtsfamilie nahm auch gar keine Notiz davon, daß es einem schlecht ging, etwelcher Enthusiasmus über die neue Umgebung wurde bald gedämpft. Es war anders mit den vielen Freunden und Bekannten, die ich wiedertraf. Da war Erich Markus aus Gleiwitz, Musikenthusiast; als Zahnarzt hatte er wohl Telefon, das war dort gar nicht so selbstverständlich damals. Otto Lilien selbst war bei der Royal Airforce in Kairo, aber Lore Lilien war da, auch der einstige Schulkamerad und FWV Bundesbruder Hans Roman. Ganz große Hilfe in meinen Krankheitsproblemen wurde der FWVer Max Altmann, einstiger Mitarbeiter und Nachfolger von Kurt Lange in der Krankenkasse der Studentenhilfe der Universität Berlin, jetzt Assistenzarzt am Hadassahhospital bei seinem Onkel, dem Laryngologen Dr. Lachmann aus Berlin. Bald traf ich auch Franz Goldstein, von seinem ersten Exil Prag noch rechtzeitig nach Jerusalem gelangt, mit seiner großen Bibliothek, und als Musik­ und Filmkritiker bei der Palästine Post tätig. Mein Asthma nahm aber in wenigen Tagen solche Formen an, daß Max Altmann mich ins Hadassahhospital in die 2. Medizinische Abteilung bei Dr. Rachmilewitz einlieferte, der sich für mich als wunderbarer Arzt erwies. Ich teilte das Krankenzimmer mit einem jungen Kibbutznik. Mit seiner guten Stimme hatte sein Kibbutz ihn zur Ausbildung nach Jerusalem geschickt. Er schien ein einfacher Mensch, aber sehr geweckt, gut gebildet, mit großem Enthusiasmus für die Ideen des Kibbutz und das neue jüdische Palästina. Meine Aussprache der ersten hebräischen Worte fand er zwischen bedauernswert und belustigend. Ich sollte am Wort "bachur" versuchen, mich von meinem hochdeutschen Akzent dabei zu befreien. Es schien hoffnungslos. "Jecke potz" sagte er verzweifelt, ich mußte an Daniec's Ausspruch über meine preußische Akzentfahne denken, anscheinend blieb man Fremder überall. Verstehen lernte ich gut in den wenigen Tagen dort, wie auch in einem bewußt nichtreligiösen Kibbutz jüdische biblische Überlieferung ganz wie gegenwärtig als Folklore, wie Sagenüberlieferung oder Märchen weitergelebt, ja erlebt wird, und es wurde eine meiner wichtigsten Erfahrungen in Palästina. Mein Aufenthalt war diesmal recht kurz, ich konnte bald entlassen werden und zog in die Pension Shalwa, von polnisch­jüdischen Einwanderen aus Sosnowitz geführt. Die Gäste waren mehr im gewohnten Stil, auch deutsch­jüdische, auch von der Universität. Nun hatte ich einige Wochen vor mir, in denen ich am Leben in Jerusalem teilnehmen konnte. Franz Goldstein war wieder ein interessanter Kontakt (5). Seine Bibliothek war gut installiert, ganz anheimelnd für Besucher, oft kam zum Beispiel Else Lasker­Schüler, schon sehr alt, mit viel Zauber und Humor. Eines Tages wollte sie eine Art Séance vorbereiten, so viele wie möglich sollten zusammensitzen und durch ganz starke Konzentration ein Ereignis herbeiwünschen, das den Fall des Hitlerregimes nach sich zieht. Sie war sicher, durch starke Konzentration könnte man das erreichen. Ihre Idee war, man muß sich ganz auf die Person Hitlers konzentrieren und wünschen, daß er eine ganz große Dummheit begeht, zum Beispiel in einem Argument mit einem seiner Generäle diesen ohrfeigt. Bin ich nicht auch der Ansicht, fragte sie mich, daß Hitler dann gestürzt werden würde? Das habe ich schon bestätigt, aber taktvolle Zweifel angemeldet, daß man so etwas tatsächlich herbeiwünschen kann. Mit einem so wundersamen Menschen wie ihr mußte man ja behutsam umgehen. Das Thema wurde auch allgemein akzeptiert, die Session fand später auch statt, aber ich mußte mich entschuldigen. Heute weiß ich nicht einmal mehr, nach aller Literatur, die es über die Reaktionen und Nichtreaktionen der Generäle in der Hitlerzeit gibt, ob solch eine Entgleisung Hitlers damals wirklich zu seinem Sturz geführt hätte. In seinen Anschauungen hatte sich Franz Goldstein, er schrieb immer noch als "Frango", immer besonders mit Max Brod und Arnold Zweig verbunden gefühlt und war in Kontakt mit beiden geblieben. Max Brod blieb eine Säule zionistischer Gesinnung, aber Arnold Zweig war, so erzählte Frango, von viel stärkeren Zweifeln und Entfremdung befallen. Frango war es ähnlich ergangen, seit er von Prag nach Palästina weiterreisen mußte. Er hatte in Jerusalem durchaus Anklang und Anschluß gefunden, materiell aber war es noch problematisch, aber da war er nicht allein. Außer für die Palästine Post schrieb er dann auch für die Zeitschrift "Orient" (6), die von Arnold Zweig und Wolfgang Yourgrau herausgegeben wurde und sich stark für jüdisch­arabische Verständigung einsetzte. Darin gehörte sie zu der vom Rektor der Universität Dr. Magnes geführten Bewegung, der auch Martin Buber nahestand. Dessen Rolle im damaligen jüdischen Palästina schien mir bezeichnend für die Schwierigkeiten, einige Züge deutsch­jüdischer Tradition in den Strom der Entwicklung zionistischen Denkens einzufügen. Das betraf nicht nur solch geistige Prominenz, auch alte oberschlesische Zionistenführer, die ich traf, fühlten sich deutlich ausgelassen, als ob sie nicht Jahrzehnte lang für den Zionismus gearbeitet hätten. Es gab nur wenige, die damals ihren Begabungen und früherem Wirkungskreis entsprechende Stellungen einnahmen, z.B.in der Verwaltung Fritz Naphtali und im Bildungswesen Ernst Simon. Durch Lore Lilien lernte ich im jüdischen Bezalel Museum in Jerusalem Jakob Steinhardt kennen, einen alten Freund des Malers E.M. Lilien, und eine andere interessante Begegnung arrangierte sie für mich mit der Witwe Eliezer ben Jehudas, Pioniers der neuen Hebräischen Sprache, nach dem prominente Straßen in allen Städten benannt waren. Die eindrucksvolle alte Dame kam wie ihr Mann aus Rußland, sprach fließendes Deutsch, verwaltete sehr aktiv die Herausgabe des Hebräischen Lexikons und anderer Werke. In der lebhaften Unterhaltung stellte ich auch Fragen über weitere Entwicklungen, denn ich wußte, daß ein Sohn in Tel Aviv für die Übernahme lateinischer Schrift für das Neue Hebräisch eintrat, ein paralleles Thema war mir ja vom Aufenthalt in der Türkei her geläufig. Es schien mir nicht, daß sich die Frau Elieser ben Jehudas mit den Bestrebungen des Sohnes identifizierte. Sie erwähnte aber ein anderes Thema, Reform der hebräischen Grammatik, das hätte ihrem Mann sehr am Herzen gelegen, aber, sagte sie, wie mir schien etwas kryptisch, jetzt während des Krieges kann dafür ohnehin nichts getan werden. Wieso, fragte ich. Ihr Mann hatte immer gesagt, daran würde er nur mit Hilfe eines bestimmten deutschen Philologen arbeiten können, und den könnte man ja jetzt während des Krieges eben nicht hinzuziehen. Ich war erstaunt, es schlug da ein Cord an, der mir ja von meiner Beschäftigung mit der Literatur deutscher Alttestamentler über israelitische Geschichte und Religion so vertraut war, aus der ich ja eigentlich glaube, mein bestes Verständnis für diese mir so wichtigen Themen gewonnen zu haben. So fühlte ich mich unerwartet recht zu Hause bei dieser Unterhaltung. Eine, wie mir schien, wichtige Perspektive für Palästina wurde mir nahegebracht, als ich mich um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühte. Einer meiner Bekannten aus dem Demokratischen Studentenbund Berlin war in Jerusalem erfolgreich geworden in einer der deutsch­jüdischen Privatbanken. Deren Anwalt arrangierte für mich einen Besuch im Immigrationsdepartment der Britischen Mandatsverwaltung, wo ich von einem Mitglied der arabischen Familie Nashashibi empfangen wurde. Im Gegensatz zu dem Großmufti aus der Familie Husseini, der scharf gegen England Stellung nahm, waren Mitglieder der arabischen Familie Nashashibi auf Seite der Alliierten und, so meinte man, vielleicht eher zu einem Zusammenleben mit den Juden in Palästina bereit. Die Unterhaltung spielte sich in vollendeter Höflichkeit ab, und ich habe mich oft an die Haltung dieses damals noch jüngeren Mannes erinnert. Sie vermittelte mir den Eindruck der starken, alteingesessenen Stellung der arabischen Palästinenser, aber, so dachte ich, auch eine mögliche Hoffnung, daß bei gegenseitigem Respekt es eine Möglichkeit für ein Zusammenleben geben könnte. Ich erhielt eine mehrmonatige Aufenthaltsverlängerung für mein Transitvisum. In diesen Wochen konnte ich auch die Altstadt, Klagemauer und andere berühmte Stätten in Jerusalem besuchen, die Hebräische Universität und die Bibliothek. Aber meine Zeit dafür lief bald ab. Von der Pension Shalwa war ich grade in eine Wohnung im gleichen Haus umquartiert worden, und die Frau Justizrat aus Köln war, wie sich herausstellte, die Schwester des Dirigenten Otto Klemperers, es waren all die alten Möbel da. Mein Asthma nahm wieder bedrohliche Formen an, Max Altmann nahm mich wieder in die Hadassah, diesmal in die 1. Medizinische Klinik, wo mich ein deutscher Professor behandelte. Ich wurde dort vier Wochen gehalten, quälend und mit nachhaltigem Schaden, trotz des Vorgangs der früheren erfolgreichen Behandlung. Zum Schluß entschied der Professor, man müßte einfach einen Tag wählen, wo es mir einigermaßen ging, und dann sollte ich schnell packen und nach Tel Aviv übersiedeln in der Hoffnung, daß es mir dort besser gehen wird. Ich hatte durch Beobachtungen festgestellt, daß ich, wenn dem in Jerusalem besonders heftigen Chamsinwind zugekehrt, mehr litt als abgekehrt vom Wind. Es bestätigte sich auch, daß es mir dann in Tel Aviv weit besser, wenn auch nie wirklich gut ging. Im Hotel Hayarkon an der Ben­Yehuda­Straße in Tel Aviv war erster neuer Eindruck die vielen Leute von der jüdischen "Bürgerwehr"­Truppe der Haganah, die dort ein und ausgingen. Diese jüdische Selbstverteidigungsbewegung war gegenüber den schon so lange anhaltenden Angriffen arabischer bewaffneter Gegner des Zionismus entstanden. Die jüdische Arbeiterbewegung schien ihre Hauptstütze zu sein. Meine Erinnerung aus diesen Tagen in Tel Aviv bleibt an vernünftige und entschlossene Leute, oft schon gesetzteren Alters, man fühlte die große Zuverlässigkeit ihres Einsatzes. Unterdeß war der Krieg dem östlichen Mittelmeer immer näher gerückt. Die Deutschen waren nach einem Proachse­Staatsstreich in Jugoslawien eingefallen, machten die anfänglichen Rückschläge der Italiener in Griechenland und Nordafrika wieder gut. Tel Aviv war schon von deutschen Luftangriffen bedroht, und Anfang Mai gab es in Irak einen pro Hitler Putsch gegen die Engländer durch Raschid Ali, vom Jerusalemer Mufti Husseini unterstützt, man war wieder im Feld äußerster Spannungen. Der Putsch im Irak wurde von den Engländern bald unterdrückt, aber im Mittelmeer spitzte die deutsche Invasion Kretas die Lage weiter zu. In Tel Aviv hatte ich Verwandte wiedergefunden. Meine Tante Edith Samuelssohn aus Königsberg, Arztwitwe, selber einst schriftstellernd und Mitglied des Deutschen Penclubs dort gewesen, war eine Lieblingskousine meiner Mutter. Ihre Tochter Eva war diejenige, die sich für den Zionismus begeistert und bei Paltreu, der in Deutschland entstandenen Treuhandgesellschaft für Auswanderer nach Palästina, gearbeitet hatte. So kam dann auch ihre Mutter, recht unwahrscheinliche Kandidatin dafür von ihrem bisherigen Leben her, nach Palästina, und auch Schwester Lilly, Goldschmiedin, mit zweitem Vornamen Margarethe, die mit einem Arzt verheiratet war. Ich lernte in ihrem Haus viele ihrer meist Königsberger Freunde kennen und hatte oft guten Rat und Zuspruch. Tante Ediths Bruder war Paul Riesenfeld aus Breslau, ein Musikkritiker und ­lehrer, etwas exzentrisch, der nun für eine in deutscher Sprache erscheinende kleine Emigrantenzeitung in Tel Aviv schrieb. Zu meinen bereicherndsten neuen Bekanntschaften in Tel Aviv gehörte Conrad Kaiser, der entfernt verwandt war. Als Lotte später auch nach Tel Aviv kam, wohnte sie mit Nina bei Kaisers, und ich nahm am Mittagstisch teil. Er war ein alter Zionist, KIVer, aber auch mit erfolgreicher Karriere im preußischen Staatsdienst, zuletzt Regierungsdirektor im Berliner Polizeipräsidium, mit weitem Horizont und Interessen, besonders Geschichte, hatte eine ausgewählte, große Bibliothek. In seinen Ansichten war er ein Beispiel konsequenter zionistischer Einstellung und Reaktionen auf alles was vorkam, und er versuchte mir, das jeweils ganz klar zu machen. Ich glaube, es war ein Raubmord in Tel Aviv über den die Zeitungen berichteten. Er brach in Jubel aus, das war es, nun gab es auch jüdische Verbrecher, die Juden waren auf dem Weg, ein normales Volk zu werden (7), das war die Essenz des Zionismus. Er konnte sehen, wie diese Interpretation mich überraschte und mir gegen den Strich ging, aber er ließ nicht locker. Eine starke Bewunderung, die ich teilte, verband ihn mit dem Werk Jakob Burkhardts, aber was für ein schrecklicher Antisemit er gewesen sei. Da war alle Literatur in seiner Bibliothek, auch Burkhardts Briefwechsel mit seinem Freund Prehn, es war wirklich so. Ein gemeinsames Interesse mit Conrad Kaiser war die Betrachtung jüdischer Ursprünge und Geschichte im Lichte der Erkenntnisse der alttestamentlichen Bibelkritik, auch hier war seine Bibliothek reich versehen. Einige der alten Freunde Conrad Kaisers lernte ich auch kennen und besuchte auch Dr. Badt, den früheren Ministerialdirektor beim preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Er war selbst Sozialdemokrat aber auch immer alter Zionist gewesen stark angegriffen von der Rechten. Seine Schwester Bertha Badt­Strauss, Schriftstellerin, hatte ich oft in Dahlem gesehen, eine Schulfreundin meiner Tante Grete, so auch eine Jugendbekanntschaft des Dr. Badt, und er sprach von ihr. Ich hatte wieder denselben Eindruck; Badt, trotz großer Erfahrung in Politik und Verwaltung und alter Zionist, wurde wie mancher andere deutsch­jüdische Einwanderer damals außerhalb des zionistischen Establishment gehalten. Als wie eine persönliche Ermahnung blieb am stärksten in Erinnerung von allen deutsch­jüdischen Begegnungen mein FWV Bundesbruder Max Pinn. Er hatte sich in Berlin dem Kreis um Robert Weltsch angeschlossen, war überzeugter Zionist geworden, arbeitete bei Paltreu und war erst im letzten Moment nach Palästina gekommen, studierte nun nochmals für sein juristisches Examen dort. Wir hatten einige lange abendliche Spaziergänge in lebhafter Meinungsverschiedenheit. Ich mußte mich an meine Spaziergänge in München mit Walther Seuffert erinnern, aber diesmal ging es um ein anderes Thema. Ich hatte große Schwierigkeiten nicht nur für mich selbst, sondern auch vom Standpunkt des deutsch­jüdischen Assimilanten, und das waren wir ja beide gewesen, eine positive Bilanz über das, was ich dort sah, zu ziehen. Zuviel schien mir verloren zu gehen, nicht bei der zionistischen Zielsetzung an sich, sondern wie ich es empfand, daß sich die Dinge im Lande tatsächlich entwickelten. Sein Enthusiasmus war so groß, daß er all das bei Seite schob. Das ist die geschichtliche Entwicklung, sagte er, was Du dabei empfindest, ist ohne Belang, wenn die Zeit über in der Diaspora entwickeltes Gedankengut hinweggeht, dann muß es halt sein, das wichtige ist, daß es ein jüdisches Palästina geben wird. Strenge Ermahnungen, er war ein Mensch geneigt zu einer Art eiserner Disziplin, eigentlich sehr preußisch in seinem Charakter (8). Wir haben uns nicht geeinigt, ich fand, entscheidend muß sein, wie so ein neues Judentum aussehen, sich gestalten kann. Vor dieser großen Frage war ich so skeptisch, ja vielleicht kann man sagen, entfremdet geworden. Das war noch ganz unabhängig von dem großen Problem des Verhältnisses zionistischer territorialer Ziele zu der arabischen Umwelt. Ich hatte natürlich auch lebhafte Kontakte mit polnisch­jüdischen Kreisen. Abgesehen von vielen Kattowitzer Bekannten, zum Teil schon in kurzer Zeit als Neuankömmlinge erfolgreich, so in der jungen Diamantenindustrie, aber auch viele, die sich sehr quälten, sah ich beinahe täglich einen Kreis, zu dem der mir von vielen Vorkriegsartikeln bekannte Krakauer Nationalökonom Dr. Ludwik Berger gehörte. Ich hatte da schon einige gemeinsame Anschauungen über polnische wirtschaftliche Probleme gefunden, und auch jetzt verstanden wir uns gut über nun aktuelle Fragen. Zu dem Kreis, den ich fast täglich in einem Caffee am Dyzengoff Platz traf, ich war unterdeß aus dem Hotel in ein möbliertes Zimmer in dieser Gegend gezogen, gehörte auch Zygmunt Hochwald, Herausgeber der Krakauer jüdischen Tageszeitung "Nowy Dziennik", eine der repäsentativsten der großen jüdischen Minderheit in Polen. Sie war prozionistisch, säkular, für bürgerliche, assimilierte polnische Juden mit jüdischem politischen Bewußtsein. Es waren mehrere Journalisten da, und das heißt ja oft, daß die Stimmung aufsässig ist, so gab es auch manche Kritik an jüdischer Entwicklung und Politik in Palästina. Die offizielle Spitze der jüdischen Präsenz in Palästina war die Jewish Agency, Sochnuth im jüdischen Sprachgebrauch dort. Weitzmann war ja im Ausland, der Statthalter war Ben Gurion. Einige prominente Vertreter der polnischen Juden gehörten zur Spitze. Meine Stammtischfreunde am Dyzengoff Platz schienen einen ganz guten "Draht" dorthin zu haben. Eines Tages kam jemand zurück aus Jerusalem und sagte, wenn man da in die Sochnuth kommt, die sprechen schon so, als ob sie morgen die Regierung des Landes sein werden. Ich war bestürzt. Das hatte nie zu meinem Blickfeld gehört. Die Balfour Deklaration hatte eine "Heimstätte" für das jüdische Volk in Palästina proklamiert, es war daraus schon eine starke jüdische Siedlung entstanden, der Jischuw genannt. Juden konnten auf vieles dabei stolz sein und weitere gute Hoffnung haben, aber die Idee eines jüdischen Staates anstelle eines Schutzes wie des von England ausgeübten Mandates, das schien mir ein verwegener Gedanke mit all den alteingesessenen Arabern herum. Man war im ganz arabischen Jaffa gewesen, im Bus von Jerusalem nach Tel Aviv durch ganz arabische Gegenden gefahren, sollte, ja konnte es da einen jüdischen Staat geben, war das sinngemäß, im wirklichen Interesse der Zukunft des Jischuws? Man schien auch etwas skeptisch an dem Caffeehaustisch, ob solche Stimmung in der Sochnuth zeitgemäß oder wirklichkeitsfremd ist, aber meine Reaktion war viel stärker, für mich ging schon die Konzeption eines jüdischen Staats als Staat in Palästina zu weit. Ereignisse seitdem haben meine damalige Reaktion ja weitgehend überholt. Ich frage mich heute, war das mein Wirklichkeitsempfinden nach mehrmonatigem Aufenthalt in Palästina, oder ist da ein Ideologieverdacht: die Idee einer Zionistischen Heimstätte schon, aber die eines jüdischen Staates konnte meine assimilierte Grundhaltung schwer vertragen. Von dem eigentlichen Holocaust mit Millionen jüdischen Lebens vernichtet, wußte man damals im frühen Sommer 1941 noch nicht. Es ging alles darum, daß Hitler besiegt wird und das Hitlerregime von der politischen Szene Europas verschwindet. Die Frage der Gestaltung der Nachkriegswelt in Europa beschäftigte mich immer mehr. Die Unterhaltung mit Winiewicz war da ein Stachel. Mit solchen polnischen Zielsetzungen schien es mir schwer, sich ein friedliches neues Europa vorzustellen. Ich versuchte für solch ein Europa eine Konzeption zu entwerfen und das sozusagen als ausführliche Antwort in die Form eines Memorandums an die polnische Exilsregierung in London zu bringen. Ein wesentlicher Gedanke war, die Formulierung von Kriegszielen der Alliierten dürfe sich nicht im luftleeren Raum bewegen, eine Schlüsselfrage mußte sein, wie man sich die Entwicklung in einem besiegten und von den Nazis befreiten Deutschland vorstellen kann. Das Postulat einer zunächst vollständigen Entwaffnung Deutschlands nach diesem 2.Weltkrieg schien unabweisbar, politisch sah ich die Antwort damals im Sommer 1941 in der sofortigen Gründung einer Europäischen Union mit Einschluß Englands. Nach Wiederherstellung Frankreichs müßten auch die mittel­ und osteuropäischen Nachbarn Deutschlands so gestärkt werden, daß sie eine wichtige Stütze für eine Europäische Union wären. Deutschland, zunächst unvermeidlich ganz entmachtet, könnte dann in eine solche Union hineinwachsen. Für WiederIdentifikation und gute Nachbarschaft wäre das der hoffnungsvollste Weg. Darauf, daß dies dann auch gelingt, muß man aber bedacht sein, daß drastische Grenzrevisionen auf Kosten Deutschlands da nichts Gutes für die Zukunft bringen würden. Meine Hoffnung war, daß entgegen den Ansichten von Jozef Winiewicz, auf polnischer Seite die Konzeption eines starken Polens in einer Europäischen Union, aber letzten Endes eben unausweichlich als guter Nachbar eines reformierten, demokratischen Deutschlands Anklang finden könnte. Ich sprach häufig mit Ludwik Berger über mein Thema, er verstand das gut. Außerhalb des Zirkels, in dem wir uns trafen, hatte er auch Verbindungen zu Kreisen der Londoner Exilsregierung. Mein Entwurf für ein Memorandum wurde ganz umfangreich, ich gab es ihm zu lesen, aber er kam zurück und fand, es sei für die damalige Lage viel "zu liberal" und würde seine Wirkung verfehlen. Ich hatte es auf deutsch geschrieben, weder mein Polnisch noch damals mein Englisch waren gut genug, ohne diesen Umweg auszukommen, ich hätte es noch übersetzen lassen müssen. Die "damalige Lage" hatte sich in diesen Wochen ganz entscheidend geändert, schwerwiegendst durch den Einfall Hitlers in die Sowietunion am 22.Juni 1941. Es war eine Überraschung, eine, meiner Ansicht nach, nicht rational erklärliche Entscheidung Hitlers. Auch dabei machten also seine Generäle mit. Da hatten Hitlers Gegener gewartet, daß Rußland und die Alliierten sich doch noch zusammenfinden, jetzt sorgte Hitler selbst dafür. Die Chancen, daß der Krieg gegen Hitler nicht nur in ein stalemate verwandelt, daß er auch gewonnen werden könnte, schienen nun weit besser. Die ersten Nachrichten von der russischen Front waren allerdings beängstigend, es war furchtbar von dem neuen riesigen Blutvergießen zu hören, das Hitler da angefangen hatte. Näher, im Mittelmeerraum, hatten die Deutschen aber vorher nicht nur Kreta erobert, auch in Nordafrika waren sie unter Rommel bis an die ägyptische Grenze vorgestoßen und stellten eine akute Bedrohung dar. Auf Cypern fühlten sich nach dem Fall Kretas alle bedroht, die Grund hatten, vor Hitler zu fliehen, und die britische Regierung veranlaßte ihre Evakuation, mit ihnen auch die Familie Weingrün. Es handelte sich aber um eine sehr viel umfangreichere Aktion für polnische Flüchtlinge, denn die britische Regierung hatte früher 500 polnische Flüchtlinge aus Rumänien nach Cypern evakuiert, wobei es sich um die im Falle einer deutschen Besetzung Rumäniens politisch am meisten bedrohten Personen handeln sollte. Die polnische Exilregierung in London war unter General Sikorski als breite Koalition aller der Parteien von den Nationaldemokraten bis zu den Sozialisten entstanden, die sich in Opposition gegen die Sanacjagruppierung um Pilsudski gehalten hatten. Deren Anhänger wurden von der Exilregierung so gut wie ausgeschlossen. Dafür wurden sie vornehmlich berücksichtigt, als die Liste für die Evakuation von 500 Flüchtlingen nach Cypern aufgestellt wurde. Die eigenen Anhänger wollten die Parteien der Exilsregierung lieber in wichtigere Zentren bringen. Lotte und ihre Familie wurden nun bei ihrer Evakuation von Cypern dieser polnischen Cyperngruppe angeschlossen. Für mich wurde es eine sehr bewegende Veränderung, daß ich jetzt Lotte und ihre Familie wiedersehen sollte. Die erste Station der Evakuierung sollte Palästina sein. Zygmunt Weingrün wurde bei Landung gleich zur polnischen Armee eingezogen, er hatte einst seinen Armeedienst gemacht. Er war nicht der einzige, die Gruppe war also kleiner geworden, es hieß bald, die Engländer würden sie nach Nordrhodesien weiterevakuieren, um die Zahl der polnischen Flüchtlinge in Palästina nicht weiter anschwellen zu lassen. Unerwartet stellte sich für mich nun dieselbe Frage. Ich hatte beantragt, auf die Liste der polnischen Kriegsflüchtlinge gesetzt zu werden, die vorläufig in Palästina bleiben konnten und als Flüchtlinge betreut wurden. In Istanbul hatte ich nur im polnischen Konsulat einen neuen Paß bekommen und mich dabei auch zum Militär nochmals stellen müssen, wurde aber nicht genommen; es war nun wieder so. Dann kam Bescheid, für Kriegsflüchtlingsstatus könnten sie mich in Palästina nicht annehmen, aber mich als "War Evacuee" auf die Listen für den Transport der Britischen Regierung nach Nordrhodesien setzen. Das war eine frappierende Entwicklung, da Lotte und ihre Tochter auch dorthin gehen sollten. Ich entschloß mich dazu. Die Weiterreise nach Nordrhodesien schien gar nicht so populär bei manchen Mitgliedern der Cyperngruppe zu sein. Einige der zum Militär eingezogenen Männer hofften, ihre Familien könnten ihnen näher in Palästina bleiben, auch andere zogen das vor, es wurde nur in Ausnahmefällen erlaubt. Immerhin ergaben sich verschiedene freie Plätze in der Gruppe, unter den neu in Palästina hinzukommenden waren auch einige andere jüdische Flüchtlinge aus Polen. Alter und sehr gern wiedergesehener Bekannter aus Kattowitz war der Tierarzt Dr. Ignacy Mann, er hatte unterdeß eine rumänische Architektin geheiratet, und dann war dort das mir aus Kattowitz bekannte polnisch­jüdische Arztehepaar Berman. Lotte, die von Cypern her schon viele Bekannte in der Gruppe hatte, versäumte aber die Abreise der ersten Teilgruppe, Zyga wollte sehr, daß sie in Palästina bleibt. Vor der Abreise der weiteren Gruppe wurde sie krank, ich stieg allein in den Zug, ohne sie. Es war ein schmerzlicher Abschied gewesen. Der Transportleiter war Ing. K., Bekannter von Mersin und der Bridgepartie auf der Schiffsreise, und es war gut, daß Dr. Manns da waren. Einige Tage vorher war ich noch nach Jerusalem gefahren, um von Freunden Abschied zu nehmen. Franz Goldstein benutzte immer noch die Schreibmaschine, die ich ihm 1937 bei seinem Weggang von Kattowitz gegeben hatte. Nun borgte ich sie, um mir einige meiner Artikel aus der Wirtschaftskorrespondenz abzuschreiben. Ich dachte, da ich jetzt auch ein Flüchtling war und weit weg ging, könnte ich nicht jetzt die Maschine wiederhaben. Er hatte eine Redaktion in Jerusalem, ich dachte an mein Manuskript, an dem ich weiter arbeiten wollte. Er war sehr bestürzt, es ist doch sein Brot, sagte er, ohne diese Maschine wäre er vollkommen gelähmt. Ich habe sie dort gelassen. Eine Bekannte in einer Pension etwas außerhalb Jerusalems sagte mir, es wäre ein Verwandter von mir da, Dr. Erich Sachs, von der Berliner Konzertdirektion Wolf & Sachs, wir hatten uns nie kennengelernt. Der Weg zur Pension führte durch das Quartier Mea Shearim der Ultraorthodoxen Juden, noch heute oft erwähnt und umstritten, und so lernte ich noch einen weiteren Aspekt des jüdischen Palästinas kennen. Besucht hatte ich auch von Tel Aviv aus verschiedene genossenschaftliche Siedlungen, Moshaws, deutsch­jüdische Hühnerfarmen, aber zu einem Kibbutz brachte ich es damals nicht. Vor der Abreise hatte man natürlich versucht, etwas über Nordrhodesien zu erfahren. Geographische Nachschlagewerke mußten her, etwas Geschichte, aber Augenzeugen fanden wir nicht, es wurde doch weitgehend eine Reise ins Unbekannte. Reise nach Nordrhodesien Die Eisenbahnfahrt in Palästina ging vorüber an einigen Siedlungen, noch mit viel Grün, dann Wüste, bei El Kantara kamen wir an den Suezkanal und Grenzkontrolle nach Ägypten, britische Militärverwaltung. Meine Korrespondenz und andere Papiere wurden wieder eingehend geprüft, man nahm einige meiner Artikel aus der Wirtschaftskorrespondenz für Polen und den Entwurf für das Memorandum an die polnische Exilregierung weg, versprach, ich würde es später wiederbekommen. Ich war perplex, wie hatte man ausgesucht, welche meiner Artikel zu weiterer Prüfung mitzunehmen und welche mir zu belassen? Aber es gab genug, was einen zunächst jetzt beschäftigte. Der neue Zug, der uns nach Cairo bringen sollte, hielt auf einem Bahnhof, als Alarm wegen eines deutschen Luftangriffs ertönte. Schneller konnte es einem nicht klargemacht werden, daß man in Kriegsgebiet war. Es wurden ängstliche Minuten, umso mehr, als das Gerücht aufkam, der Zug, der neben unserem stand, sei ein Munitionszug. In Kairo kamen wir zunächst in ein Lager, ein Teil des Transports reiste weiter, aber das nächste Schiff mit Platz für unsere Restgruppe ging erst in einigen Wochen. Wir wurden ins Hotel Lunapark, gut gelegen in der Stadt, einquartiert. Natürlich bekam ich kein Einzelzimmer, ich mußte es teilen, mein Zimmergenosse war der Senator Rudolf Kornke, prominent in Oberschlesien als Vorsitzender des Verbands der polnischen Aufständischen. Als wenn sich das jemand ausgedacht hätte. Um mich klar zu identifizieren, habe ich gleich gesagt, wer ich bin, nämlich der Sohn meines Vaters, dessen Namen er ja gut kannte. Er war ein sehr ruhiger Mann nicht vieler Worte, aber mit sehr bestimmten Ansichten. Bei einer Unterhaltung über die Kriegslage, die Nachrichten von der russischen Front waren weiter schlecht, fragte ich, hätte der Eintritt Rußlands in den Krieg auf Seiten der Alliierten nicht die Aussichten auf eine Niederlage Hitlers entscheidend verbessert? Es entsprach der allgemeinen Stimmung. Nein, sagte Kornke, ohne den Eintritt der USA in den Krieg kann Hitler nie besiegt werden. Aber, meinte ich, Roosevelt hat ja schon die vollste industrielle Unterstützung für die gegen Hitler vereinigten Kriegspartner organisiert. Nein, sagte Kornke, das genügt nicht, nur Einsatz amerikanischer Truppen in Europa kann die Situation wenden. Es schien die nüchternste Analyse, die ich bis dahin gehört hatte. Die Japaner haben ja dann dafür gesorgt, daß es dazu kam. Als sie in Pearl Harbour angriffen, mußte ich an den Senator Kornke denken. Unseres war ein Turmzimmer, direkt unter dem Dach. Es gab damals auch in Kairo deutsche Luftangriffe. Bei einem Alarm, und es wurde ziemlich heiß, wollte ich ins Vestibül des Hotels gehen, wo in Mangel eines Luftschutzkellers sich die Bewohner versammeln sollten. Kornke bestand darauf, oben zu bleiben. Sind Sie wahnsinnig, sagte er, dort unten fällt das ganze Haus auf Sie, wenn wir getroffen werden, hier oben ist es vielleicht halb so schlimm. Er klang sehr überzeugend, ich blieb mit ihm oben, ungemütlich wie es wurde. Tagsüber sahen wir uns kaum, er hatte seine Kreise und Freunde, und ich hatte meine gefunden. Mit den Manns und anderen meistens jüdischen Evacuees machte ich Ausflüge zu den Pyramiden, auch den Ausgrabungen in Sakara, die Museen waren leider wegen des Krieges geschlossen oder sogar evakuiert. Man besuchte Moscheen in der Stadt, aber ich hatte auch noch meine eigenen, deutsch­jüdischen Kontakte. Otto Lilien war im Stab der Royal Air Force als Experte für Aerial Photography. Er nahm mich in den jüdischen Servicemen Club mit, ins Haus des FWV Bundesbruder Dr. Hermann Engel, als bekannter Orthopädischer Chirurg aus Berlin nach Kairo emigriert und dort sehr anerkannt, so war der Internist Dr. Rosenberg, den ich durch meinen Onkel Walter Oettinger in Berlin kannte. Ich ging in Synagogen, wie ich es auch in Istanbul und Palästina getan hatte, der sephardische Gottesdienst war schon vertraut geworden. Assimilation gab es, viele gute Bürger kamen mit Fez als Kopfbedeckung in die Synagoge. Man merkte sie aber auch sonst, es gab da reiche und vornehme Kaufmannsfamilien, deren Häupter den Paschatitel trugen und gute Beziehungen zum Königshof hatten. Dann sah ich Dr. Hans Nissel, verwandt mit Familie Landshut in Jerusalem, Verwandschaft unserer Sachs Familie. Er war deutsch­jüdischer Emigrant, Elektroingenieur, arbeitete in einer dieser jüdischen Firmen und wohnte mit seiner Familie im schönen Gartenvorort Madi. Es waren viele Engländer da, zum ersten Mal kam ich mit ihm auf einen Bowlinggreen. Er war auch ein passionierter Cellospieler, ich sah so auch Leben in Kairo von angenehmster Seite. Aber der Krieg war furchtbar nahe, die Nazis machten nicht nur Luftangriffe, sie waren vor der Tür, und der König, der es mit den Engländern hielt, im Lande stark umstritten. Die Britische Armee und ihre Verwaltung war überall sichtbar. Es war ein eindrucksvoller Apparat, der da zur Verteidigung Ägyptens und des Mittleren Ostens aufgebaut wurde. Die polnische Armee, die im mittleren Osten gebildet wurde, war auch dabei, mein Schwager Weingrün war damals bei Tobruk stationiert, ich habe ihn während unseres Aufenthalts in Kairo nicht sehen können. Es kamen dann die Tage, wo wir stündlich auf den Befehl zur Weiterreise warteten. Es sollte ein nächtlicher Konvoy zur Hafenstadt Suez sein, sobald ein Schiff zur Abfahrt bereit ist, und es durfte dann niemandem gesagt werden, wann wir abfahren. Es konnte also gar keine Abschiede geben. Indem man selbst Abschied von Kairo nahm, wurde man nachdenklich. Jetzt hatte ich seit Kriegsbeginn vom altbekannten mitteleuropäischen Gebiet weg soviele alte Kulturstätten, Rom, Istanbul, Jerusalem und Kairo gesehen, und nun ging es wirklich weit weg, ins Innere Afrikas, wie mir schien. Aber auch der Besuch in Kairo war ganz unter dem Zeichen des Krieges, die Sorge, wie er weiter geht, und um all die Lieben, die weiter in großer Not oder Bedrohung waren, die Mutter in Rußland. Von Marianne hatte man nur Rotkreuznachricht, sie war unter Naziokkupation in Guernsey gekommen, und soviel Familie doch noch in Deutschland, Beuthen, Breslau und Berlin zurückgeblieben. Man fuhr schweren Herzens in die unbekannte neue Welt. Der Konvoy fuhr mit viel Vorsicht durch die Wüstennacht, in Suez erwartete uns die "New Amsterdam", größtes, neugebautes holländisches Passagierschiff gewesen, jetzt von den Alliierten als wichtiges Truppentransportschiff benutzt. Unsere polnische Evacuee Gruppe war zusammen untergebracht, aber in den allgemeinen Räumen traf man sich mit vielen Soldaten, die das Gros der Passagiere waren. Die meisten waren Urlauber, viele auch aus Südafrika. Das wurde also gleich ein Hauch der neuen Welt, in die wir reisten. Gleich auf den Anfang der Reise fiel das jüdische Neujahrsfest. Einige in unserer Gruppe legten Wert darauf, ich tat es auch, und so war es auch bei einigen der Soldaten und Offiziere aus England und Südafrika, es gab einen gut besuchten Gottesdienst. Natürlich gab es dann auch viele Unterhaltungen über Leben in Südafrika, wie war es im Vergleich dazu in Nordrhodesien, wollten wir wissen. Es war aber niemand da, der wirklich dort gewesen war. Auch die Schiffsreise stand ganz unter Vorsicht vor dem Feind, nicht nur das Rote Meer, auch der Ozean bis nach Süden hinunter galt als bedrohtes Gewässer. Wir erfuhren, daß das Schiff uns nach Durban bringen und wir von dort ohne Aufenthalt mit dem Zug nach Nordrhodesien fahren würden. Die Reise nach Durban dauerte wohl etwas über zehn Tage, das kann ich noch gut schätzen, denn der letzte Tag der Reise war der Versöhnungstag, es gab wieder Gottesdienst und ich fastete, aber aß noch das letzte frühe Abendbrot, bevor wir in Durban landeten. In Afrika gelandet Eine nächtliche Zugfahrt sollte unsere Gruppe zunächst von Durban nach Johannesburg führen. Dort hatten wir einige Stunden Aufenthalt. Ich wußte, dorthin waren die Verwandten Mia Weissenberg und Kurt Koenigsfeld emigriert und die Freunde Hans Kunz mit Frau Margot, deren Eltern und ihr Bruder Ernst Koenigsfeld (EK). Ich hatte die Adresse von Kunz, alle kamen schnell auf den Bahnhof, mich zu sehen, ich war ja von soviel näher ihrer Heimat frisch angekommen. Sie wollten viel von mir hören, aber es war auch schon Monate her, daß ich von Kurts Schwester Erika Schlesinger aus Beuthen vor meiner Abreise aus der Türkei noch gehört und Kurt nach Pretoria darüber geschrieben hatte. Es wurde ein sehr bewegtes Wiedersehen, dann ging der Zug mit unserer polnischen Evacuee Gruppe weiter nach Bulawayo im damaligen Südrhodesien. Ich bekam noch die Adresse von Franz Schalscha, ursprünglich aus Kattowitz, der zu den dort eingewanderten deutschen Emigranten gehörte. Wir mußten dort den Zug wechseln, mit mehreren Stunden Aufenthalt konnte ich mich bei den Schalschas melden, wurde sehr herzlich begrüßt und hatte nun einen freundschaftlichen Kontakt in Bulawayo, der Stadt, die für das ganze damalige Nordrhodesien die nächste "Metropole" war, zu der Eisenbahnverbindung bestand. Die ging über die Viktoria Falls, erste vorüberfahrende Begegnung mit diesem großen Naturschauspiel, und dann Livingstone, unser erster Halt in Nordrhodesien. Auf dem Bahnhof erste Neugier, man trifft einen Transportunternehmer, der Taxis hat, Furmanovsky, Jude, das gibt es also auch. Einige von unserem Transport waren dort platziert worden und stiegen aus. Ein Teil unserer "Cypern Gruppe" war ja schon vorher angekommen, auf verschiedene Orte in Nordrhodesien verteilt worden, meist nicht in Lagern, sondern in Hotels, und unsere Gruppe wurde auf diese Orte nun auch verteilt. Ich aber kam zu einer kleinen Gruppe, etwa zwölf, die auf einer Farm 15 Meilen von dem Ort Monze wohnen sollten. Auf der Reise hatte uns von der nordrhodesischen Regierung aus Major McKee, ein Geschäftsmann aus der Hauptstadt Lusaka begleitet, der dem Parlament (Legislative Council) angehörte und uns nicht nur empfangen, sondern auch beraten wollte. Es hieß, natürlich wird arbeiten können, wer eine Stellung finden kann. Ich verwies weniger auf meinen nationalökonomischen Doktor, als mein Diplom Kaufmanns Grad, mit Betonung auf Buchhaltungskenntnisse; er meinte, wenn das so etwas wie ein Chartered Accountant wäre, dann würde ich bestimmt gleich eine Stellung finden. Nordrhodesien war eine britische Kronkolonie, deren Verwaltung und Beamte dem Colonial Office in London unterstanden. Im Norden hatte sich bedeutender Kupferbergbau entwickelt, der die Kolonie kriegswichtig machte. Neben Kupfer, Zink und Blei fielen auch Kobalt und Vanadium an. Der Farmer H.L. Savory erwartete uns an der Station Monze, wo auch eine größere Gruppe ausstieg, die dort im Hotel untergebracht wurde. Die Farm der Familie Savory war schon alt und für nordrhodesische Begriffe ehrwürdig, ursprünglich vom Vater Savory angelegt, einstigem Landvermesser der ersten englischen Kolonialregierung Nordrhodesiens. Man hatte für uns sogenannte Rondavels (9) errichtet, ich bewohnte eins allein. Im alten Farmhaus hatte unsere Gruppe ihr Eßzimmer und Aufenthaltsräume mit sehr schönem Garten, eine lange Allee mit riesengroßen alten Bäumen führte vom Farmhaus des jetzigen Farmerehepaars Savory zu unserem kleinen Evacuee Compound. Von meinen Freunden und Bekannten in unserer Reisegesellschaft hatte ich mich in Monze verabschieden müssen, von der kleinen Gruppe auf der Farm Savory kannte ich niemanden, es waren zum Teil etwas schwierige Leute, aber ich kam gut aus. Die Farm war für unsere Begriffe riesengroß, hatte einen Viehbestand von etwa 2000 und großen Maisanbau. Die Schwarzen wohnten mit ihren Familien in Dörfern um die Farm, zu der sie zur Arbeit kamen. Natürlich war bei der Ankunft in Afrika diese Frage, wie es mit den Schwarzen stand, ein Hauptgegenstand meines Interesses. Ich erinnerte mich an ein Buch, wohl etwa 1931 verfaßt, des damals sozialdemokratischen Geographen Walter Pahl, der die Frage der Schwarzen in Afrika als ein kritisches Problem der nahen Zukunft beschrieben hatte. Ich selbst hatte ja einmal diesen Seminarvortrag über die Zukunft des Britischen Empires halten müssen, aber da schienen etwaige Probleme auf den zentrifugalen Tendenzen in einigen weißen Dominien und Indien, und nicht so stark auf der Frage der Schwarzen in afrikanischen Kolonien zu liegen. Pahl hat das wenig später mit Blick auf Südafrika anders dargestellt. Es war eine ganz neue Begegnung für mich, nun inmitten dieser Fragestellung zu leben, und da waren rein menschlich nun auch die ersten Kontakte mit Schwarzen, zunächst einfach zu den Bediensteten, die für unsere Gruppe in dem kleinen Evacuee Compound beschäftigt wurden, oder dann auch die Hausangestellten des Ehepaars Savory oder Arbeiter auf der Farm. Die sechs Monate dort waren eine gute Einführung ins Leben in Afrika (10), seine Reize als Gegensatz zum Leben in Europa, viele seiner Probleme, Leben mit englischen Menschen in den Kolonien. Mein Englisch verbesserte sich entscheidend, ich hatte soviel Zeit dafür und viel Verständnis und Hilfe von den Savorys. Mit einigen aus unserer Gruppe, die auch etwas Englisch konnten, hielten wir engen Kontakt mit der Farmer Familie, spielten auch Bridge dort oder sollten sie zum "Sundowner" besuchen. Das waren die abendlichen "Drinks" bei Sonnenuntergang, eine typisch koloniale Sitte, wurde mir gesagt, man mußte um die Zeit seine Chininpillen nehmen, und dazu mußte man natürlich etwas trinken. Die Pillen mußte ich auch nehmen, aber bekam trotzdem bald meine erste Malaria. Als Tageszeitung brachte die Post das "Bulawayo Chronicle" mit kurzer Verspätung, auch gab es die "Sunday Times" aus Johannesburg, aber für wirkliche tägliche Nachrichten versorgte uns die BBC. Man konnte sich, wie es die Savorys taten, Bücher aus den guten Beständen der öffentlichen Bibliothek in Bulawayo kommen lassen. In diesen sechs Monaten wurde ich in meinem Rondavel, es hatte eine typische hohe Decke, die auch das Dach war, aus Gras, ein unermüdlicher Leser, natürlich nur englischer Bücher, viel Anthropologie, das war ja ein sehr aktuelles Interesse in der neuen Umgebung, aber auch alle politischen Fragen, die mit Afrika oder dem Kriegsgeschehen und seiner Vorgeschichte zu tun hatten. Es war ein großes Programm, aber bald nahm ich auch wieder mein Memorandum über das erhoffte Nachkriegseuropa zur Hand. Ich weiß nicht mehr, wieviel mir davon nach der Grenzkontrolle am Suezkanal noch übrig geblieben war, ich bekam meine Papiere von dort nie zurück, ich machte wohl eine ziemlich neue Fassung jetzt, konnte eine Schreibmaschine der Savorys dazu benutzen. Ich konnte es doch vorläufig erst in Deutsch schreiben, ein früherer polnischer Richter jüdischer Herkunft hatte zugesagt, es mir ins Polnische zu übersetzen, es kam aber nie dazu. Im April 1942 fing ich dann an, in der Wirtschaft des "Copperbelt" zu arbeiten, und da gab es neue Prioritäten. Auch wurde dann klarer, daß mein Bild einer Europäischen Union mit Rußland ruhig hinter seinen alten Grenzen sitzend, kaum den Realitäten entsprechen würde. Ich hatte es so erhofft, als beste Sicherheit nach dem Kriege für alle, ich hatte beiseite geschoben, daß am 17. September 1939 ich ja so spontan und panisch auf den russischen Einmarsch in Ostpolen mit der Vermutung reagiert hatte, sie würden erst am Rhein Halt machen. Durch die polnische Vertretung in Lusaka erhielt man auch regelmäßig die in London erscheinende Exilpresse und Literatur. Als wir in Nordrhodesien ankamen, gab es dort eine Welle von Sympathie für die Russen, die unter den heftigen Angriffen Hitlers verzweifelt kämpften, und man konnte sich dem gar nicht verschließen. Für mich kam noch das Gefühl dazu, daß meine Mutter nun in deren Obhut war, durch die Deportation vor den Nazis gerettet. Die Freunde, die in Lemberg blieben, waren den Nazis in die Hände gefallen, die ja in von den Russen eroberten Gebieten sofort mit systematischen Massenmorden begannen. Die Lage der polnischen Flüchtlinge in Rußland dagegen hatte sich langsam verbessert. Die Sowjetregierung erkannte die polnische Exilregierung in London an, es wurden Vereinbarungen über Bildung einer polnischen Armee in Rußland aus dort befindlichen Flüchtlingen getroffen, dann aber Pläne für deren Evakuation über Persien in den Westen gemacht. Meine Mutter konnte zusammen mit den alten Weingrüns und Töchtern Andzia und Irene aus der Internierung in Marijskaja auf langem Weg zunächst in die provisorische Hauptstadt Rußlands in Kuybishew auf der Wolga fahren, wo auch die englische und polnische Botschaft waren. Meine Mutter erhielt dort im Oktober 1941 einen neuen Paß und ihr englisches Visum, dann fuhren sie weiter nach Uzbekistan, von wo manche polnischen Flüchtlinge dann über die Grenze nach Persien gehen konnten. Besonders diejenigen, die Angehörige in der polnischen Armee hatten, bekamen dazu die Erlaubnis. Obwohl mein Schwager in der polnischen Armee in Egypten diente und meine Mutter ein Visum nach England hatte, wurde sie in keinem der polnischen Transporte mitgenommen. Auch vorsorgliche Bitten um Hilfe bei der polnischen Regierung in London hatten nicht geholfen. Der Vater Weingrün war unterwegs in Taschkent gestorben. Als meiner Mutter die Ausreise verweigert wurde, blieben die alte Frau Weingrün und Tochter Andzia mit ihr zusammen in Uzbekistan in der Stadt Kermine zwischen Bokhara und Samarkand. Für viele ein Land märchenhafter Erzählungen, aber sie haben dort sicher in großem Elend leben müssen. Meine Mutter ist dort am 30.November 1942, wie man mir später sagte, an Typhus gestorben. Der Taschenkalender, den sie seit 1939 führte, hat sich erhalten, da steht noch unter den Adressen "Mein geliebter Walter c/o Savory Monze Northern Rhodesia", also daß ich in Nordrhodesien gelandet war, hat sie noch erfahren, hoffentlich auch noch Briefe von mir gehabt. Über ihren Tod hörte ich erst im April 1943 von Lotte aus Tel Aviv, es war eine tragische Botschaft, sehr großes Leid. Damals war ich schon ein Jahr lang weg von der Farm bei Monze und arbeitete im Copperbelt. Als es in meinen ersten Monaten auf der Farm diese Welle der Sympathie für das mitkämpfende Rußland gegeben hatte, wurde zu Spenden aufgefordert durch eine Gesellschaft der Freunde Rußlands, und ich gab eine kleine Spende, die Savorys fanden das richtig, sie hatten es auch getan. Wie das aber schon mehrmals gewesen war, dann gab es wieder Nachrichten über die abstoßenden Züge des dortigen Regimes, es kam eine, die bei mir wieder eine entschiedene Abwendung brachte. Zwei Führer des jüdisch­sozialistischen "Bund" aus Polen, Alter und Ehrlich, die auch als Flüchtlinge in Rußland waren, wurden nach einem Prozeß erschossen. Ich hatte die Nachricht in der polnischen Exilpresse gelesen. Diese Sowjets waren immer wieder die alten. Wer für Ansichten stand, die nicht 100% Konform waren, mußte umgebracht werden. Man konnte sich nur abwenden, was für eine Tragik. Es hieß nichts Gutes für die Zukunft. Mein Vetter Herbert hatte Verbindungen zu den zwei großen Bergbaukonzernen, die in Nordrhodesien Gruben besaßen, da sie ja auch Kobalt bzw. Vanadium produzierten. Es gab keine Vakanz bei Anglo­American, aber durch Ronald Prain bekam ich eine Stellung bei Mufulira Copper Mines, ging April 1942 dorthin, fing an im Magazin zu arbeiten. Der Chefarzt aber fand, daß mein Röntgenbild Silikosisverdacht (Steinstaublunge) zeigte. Es war gegen die Politik der Grubengesellschaften, Silikosisverdächtige anzustellen. Ich fand eine andere Stellung im Copperbelt bei Northern Caterers, die alle Hotels und Bäckereien dort betrieben. Abgesehen von einigen dienstlichen Zwischenaufenthalten in Kitwe und Luanshya blieb ich in Mufulira, mit wechselnden Stellungen allerdings, bis Anfang 1947. Dort habe ich dann also auch den weiteren Verlauf der Kriegsjahre miterlebt. Es waren dieselben Zeitungen wie in Monze, ich wurde auch Abonnent der "Time". Radioempfang war gut, man blieb doch ganz gut informiert, außer der polnischen Exilpresse sah ich manchmal das deutsche Emigrantenblatt "Aufbau" aus New York. Ich teilte alle diese Erlebnisse mit den etwa 2000 Europäern (10) in Mufulira. Die Mehrheit waren die Englischstämmigen, darunter manche Bergleute aus Yorkshire oder Wales, viele Beamten der Grube, auch Südafrikaner, englische oder Buren, auch einige jüngere ostjüdische Einwanderer und sephardische Juden aus Rhodos und drei andere von den polnischen Evakuees, zwei Juristen und ein Bankdirektor; wir hielten engen Kontakt. Von den nicht zur Grube, sondern wie ich zur kommerziellen Township gehörigen, wurden zu engsten Freunden die Familien Mohrer und Messerer aus Frankfurt und zwei Familien Illion aus Libau. Es gab eine sehr ungezwungene Gesellschaft, viel angeregte Unterhaltung und auch Meinungsverschiedenheiten. Zu den jüdischen Feiertagen gab es kleine Gottesdienste, erst im Hause Mohrer, schließlich wurde eine jüdische Gemeinde gegründet und sogar eine schöne, nicht zu große Synagoge gebaut. Es waren doch etwa 100 Mitglieder. Die Begeisterung besonders des jungen Messerers war inspirierend. Schließlich war ich auch im Vorstand, als Kassierer. Der Verlauf des Krieges gab mehr Zuversicht, daß er mit einem Sieg der Alliierten über Hitlers Axismächte enden würde. Es gab immer noch viel Ungewißheit, so im Fernen Osten und den U­Bootkrieg, aber in Nordafrika und an der Ostfront hatte es doch deutliche Fortschritte gegeben. Zwei große Felder von Sorgen zeichneten sich ab. Das eine war das Schicksal der jüdischen Bevölkerung, die in Hitlers Hand gefallen war. Man wußte über die Vorgänge in den Anfängen der Besetzung Polens, hatte immer wieder von dort gehört. Mit dem Eindringen der Deutschen in Rußland waren noch schrecklichere Nachrichten über systematische Ausrottung der dortigen jüdischen Bevölkerung gekommen. Eines Tages kam die Nachricht, daß aus dem polnischen Untergrund Berichte nach London gekommen waren über den Beginn von systematischen Vernichtungsaktionen auch im besetzten Polen. Die Meldung kam in sehr eindringlicher Form, nämlich daß der Abgeordnete im polnischen Exilparlament in London, Schmuel Zygielboim, sich aus dem Fenster gestürzt und das Leben genommen hatte, aus Protest dagegen, daß es keine wirkliche Reaktion auf diese Todesberichte aus Polen gegeben hatte. Sein Selbstmord wurde verschiedentlich von der Presse berichtet, aber die polnische Exilpresse gab ihm natürlich das weiteste Profil. Sein Name als Führer des jüdischen "Bund" war mir ja von der Besetzung Warschaus her vertraut. Er hatte zu den zwölf Geiseln gehört, die für die Zeit der Übernahme den Deutschen vom polnischen Verteidigungskomitee hatten gestellt werden müssen. Er war dann entkommen und nach Aufenthalten in Brüssel und New York 1941 nach London gelangt. Es war eine erschütternde Nachricht zu einer Zeit, als das Vernichtungslager Auschwitz mit seinen Cyclon B Anlagen noch nicht bekannt war. Lager wie Treblinka wurden aber schon erwähnt. Man hörte auch von Deportationen aus Holland und Frankreich und es gab so viele, um die man sich persönlich Sorgen machte, eben auch die Schwester Marianne. Es schien nichts zu geben, was von alliierter Seite getan werden konnte, auch nicht nach dem großen Signal, das Schmuel Zygielbojm als Protest des jüdischen Volkes gesetzt hatte. Das andere Problem, auf das man zunehmend aufmerksam wurde, waren die sich abzeichnenden Interessengegensätze zwischen den Anhängern Rußlands und seines kommunistischen Regimes und den anderen Gegnern Hitlers. Da war nicht nur die wachsende Antipodie Rußlands gegenüber der polnischen Exilregierung in London, mit der sie schon April 1943 die Beziehungen abbrachen und dann zur Bildung einer eigenen polnischen, kommunistisch geführten Exilregierung in Rußland schritten. Es war auch die Entwicklung in Jugoslawien, die einen beunruhigte. Die von Moskau unterstützten Antihitlerguerillas Titos machten bald bessere Fortschritte als die den alten jugoslawischen Regimes treuen Guerillas Michajlowiczs, gegen die auch zu kämpfen den Gruppen Titos gar nichts ausmachte, im Gegenteil, dieser Kampf schien genauso ihr Ziel zu sein wie der Kampf gegen Hitler. Das war auch wieder beängstigend. Auf alliierter Seite war die Entschlossenheit zur siegreichen Beendigung des Krieges absolut vorherrschend, daher hat auch die englische Regierung Churchills dann Tito aktiv unterstützt, weil es die besseren Chancen für baldige Beendigung des Krieges zu bieten schien. Mit den polnischen Evacuee Freunden in Mufulira teilte ich stark die Besorgnisse, die man für die künftige Gestaltung der Dinge in Polen deswegen haben mußte. In diesen Jahren waren für mich die Sylvesterabende immer ein Anlaß für wehmütige Erinnerungen an das zu Hause, die Eltern, und alles, was so vollkommen untergegangen zu sein schien. Es gab immer Feiern im Freundeskreis, einmal, wohl 1943/44 war es bei den jungen Illions gewesen. Danach hatte ich eine so besonders starke Erinnerung an diese Abende einst zu Hause, und ich sah vor mir auch das Bild des Dr. Hans Lukaschek, der ja einige Male Gast bei uns zu Hause an Sylvesterabenden gewesen war. Es war beinahe wie eine Vision, und ich erinnerte mich an die spätere Begegnung in Breslau, als ihm die Tränen über die Backen liefen wegen der Verhältnisse in Deutschland unter Hitler. Wo war das alles, gab es solche Leute noch in Deutschland, fragte ich mich dann gerade in dieser Sylvesternacht im fernen Mufulira. Das nächste Jahr 1944/45, die Illions waren von Mufulira weggezogen, beging ich den Sylvesterabend bei mir zu Haus mit den zwei Polen Notar P. und Bankdirektor D. als meinen Gästen. Mein Hausgehilfe und Koch Moffat hatte eine schöne Ente bereitet, wir tranken südafrikanischen Rotwein, es war ein nachdenklicher und sorgenvoller Abend. Eine Radiorede des neuen Premiers der polnischen Exilregierung in London Mikolajczyk wurde von der BBC übertragen. Die Russen hatten im Juli 1944 das Moskauer polnische Komitee als polnische Regierung anerkannt; als die mit der Londoner Regierung zusammenarbeitende polnische Untergrundarmee und die Bevölkerung eine Aufstand in Warschau gegen die Deutstschen machten, verweigerte die nahestehende russische Armee jede Unterstützung und erlaubte den Deutschen diesen Aufstand blutig zu liquidieren. Trotz Luftunterstützung von den westlichen Alliierten kam es dazu. Grund für uns an diesem Tag zu düsteren Erwartungen. Für mich waren das nicht nur Gedanken an Polen und meine oberschlesische Heimat, ich fühlte, wenn die Alliierten sich nicht stark machen, eine wirkliche Unabhängigkeit Polens zu schützen, dann ist das ein schlechtes Omen für das zukünftige Bild Europas. Da war ich von den Ideen meines Memorandums noch nicht weggekommen. Ich habe damals wegen meiner starken Gefühle für die Interessen der Polen gegenüber russischen Vormachttendenzen viele Argumente mit meinen jüdischen Freunden und Anfeindungen von Fernerstehenden gehabt. Es war da ganz allgemein, einfach wegen vermeintlichem besonders großem Antisemitismus der Polen, ein starkes Vorurteil zugunsten der Sowjetunion bemerkbar. Unter den ostjüdischen Minenarbeitern gab es einige, die stark kommunistisch eingestellt schienen, es gab aber auch revisionistisch­zionistische, alle etwas rabiater Disposition. Von den Linksstehenden wurde mir ausgerichtet, wenn mein Freund P. nicht mit seinen besorgten polnischen, d.h. antirussischen Ansichten zurückhält, dann könnte ihm eines Tages untergrund etwas passieren. Das möchte ich ihm doch bitte sagen, es sei ernst gemeint. Ich war konsterniert, so eine Drohung von Leuten, die der Gesellschaft der Freunde Rußlands nahestanden. Sie hatte einmal eine Versammlung gehalten mit Rednern aus Südafrika, zufällig saßen sie im Hotel am Nebentisch, daher habe ich mir die Namen so gemerkt, es waren die Advokaten Abraham Fischer und Zwarenstein. Man hat die Namen dann oft in Südafrika gehört. Die Yaltakonferenz einige Wochen nach unserem Sylversterabend gab den Russen weitgehende Handlungsfreiheit gegenüber der Londoner Exilregierung Polens. Es gab zwar Versprechen demokratischer Verfassungen, man konnte hoffen gegen alle Anzeichen, aber im Grunde genommen zeichnete sich eben ab, wozu es dann kam, die Zweiteilung Europas. Der Putsch gegen Hitler am 20.Juli 1944 war gescheitert, der Putsch, den die deutsche Heeresleitung allerspätestens nach Stalingrad hätte machen sollen, hatte nie stattgefunden. Die Alliierten hatten die bedingungslose Kapitulation Deutschlands schon 1943 als Ziel formuliert. Es wurde klar, die Russen würden vorrücken bis zu Linien, die man vereinbart hatte, und was hinter ihren Linien sich politisch gestalten würde, darüber sollte man keine Illusionen haben. Ein anderes Thema heftiger Diskussion mit den jüdischen Freunden war die Entwicklung in Palästina. Für mich war die Verfolgung zionistischer Ziele ohne Rücksicht auf bestehende arabische Interessen nicht vorstellbar. Eine alte Dame wies mich zurecht, sie war nicht nur eifrige Zionistin sondern auch sozialistisch eingestellt gewesen. Sie sagte, die Interessen der Araber, das wären doch nur feudalistische Interessen, sehen Sie sich doch ihre Gesellschaftsordnung und Rückständigkeit an, Palästina kann doch nur gewinnen durch einen zionistischen Staat. Gewiß, ich dachte an manches, was ich gesehen, und Rückständigkeit war schon da, aber schon 15 Jahre vorher hatte ich Hans Kohns Buch "Nationalismus im Vorderen Orient" gelesen, das hatte ein ganz anderes Bild der nationalistischen Bewegung der Araber gegeben. Im Argument über Polen und die Sowjetunion hat sich seitdem das Blatt sehr gewendet. Manche meiner Freunde von damals habe ich wiedergetroffen, sie haben mir unterdeß Recht gegeben. Nicht ganz so ist es mit dem Argument über zionistsiche Ziele, unterdeß also den Staat Israel. Dabei hatte ich damals auch nach dem Weggang von Palästina keineswegs meine Sympathie aufgegeben, war auch dem Zionistischen Verein in Mufulira beigetreten, sogar sein Sekretär geworden, lernte einige der südafrikanischen aktiven Zionisten kennen, aber auf meine grundlegenden Vorbehalte bin ich immer wieder zurückgekommen. Um noch einen kurzen Blick auf meine berufliche Tätigkeit zu werfen, Northern Caterers hatten mich zunehmend als Vertreter für abwesende leitende Leute verwendet, auch in Kitwe im Hauptbüro der Gesellschaft. Dort war wieder der Freund Wasserberger, als Neuankömmlinge das jüngere Ehepaar Banasz, die in Polen nahe uns in Bendzin gelebt hatten, er war Ingenieur, erfahren in Zinkweißproduktion. Sie waren intelligente und anregende Gesellschaft dort. Ich verließ meine Firma, denn ich hatte mich dort in Abwesenheit des befreundeten Schulmanns von seinem Boss aus Bulawayo zurückgesetzt gefühlt, und fand gleich eine neue Stellung bei den griechischen Unternehmern Tatalias & Samaras in Mufulira, wo ich die administrative Seite zu betreuen hatte. Sie waren Kontraktoren mit Holzwirtschaft, Ziegelei und hatten ein Fleischgeschäft, das aber bald von der größeren Firma Werner & Co. übernommen wurde, die mir bei sich eine ähnliche Stellung anboten, und dort habe ich dann bis Anfang 1947 gearbeitet. Die Firma hatte die Verträge für die Fleischversorgung der großen Mufulira­ und Luanshya­Minen. Ich hatte als Dienstwohnung die Hälfte eines Zweifamilienhauses, aber noch keine Familie, hatte mir ein Auto gekauft. Als nach Kriegsende der Leiter der Firma auf Urlaub nach England ging, übernahm ich die Vertretung und bekam als Dienstwagen einen großen Ford Mercury, also ich brauchte mich gar nicht zu beklagen. Die Arbeit hat mich auch interessiert. Diese Viehwirtschaft hatte schon ihre anregenden Seiten. Es handelte sich um große vertragliche Verpflichtungen. In diesen halbtropischen Gebieten konnte Vieh nur in bestimmten krankheitsfreien Zonen gehalten werden. Das Vieh für den Copperbelt mußte zum Teil über große Entfernungen z.B. aus Bechuanaland (heute Botswana) herangebracht werden, dazu über den Zambesi Fluß getrieben und dann auf dafür gekauften Ranchen vorübergehend gehalten werden. Der energische Junior Partner der Firma war Harry Wulfsohn in Livingstone, ein sehr begabter junger Mensch, mit dem ich gut auskam. Er war zu mir ausgesprochen freundschaftlich. Es war verabredet, daß ich als Nebenbeschäftigung weiter die Bücher des Kontraktorgeschäfts meiner griechischen Freunde führen konnte, es gab sogar noch einen Bauunternehmer in Mufulira, für den ich das auch tat, ich habe also sehr hart dort gearbeitet. Man fühlte sich auch wohl. Der VE Day und wie sich Dinge, wo ich in Europa her kam, zu gestalten schienen, machten eine Rückkehr nach Hause nicht ratsam. Als dauernde Lösung aber fand ich Nordrhodesien wohl doch nicht richtig, weder für meine beruflichen Ambitionen noch die kulturellen Interessen. Ich ging zunächst einmal im September 1945 auf Ferien nach Johannesburg und fand Atmosphäre und Leben dort sehr angenehm. Unter den Verwandten, die ich auf der Durchreise im Oktober 1941 auf dem Bahnhof wiedergesehen hatte, war Mia, nun Mary, Weissenberg, unterdeß mit Herbert Priebatsch verheirat. Sie hatten einen Sohn Norman, Kurt Kingsfield war verheiratet mit Violet. Was 1941 noch gemeinsame Besorgnis war um die Familie, die unter Hitlers Gewalt zurückblieb, nun war es Trauer und unbeschreiblicher Schmerz, manchmal auch noch Ungewißheit und Warten auf weitere Informationen. Volles Begreifen, was die Nationalsozialisten mit der jüdischen Bevölkerung getan hatten, die ihnen in die Hände fiel, kam ja doch erst nachdem alliierte Truppen diese Gebiete Europas befreit hatten. Die Geographie dieser Vernichtungsgreuel nahm langsam Gestalt an vor den Augen der Welt. Da waren die Berichte über Lager wie Bergen­Belsen, Buchenwald und andere, dann über Auschwitz und Birkenthal, so nah bei Kattowitz, und man hörte immer mehr über die Vernichtungslager weiter in Polen. Mary und Kurt waren sicher, die Familie, die sie in Beuthen zurückgelassen hatten, lebte nicht mehr, waren deportiert worden, Mary's Eltern und Großeltern, Kurts Schwester Erika und ihre Familie. Ich hatte von Marianne nichts mehr gehört, es war jetzt fünf Monate nach Kriegsende in Europa, sie war wohl nicht mehr am Leben. Hatte man noch, gegen alles Wissen, gehofft? Es gab ja einige wenige Überlebende, die sich hatten verbergen können. Es schrieb dann ihre Kollegin, Mary Edwards, von ihrem Arbeitsplatz in Guernsay. Marianne hatte ihr noch nach ihrer Deportation aus Frankreich 1942 geschrieben, sie war dann vom Sammellager Drancy im August 1942 nach Auschwitz deportiert worden. Solche Tragik des Schicksals, von den englischen Channel Islands zu dieser Greuelstätte, so nahe ihrem zu Hause, wo sie geboren war und aufwuchs, und wir alle waren schon lange weg (11). Von den in Berlin zurückgebliebenen Mitgliedern der Grünfeld Familie überlebte als einziger Hans Hirschel. Er hatte eine wundersame Rettung durch die mutige und aufopfernde Haltung und Tätigkeit von Maria Gräfin von Maltzan, die ihn verbarg und ihm das Leben retten konnte. Sie heirateten nach Kriegsende (12). Ich hatte auch bald Briefe von Hans Hirschel und nahm Anteil an dem Wunder seiner Rettung. Von den anderen Mitglieder der Familie waren die älteren Luzie Hirschel und Felix Benjamin nach Theresienstadt, die vier Kusinen, Kaiser und Epstein, nach dem Osten deportiert worden, Paul und Mimi Grünfeld nach Lodz. Sie kamen alle um. Walter Oettinger wurde, wie ich erst nach vielen Jahren feststellen konnte, im August 1942 zum Ghetto Riga als "Jude" durch die Gestapo Berlin "evakuiert, ein Todesnachweis...liegt nicht vor". Mein Vetter Hans Gerber war noch 1939 nach England emigriert, diente als Arzt in der englischen Armee, nach Indien und Burma gesandt als Antimalaria­ und Bilharzia Spezialist. Er blieb auch später ein Fachmann auf diesem Gebiet. Bald nach dem Krieg arbeitete er für UNRA auch in Europa, wußte, daß sein Bruder Wolfgang im Konzentrationslager umkam. In Johannesburg lernte ich 1945 als weitere Verwandte Robert Grünfeld und Joan kennen, er der jüngere Bruder des zum bekannten Bankier in London gewordenen Vetters Henry Grünfeld aus der Zalenzer Linie der Familie. Ich traf weitere Freunde aus der FWV, Fred Rothberg und Frau Grete geb. Schild, Heinz Kretschmer und andere Breslauer mit ihren Familien. Auch durch meine Kontakte in Mufulira machte ich Bekanntschaften in Johannesburg. Es war gut, andere Menschen, auch Zeitungen und Buchhandlungen zu sehen, in einer größeren Stadt mal zu sein, mit Naturschönheit mußte Johannesburg ja nicht unbedingt mit der subtropischen Landschaft Nordrhodesiens konkurrieren. Auf der Bahnfahrt zurück entlang durch Bechuanaland machte ich die interessante Bekanntschaft des Anthropologen Max Gluckmann, der damals das Rhodes­Livingstone Institute in Livingstone leitete. Durch meine anthropologische Lektüre noch auf der Farm Savory war ich auf dessen Arbeiten und Veröffentlichungen aufmerksam geworden und ein Leser geblieben. Wir hatten eine sehr angeregte Unterhaltung, er stand sehr links, wie mir schien. Ihn interessierte, daß ich etwas über Max Weber wußte, er meinte, ich könnte vielleicht am Institut mitarbeiten, denn das würde gut passen. Das hätte mich schon interessiert, aber ich dachte doch mehr an eine Tätigkeit in der Wirtschaft. Ich fühlte, ich hatte mich da gut eingearbeitet und hatte Erfolg und Anerkennung gehabt. Ich fragte meinen Vetter Herbert, ob er Möglichkeiten in Südafrika und Rhodesien für mich sehe z.B. für Einkauf von Erzen. Ich berichtete ihm auch über die Pläne für Bau eines Staudammes entweder am Zambesi vor der Kariba Gorge oder am Kafue Fluß in Nordrhodesien, durch den billiger Strom unter anderem für die Produktion von Ferrochrome aus südrhodesischen Chromerzen bereitgestellt werden sollte. Für das nordrhodesische Kafue­Projekt trat besonders der Ingenieur Morris ein, Mitglied des Legislative Councils für Mufulira, den ich auch besuchte. Herbert zeigte sich damals sehr interessiert; seine Gruppe sei eine der ganz wenigen im Britischen Commonwealth mit Erfahrung in Ferrochrome Produktion. Morris zeigte sich auch sehr interessiert, aber die Pläne waren noch sehr unbestimmt. Für Einkauf von Erzen im südlichen Afrika erwähnte Herbert, daß er diese viel durch die Firma Derby & Co. Ltd in London gekauft hätte, einer deren Direktoren, Frederik Rau, käme demnächst nach Salisbury in Südrhodesien und würde mich gern kennenlernen. Ich traf ihn dort im Mai 1946. Er erschien mir ganz als der gebürtige Engländer, der er war und den ich erwartet hatte, aber dann stellte sich heraus, daß er einer sehr frommen jüdischen Familie angehörte; der Vater war aus Fürth gekommen, er sprach auch fließend Deutsch. Fred Rau machte einen starken Eindruck auf mich und ich konnte sehen, daß er das auf viele machte, geschäftlich sowohl wie als Persönlichkeit. Herberts Firma schien ein wichtiger Kunde Derbys für ihre rhodesischen und südafrikanischen Erze zu sein, und die Beziehungen sehr freundschaftlich. Rau hatte das Geschäft von Derby im südlichen Afrika besonders gepflegt, hatte viele Monate im Krieg dort mit einem Auftrag des British Ministry of Supply für die Beschaffung kriegswichtiger Rohstoffe zugebracht. Derby dachten daran, jetzt eine Vertretung in Johannesburg einzurichten, ich war daran natürlich sehr interessiert, er würde das erwägen, sagte er, als ich an meinen Posten im Copperbelt zurückflog. Nur nach wenigen Tagen bekam ich dort ein Telegram von ihm aus Johannesburg, ob ich dort zu einer weiteren Besprechung sofort hinkommen könnte. Ich mußte nochmals um kurzen Urlaub bitten und fuhr mit der Bahn. Am Bahnhof wurde ich abgeholt von Fred Rau und Oskar Lazar, Inhaber des Chemischen Laboratoriums McLachlan & Lazar, ein guter Freund Derbys in Südafrika, der eine Handelsfirma "Minerals & Plant (Pty.) Ltd" in Johannesburg gegründet hatte, um die Vertretung von Derby zu übernehmen. Der als geschäftsführender Partner von Lazar vorgeschlagene junge Anwalt, den Fred Rau jetzt hatte kennenlernen sollen, erwies sich als unverträglich und gab auf. Fred Rau schlug vor, daß ich in die neue Firma als geschäftsführender Partner eintreten soll und diese dann die gemeinsame Vertretung von Derby und der von Herbert geführten Grünfeld Gruppe übernehmen würde. Man besprach die Grundlinien von Verträgen dafür, nach wenigen Tagen flog ich zurück auf meinen Posten in Mufulira. Plan und Vertragsbedingungen brauchten noch die Zustimmung aller Beteiligten in London, ich mußte Einwanderungsgenehmigung für Südafrika beantragen und sechs Monate Kündigung meines Postens in Mufulira geben. Wenn ich auf meinen Lebenslauf bis dahin, zum Jahre 1946, zurückblickte, hatte ich ja immer wieder eine Menge gutes Glück gehabt, aber es oft auch bitter nötig, denn so vieles kam mir da nicht leicht bei. Auch hier wieder gab es unerwartete Schwierigkeiten, die Bearbeitung meines Einwanderungsgesuchs zog sich hin, dann wurde es abgelehnt. Es gab einen starken Einwanderungsdrang, technische Berufe hatten bessere Chancen, für meine geplante kaufmännische Tätigkeit war das schon schwerer, aber mit den Empfehlungen der Beteiligten, der Auslandsvertretung des südafrikanischen Bergbaudepartments in London und der Schwedischen Botschaft in Pretoria hatte man gedacht, mein Antrag würde eine sichere Passage haben. Alle Beteiligten beschlossen erneute Interventionen in Pretoria. Unterdeß war meine Kündigungszeit aber abgelaufen, der Manager, den ich vertreten hatte, aus Wales zurückgekehrt und ein Nachfolger für mich aus Johannesburg geholt worden. Ich verließ meinen Job und beschloß aus Mufulira abzureisen, zurückblickend auf eine sehr bedeutsame, auch etwas eigenartige und zurückgezogene, aber doch auch wieder anregende und lehrreiche Zeit in meinem Leben. Ich hatte mir etwas Geld gespart und beschloß in Ruhe den Ausgang der weiteren Anstrengungen in Pretoria abzuwarten. Für einige Wochen ging ich in die Hauptstadt Lusaka. Dort gab es auch interessante Bekanntschaften unter polnischen Evacuees, die in der Regierung Stellungen hatten, zum Teil im Audit­ aber auch in anderen Departments. Eine Bekannte, Janka Süsskind­Scheck, hat dann sogar im nordrhodesischen Regierungsdienst bis in die Jahre nach der 1964er Übergabe von der englischen Kolonialverwaltung an die neue Regierung des unabhängigen Zambias gearbeitet. Dann ging ich nach Livingstone, die ursprüngliche Hauptstadt am Zambesi, nahe den Victoriafällen. Die ganze koloniale Besiedlung Nordrhodesiens war ja sehr jung, sogar bei den Maßstäben meiner Heimat im oberschlesischen Industriegebiet, aber diese kleine koloniale Stadt Livingstone hatte schon so etwas wie Patina, verglichen mit den ganz neuen Siedlungen im Copperbelt. So erschienen einem auch die jüdischen Kaufleute dort mehr alteingesessen als alte Kumpanen anderer Alteingesessener in Bowling oder Golfclubs und die Frauen bei durch die Kriegzeiten gegebenen charitativen Gelegenheiten in Uniformen der St.Johns Brigade. Besonders in Erinnerung bleibt mir die Familie Kopelowitz. Sie führten ein gar nicht pompöses, aber sehr stilvolles und gastfreies Haus. Er präsidierte auch über die jüdische Gemeinde, die Synagoge war viel benutzt, es gab auch viel Jugend und verschiedene Bekanntschaften mit deutschen jüdischen Emigrantenfamilien. Auch polnische Evacuees gab es in Livingstone. Eines Tages hörte ich, daß unter denen, die durchgereist waren, um nun doch nach Hause in die Volksrepublik Polen zu gehen, auch der alte Senator Kornke war. Meine Freunde aus Mufulira sind einige Jahre später dann auch zu ihren Familien nach Polen zurückgekehrt. Als Höhepunkt des Aufenthalts in Livingstone bleibt mir aber der Besuch der Englischen Königsfamilie im Juni 1947 in Erinnerung. Dieser war ausgedehnter für Südafrika und Südrhodesien. Für die damalige Kronkolonie Nordrhodesien war Livingstone der einzige Punkt, in dem sich so alles für den Empfang des Königspaars zusammenzog. Es war eine außerordentlich wirksame und malerisch geplante Veranstaltung. Alle waren sehr aufgeregt und die Stimmung herzlich. Außer den üblichen Empfängen für Behörden und Honoratioren unter der Bürgerschaft gab es auch zwei großartig ausgedachte und aufgezogene Veranstaltungen, die die Begegnung des Königpaares mit den schwarzen Eingeborenen darstellten. Sie waren dem Publikum zugänglich, ich erinnere mich gut an sie. Eine besondere Ehrung wurde dem Chief des Barotse Stammes zuteil. Er beanspruchte königlichen Rang, sein Stamm hatte einst die meisten anderen im nachmaligen Nordrhodesien tributpflichtig gemacht. Symbol seiner königlichen Würde war eine zeremonielle Barke, in der er jährlich auf dem Zambesi von der Sommer­ in die Winterhauptstadt seines Stammesreiches fuhr. Nun wurde arrangiert, daß diese Barke am Ufer des Zambesi bis in die Nähe der Viktoriafälle transportiert wurde. Als Beginn ihres nordrhodesischen Besuchs fuhren der Englische König mit Familie und Begleitern in einem Motorschiff vom südrhodesischen Ufer des Zambesi herüber zum nordrhodesischen Ufer, in der Mitte des Flusses begegneten sie der traditionell geruderten königlichen Barke der Barotses mit dem Chief und Gefolge, es gab die entsprechenden Salute und Respektsbezeigung. Sehr aufgeregt über diese spektakuläre Veranstaltung, an deren Erfolg er auch, wohl schon im Zusammenhang mit dem schwierigen Transport der anthropologisch so interessanten Barke Anteil zu haben schien, war der Dr. Max Gluckmann. Ich hatte viel Zeit in seinem Rhodes­Livingstone Institut zugebracht, wunderte mich, wie jemand, dem man kommunistische Neigungen nachsagte, sich emotionell so stark mit der Stammestradition der Barotse verbunden fühlte, die einst fast ganz Nordrhodesien unterworfen hatten. Trotzdem fand ich seine professionelle Begeisterung über diese Zeremonie sehr sympathisch und nachdenklich machend. Später gab es dann die offizielle Begegnung des Englischen Königs mit den Vertretern der gesamten eingeborenen Bevölkerung, wozu die vier Chieftains der wichtigsten Stammesgruppen ausgewählt wurden. Es war eine Art Indaba auf einer großen Wiese, tausende von Schwarzen waren da, einer der Chieftains war natürlich der König der Barotse. Drei von ihnen erschienen in traditionellem Gewand oder in einer prunkvollen Uniform, aber der Häuptling des größten der Stämme, der Bemba, erschien wie ich mich erinnere, ganz ohne Prunk in einem grauen Lounge Anzug. Die Bemba waren mir gut vertraut, stellten einen großen Teil der Bevölkerung des Copperbelts. Auf der Empore für die Begegnung mit dem englischen König konnte man auch den Chief­Induna, also etwa Kanzler, der Barotse sehen. Man hatte ihn öfters erwähnt in diesen Tagen als vermeintlich den klügsten Mann in Nordrhodesien überhaupt, dessen Rat oft bei der Regierung in Lusaka gefragt war. Ich sah ihn also, ein älterer Mann, auch in einer schönen Uniform oder Hoftracht. Viele Jahre später sollte mir auffallen, als Nordrhodesien unabhängig und der Staat Zambia wurde, da war von einem Mann seiner Stellung wenig die Rede mehr. Es waren ganz andere Kräfte, die dabei in den Vordergrund traten. Eines Tages traf ich in Livingstone Frau Savory. Ich hatte die Savorys in den über fünf Jahren, seit ich von der Farm bei Monze wegzog, nicht mehr gesehen, aber manchmal geschrieben. Sie lud mich ein, doch einige Tage bei ihnen auf der Farm zu verbringen, wenn ich noch auf das Permit von Südafrika warten muß. Ich habe das sehr gern getan. Es war schön die Menschen und die alte Szene meiner ersten Monate im Lande wiederzusehen und diese Freundschaftlichkeit der Savorys wieder zu erfahren. Es war dann wirklich so, nach schon zwei Tagen kam das Telegramm von Oskar Lazar, mein Einwanderungsvisum war bewilligt, ich mußte mich bei den liebenswürdigen Gastgebern entschuldigen, fuhr zurück nach Livingstone und dann bald auch mit dem Zug nach Johannesburg. Es war der 17. August 1947. Mein Dasein als Kriegsflüchtling und Evakuee war nun vorüber. Ich war jetzt eingewandert in Südafrika, damals ein Dominium im Britischen Commonwealth. P.S.: In Johannesburg war man Informationen und Literatur über die Welt meiner Vorkriegs­ und Kriegserlebnisse wieder soviel näher gekommen, als ich es in Nordrhodesien haben konnte. Bald nach meiner Ankunft 1947 sah ich in einer Buchhandlung eine dünne Broschüre "A German of the Resistance". Das interessierte mich brennend, ich hatte so wenig darüber lesen können. Es hieß weiter "The Last Letters of Count Helmuth James von Moltke". Ich hatte von ihm und dem Kreisauer Kreis im Zusammenhang mit dem mißlungenen Putsch vom 20. Juli 1944 gehört, aber nie Einzelheiten erfahren. Ich sah, daß die Mutter dieses Grafen Moltke englischer Herkunft war, die Tochter des Chief Justice des Transvaal, Sir James Rose­Inness. Die Broschüre, die ich gekauft habe, war in Südafrika herausgegeben "wegen des Papiermangels in England, um die Briefe den vielen Freunden des Grafen Moltke und der Familie Rose­Inness in Südafrika zugänglich zu machen". Es war ein Nachdruck, von dem "Round Table" herausgegeben. Die Broschüre brachte mit Abdruck einzelner Briefe auch eine Liste der Hauptteilnehmer des Kreisauer Kreises, der sich um den Grafen Moltke gebildet hatte. Ich war sehr bewegt, als ich unter den 16 Namen, die genannt waren, so viele mir bekannt sah, so Carlo Mierendorf und Paul van Husen, der auch in Kattowitz amtiert hatte, und persönlich hatte ich drei von ihnen gekannt, es waren Theo Haubach, Adolf Reichwein und Hans Lukaschek, ich habe ihn öfters erwähnt in meinen Rückblicken. Es gab mir doch das Gefühl einer noch immer bestehenden Verbundenheit mit diesen Menschen, für die man nur die größte Bewunderung haben konnte, etwas, was einem neue Zuversicht für die europäische Zukunft geben konnte. Anmerkungen Anmerkungen zu "Frühes Panorama und Vorgeschichte" 1) So Thomas G.E. Powell in "Europe, Prehistory..", Encyclopaedia Britannica 1964, Bd.8 S.852/3. 2) Jazdzewski, Konrad "Urgeschichte Mitteleuropas" Wroclaw 1984 S. 271/486; auch A. Gieysztor u.a. "History of Poland", Warszawa 1968 S. 31. Als gegenteilige Meinung O. Kleemann "Vorgeschichte Schlesiens" in "Geschichte Schlesiens", Stuttgart 1961. 3) Darüber siehe ausführlich O. Pustejowsky "Schlesiens Übergang an die böhmische Krone", Köln 1975. 4) O. Karzel, "Die Reformation in Oberschlesien", Würzburg 1979, S.224, allgemein für Ausbreitung der Reformation im südlichen Oberschlesien S.150f.,206f. Maßnahmen der Gegenreformation waren aber früh wirksam: die Kirche in Woschczytz wurde für den lutherischen Gottesdienst 1628 gesperrt. 5) Für die frühen Besuche zeugt die "Raffelstädter Zollurkunde". Ein früher Reisebericht stammt von dem jüdischen Kaufmann aus Spanien Ibrahim ibn Jaqub (G. Rhode "Kleine Geschichte Polens", S.8 und A. Gieysztor a.a.O S... Für spätere jüdische Ansiedlung siehe B. Bretholz "Geschichte der Juden in Mähren im Mittelalter" I, Brünn 1934. 6) V. Lipscher: "Die Juden im Habsburgerreich des 17.und 18. Jahrhunderts am Beispiel Böhmens und Mährens", Dissertation Zürich 1983, S.103 undS.141. 7) H. Teufel: "Zur politischen und sozialen Geschichte der Juden in Mähren vom Antritt der Habsburger bis zur Schlacht am Weissen Berg (1526­1620)", Phil. Dissertation Erlangen 1971, S.74,S.84. 8) S. Dubnow: "Weltgeschichte des Jüdischen Volkes", Berlin 1928, Bd. VI, S.225 und C. d'Elvert: "Zur Geschichte der Juden in Mähren und Österr.­Schlesien", Brünn, 1895, S.123. 9) B Brilling: "Die schlesische Judenschaft im Jahre 1737" im Jahrbuch der Schlesischen Friedrichs­Wilhelm­Universität zu Breslau, Bd. XVII, Berlin 1972. 10) S. Dubnow a.a.O., Bd. VII, S.286f. Anmerkungen zu "Die Familie und Kattowitz" 1) Nr.1256 des Staatsbürgerverzeichnis im Amtsblatt der Königlichen Breslauschen Regierung vom 16.November 1814, Beilage S.16, sein Wohnsitz Woschczytz. Er ist auch verzeichnet im Register der im Kreis Pless damals wohnenden Juden im Zydowski Instytut Historyczny w Polsce, Warszawa, als 1782 geboren, seit 1808 verheiratet mit Saara, und zu seinem Hausstand gehören 4 zwischen 1799 und 1806 geborene Stiefkinder mit dem Namen "Walder". Laut Überlieferung und anderer Evidenz war die Ehefrau Sarah geb. Holländer, verwitwete Waldau. Keines der beiden Register hat Rubriken für den Geburtsort oder Namen des Vaters. Über diesen, meinen Ururgroßvater haben wir nur die mündliche Tradition, daß er in seinem Alter von Woschczütz als Schriftkundiger nach Pilica gerufen wurde und dort starb. Das könnte zu der Zeit gewesen sein, als Pilica durch die Teilungen Polens an der Grenze des preußischen und österreichischem Teilgebiet lag (Gieysztor "History of Poland", Karte Nr.25). 2) Siehe "Mormonen" Film 579598 Bd.29 Familienregister der Juden von Sohrau Nr.39. In der 1817 Zuzugseintragung ist sein Geburtsjahr als 1779 verzeichnet, sein Beruf als Lederhandel. 3) Von den Kindern seiner verstorbenen Frau adoptiert er den 1802 geborenen jüngsten Stiefsohn Isaak, dessen Sohn Louis später Mitgründer der bekannten Erzhandelsfirma Rawack & Grünfeld wird. 4) Vermutlich eine Tochter des 1768 geborenen, seit 1809 in Nieborowitz, Kreis Rybnik, ansässigen Gastwirts Samuel Huldschinsky. 5) Handbuch zu dem Atlas von Preußen, Erfurt 1836. 6) Im Zuge der wieder zunehmenden Ansiedlung von Juden in Oberschlesien wird Woschczytz für 1693 erwähnt(....), und ein jüdischer Toleranzsteuerzahler in 1737 ist auch für Woschczytz erwähnt bei Brilling S... 7) M. Freudenthal "Leipziger Messgäste"... 8) Nerlich S.51. 9) A. Weltzel, Geschichte der Stadt Sohrau, Sohrau 1897, und die neuere von G. Nerlich, Dortmund 1972. 10) Weltzel S.65. 11) Weltzel S.431. 12) Nerlich S.46. 13) Das Rittergut Bogutzker Hammer mit Kattowitz und Brynow wurde 1702 an die Plesser Standesherren v. Promnitz verkauft. Das Inventar (Urbar), das dafür gemacht wurde, verzeichnet die Namen der angesiedelten Gärtner, darunter Skiba (Hofmann S.30) und erwähnt wird auch (Majowski 1958, S.25) der "Kretschem, von dem wegen Bier­und Brannweinverlag der Jude jährlich Mittem zu geben pfleget". Eine ausführliche und, in vieler Beziehung sich um Abgewogenheit bemühende Darstellung der Geschichte des Dorfes Kattowitz und der nachfolgenden Stadtwerdung bringt auch S. Karski in Kattowitz (1985). Unter den jüdischen Toleranzsteuerzahlern 1737 (Brilling S.57) ist für Bogutzker Hammer ein Abraham Moses verzeichnet, auch je ein Name für die Dörfer Bogutschütz und Zalenze, ebenso wie für Woschczytz. Das Rittergut mit den Dörfern ging 1736 von den v. Promnitz wieder an die Myslowitzer Standesherren, die polnische Adelsfamilie v. Mieroszowski über. 14) Dieser Urgroßvater Peretz (oder Perens) Sachs, 1794 geboren, Sohn des dann 1812 in Maczejkowitz, Kreis Beuthen, ansässigen und Staatsbürger gewordenen Isaac Sachs, zog 1819 von Hajduck, Kreis Beuthen, nach Smilowitz, bei Nikolai, Kreis Pless und heiratete dort die 1799 geborene Tochter Minel des 1812 dort ansässigen Joachim Ludniowski, der selbst als 1763 geboren ausgewiesen wird. Das Ehepaar Peretz Sachs zog 1827 mit 3 Kindern von Smilowitz nach Zalenze, damals im Kreis Beuthen gelegen. 15) Unter den Veröffentlichungen über ihn siehe Dr. Ernst Koenigsfeld in "Schlesien" IV, 1984. Von polnischer Seite, wo man sich auch gern an diesen Engländer unter den Pionieren der oberschlesischen Stahlindustrie erinnert, die Broschüre "John Baildon" von Jerzy Sikora (Katowickie­Tow.Spo.Kult.). 16) Majowski 1958 S.55/6. 17) Hoffmann S.34. 18) Broszat, Martin "Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik" S.90. 19) Broszat S.105. Es ist interessant, daß die Betonung auf dem Erfordernis der Loyalität gegenüber dem preußischen Staat und seiner Monarchie lag, zu deren Stärkung Kenntnis der deutschen Amtssprache verbreitet werden sollte, aber sie sollte nicht aufgedrängt werden und "jeder Anschein einer versuchten Verdrängung oder Beeinträchtigung des polnischen Elements vermieden werden" (Denkschrift des v. Arnim­Boitzenburg, zitiert von M. Broszat). 20) In einer Atmosphäre, die sich schon zu der liberalen 1848 Revolution hin entwickelte, hatte der Führer der Liberalen im Preußischen Landtag, Georg v. Vincke, erklärt, nicht nur das Großherzogtum Posen, auch Teile anderer preußischer Provinzen, so Oberschlesien müßten "als der polnischen Nationalität zugehörig" angesehen werden. S. Broszat, S.108. 21) Broszat, S.116. 22) Für 1783 verzeichnet Hoffmann 490 Einwohner für Kattowitz mit Brynow, 1825 675, 1836 sind es laut Atlas von Preußen, Erfurt, 785 Einwohner. Für 1867 sind es schon 4.815 ohne Brynow, das nicht ins neue Stadtgebiet einbezogen wurde. 23) Hoffmann S.54. 24) Veröffentlichungen des Katowickie Towarzystwo Spoleczno­Kulturalne und auch dort Krystyna Szaraniec "Znani i nieznani Katowiczanie". 25) Dr. J. Cohn, Geschichte der Synagogengemeinde Kattowitz, S.1. 26) Hoffmann, S.71. Auch die neue Veröffentlichung Kattowitz 1985 behandelt die damaligen Vorgänge ausführlich, so Dr. S. Karski S.30/37. 27) S. Wenzel, "Jüdische Bürger und Kommunale Selbstverwaltung", S. 126/8. 28) Fuchs, Konrad, Wirtschaftshistoriker in Mainz, erwähnt die Gründung des Unternehmens durch diese 3 "Kattowitzer Finanziers"; in "Die Bismarckhütte in Oberschlesien..." in der Schriftenreihe "Tradition" 15/1970 gibt er eine ausführliche Darstellung des Werks, das bald auf Wunsch seines technischen Pioniers Wilhelm Kollmann in Bismarckhütte umbenannt wurde. 29) Das Baugeschäft war sehr erfolgreich und hatte meinen Großvater zu einem sehr anerkannten und wohlhabenden Mann gemacht. Aus dem Jahr 1877 stammen Zeugnisse über von ihm ausgeführte Arbeiten in der oberschlesischen Industrie. So bescheinigt Wilhelm Kollmann den Um­ und Neubau (1869/72) des ganzen Hüttenwerks der damals W. Hegenscheidt'schen Baildonhütte unter den schwierigsten Verhältnissen, während die Hütte selbst in fortwährendem Betrieb war, einschließlich schwieriger Fundament­ und Zementarbeiten für die Maschinen, Dampfhämmer, Kessel und Schornsteine. Das zweite Zeugnis von Kollmann bescheinigt die Bauten an der Bismarckhütte 1872/4 (das ganze Puddel­ und Walzwerk mit 12 großen Kaminen, das Verwaltungsgebäude und 10 große Arbeiterwohnhäuser). \XC4hnlich preisend ist das Zeugnis des Herrn Bernhardi für Giesche über Arbeiten 1874/76 u.a. an den Wilhelm­ und Pauli­Zinkhütten. Es erwähnt besonders eine 302 Fuß hohe Esse. Es gibt dann noch alte Zeugnisse der Schlesag (einer Zinkhüttengesellschaft), der Thiele­Winkler'schen Verwaltung und der Eisenbahnverwaltung betreffend Arbeiten in Kattowitz, Königshütte, Beuthen, Gleiwitz und Neuberun. 30) In einem Bericht über die Einweihung des neuen Gymnasiums 1900 (aus Kattowitzer Zeitung, abgedruckt im Oberschlesischen Kurier, Salzgitter) sind beide Brüder in diesen Eigenschaften erwähnt, der Stadtbaurat Max Grünfeld wurde dabei mit einem Orden ausgezeichnet, da das Gymnasium nach seinen Entwürfen gebaut wurde. Viele Jahre später erwähnt (auch in einem Beitrag in der Kattowitzer Zeitung, abgedruckt im Oberschlesischen Kurier) der einstmalige Kattowitzer Stadtrat Louis Dame, auch ein Baumeister, in seinen Erinnerungen an Kattowitz, die städtebaulich hervorragende Bebauung der damaligen August Schneiderstraße (später und noch heute ulica Mickiewicza): das städtische Badehaus, danach die Synagoge (die ebenfalls von meinem Onkel Max Grünfeld entworfen war) und dann eben das Gymnasium, alle in einer Reihe, in ähnlichem roten Backsteinbau. Er erinnerte sich damals an diese Lösung als ein besonderes städtebauliches Schmuckstück für Kattowitz. Für eine Abbildung siehe Sammelwerk Kattowitz, 1985, S.92. 1939 haben die Nationalsozialisten als Eindringlinge die Reihe gestört, als eine ihrer ersten Taten sprengten sie die Synagoge. 31) Maximilian Harden in seinem Buch "Köpfe", S. 141, erwähnt ihn als Hausarzt des Geheimrat Holstein, der bekannten "Grauen Eminenz" im Auswärtigen Amt. 32) Als Student in Würzburg trat er der "Deutschen Burschenschaft" bei, wie damals manche aus stark assimilierten jüdischen Familien. 33) Die Stadt Rackwitz hatte laut Atlas von Preußen 1836 1494 Einwohner, "besuchte Getreidemärkte". Josef Oettinger war ca.50 Jahre Gemeindevorsteher, gründete 1806 die "Chevra Kadisha", er starb 1862. Ein Sohn, Hermann Noah, als "fromm und wohltätig bekannt", gründete das Handelshaus H.N. Oettinger & Cie. in Hamburg (Hepner S. 879). 34) Eine Kopie seiner Dissertation (mit Lebenslauf: Geburtsdatum 1808, hatte das Gymnasium in Posen besucht) zum Thema "Hippokrates, vita, philosophia et ars medica", in lateinischer Sprache verfaßt, habe ich in der Zentralbibliothek Zürich gefunden und kopieren können. 35) Ihre Familie gab es in Wollstein, zu ihr gehörte Moritz Schiff und Frau Sydonie geb. v. Taussig, die Verwandtschaft in Ungarn hatte. 36) Er soll ein sehr erfolgreicher Industrieller geworden sein, der in jungen Jahren mittellos aus Litauen nach Ostpreußen kam, mit einem jüngeren Bruder, den er studieren ließ und der als Beamter und Wissenschaftler in preußischen Statistischen Ämtern eine Karriere machte und den Geheimratstitel erhielt. Das war dann wohl der früheste in meiner Familie, aber ich habe keine Details darüber gefunden. 37) Paul Gerber war Hals­, Nasen­ und Ohrenarzt, Professor an der Universität Koenigsberg, auch mit Geheimratstitel, veröffentlichte aber auch Gedichte und auch kleine politische Schriften, so eine um 1918 betitelt "Goethe und die französische Revolution, ein blaues Trostbüchlein in roter Zeit". Politisch gehörte er zur Deutschnationalen Volkspartei, er starb schon jung 1919. 38) Er war Assistenzarzt des bekannten Dr. Flügge und danach, bis er 1914 in den Krieg ging, Oberarzt des Dr. Pfeiffer in Breslau. Als Student gehörte er zum "Akademisch Literarischen Verein" in Breslau. Anmerkungen zu "Kindheit und frühe Jugend" 1) Es gibt dafür Hinweise in der nach dem 2.Weltkrieg sich profilierenden Literatur über Anzeichen von Antisemitismus in Deutschland vor der Hitlerzeit. 2) An Encyclopaedia of World History ed. W. Langer, London 1948, S.936. 3) Verfasser der Geschichte der Stadt Kattowitz (1895), hatte lange dort gelebt, mein Vater kannte ihn gut. Wie mir erzählt wurde, verließ er mit anderen seine Burschenschaft aus Protest gegen den Ausschluß jüdischer Altburschenschaftler, also ein liberaler Zug, aber in die Weimarer Nationalversammlung ging er 1919 als deutsch­nationaler Abgeordneter. 4) Über die sprachliche Verhältnisse im Regierungsbezirk Oppeln zu Beginn des 19. Jahrhunderts heißt es im "Handbuch zu dem Atlas von Preußen" (Erfurt, 1836): "Die herrschende Sprache ist die polnische, um Neisse und Grottkau wird ganz, um Falkenberg und Neustadt viel deutsch, in den Kolonien Friedrichgrätz, Buddenbrock und Prittwitz böhmisch, an der österreichischen Grenze mährisch gesprochen" (S.l91). Dann werden die einzelnen Kreise besprochen, so zu Beuthen: "die Sprache der Bevölkerung ist fast überall polnisch", Lublinitz: "die polnische Sprache ist fast überall die herrschende", Kreis Neustadt: "die Sprache ist um Neustadt die deutsche, übrigens wird mehr polnisch gesprochen", Kreis Pless: "In Pless wird deutsch, übrigens polnisch gesprochen", Rybnik: "die Einwohner, welche sich der polnischen Sprache bedienen..." (S.207). Exkurs Die Struktur der polnisch­sprechenden Bevölkerung hatte sich mit der Zeit geändert. Es hatte nicht nur polnische Landbevölkerung gegeben. Noch im 18. Jahrhundert waren viele Städte katholisch und polnisch sprechend. Durch die schnelle Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstand dann eine starke polnische Industriearbeiterschaft, bei der nationale polnische Bestrebungen einen ebenso aktiven Anklang fanden wie bei der bäuerlichen polnischen Landbevölkerung. Andererseits gab es aber auch zunehmende Assimilation (Germanisierung), besonders bei Intelligenz und wirtschaftlich gehobeneren Schichten. Das preußische Schulwesen und die Anziehungskraft des damals hauptsächlich von der deutschsprechenden Bevölkerung vorwärts getriebenen wirtschaftlichen Fortschritts verfehlten nicht eine gewisse Wirkung. So finden sich unter den deutschsprechenden und deutschgesinnten Oberschlesiern viele mit polnischen Namen. Andererseits war das Polentum unter oberschlesischer Intelligenz und Mittelstand nicht im Verhältnis zu seiner Bevölkerungsstärke vertreten. Die nationalpolnische Bewegung, in die polnische Kräfte in Posen und Westpreußen auch die oberschlesischen Polen einbeziehen wollten, führte dazu, daß bewährte Kräfte z.B. aus der Provinz Posen sich in Oberschlesien ansiedelten, mitführend in der nationalpolnischen Bewegung wurden und zur Stärkung eines polnischen Mittelstands beitrugen. 5) M. Broszat a.a.O, S.176. 6) do. S.193. 7) do. S.199. 8) Ruth Storm "..und wurden nicht gefragt", Augsburg 1972, S.50. 9) Laut A.J.P. Taylor (Encyclopaedia Britannica 1964, Bd.10/S.327) die einzige wichtige Konzession, die Deutschland in Versailles erreichen konnte. 10) O. Ulitz a.a.O.S.42. 11) aus "Atlas zusammengestellt von deutschen Autoren" (Moderner Buchklub, Darmstadt, zitiert im Oberschlesischen Kurier, Salzgitter) 12) G. Rhode, a.a.O. S.477. 13) Ein ausführlicher Bericht bei Krzystof Brozek in "Andrzej Mielecki" (Katowickie Towarzystwo Spoleczno­Kulturalne, Katowice 1983) erwähnt auch 2 etwas unterschiedliche Erinnerungen. 14) Im seinerzeit vom Polnischen Plebiszitkommissariat auf französisch veröffentlichen "Memoire.. sur les Troubles en Haute Silesie" finden sich viele Zeitungsausschnitte meist deutscher Zeitungen, aus denen ich Informationen über die damaligen Vorgänge entnehmen konnte. 15) M. Broszat a.a.O. S.209. 16) "Memoire", a.a.O. S.25. 17) do. S.32. 18) do. S.24. 19) do. S.9. 20) do. S.49. 21) Item 5 des Anhangs zu Art.88. 22) G. Webersinn, "Otto Ulitz, ein Leben für Oberschlesien", Augsburg 1974, S.27. 22) do. S.28. 23) Ulitz, a.a.O.S.59. Anmerkungen zu "Kattowitz kommt zu Polen" 1) Über den Metropoliten entwirft ein Bild Hansjakob Stehle in "Die Zeit" 5. Juli 1985. 2) Dazu siehe Walter Laqueur "Die deutsche Jugendbewegung" Köln 1962. 3) Ulitz a.a.O.S.81. 4) Ein alter Oberschlesier bei uns in der Ziegelei, sein Sohn hatte am polnischen Aufstand 1921 teilgenommen, bestätigte das und überraschte mich ungemein, wie er das ausdrückte: ja, die Leute fühlen, es geht nicht gut, und es ist Zeit, das der Herr Williger und der Herr Baumeister die Sache wieder in die Hand nehmen. Also Sehnsucht nach vermeintlich guten alten Zeiten, wo Schwerindustrie und die durch das Dreiklassenwahlrecht bestellte Stadtverwaltung sich in die lokale Verantwortung zu teilen schienen. 5) Bericht der "Kattowitzer Zeitung" vom 10.März 1927, abgedruckt im "Oberschlesischen Kurier" Salzgitter. 6) Broszat,a.a.O.S.225f. 7) Über ihn findet sich ein Beitrag in der Zeitschrift des Jüdischen Historischen Instituts, Warszawa. 8) Desgleichen auch die beiden der Polnischen Sozialistischen Partei angehörigen Kattowitzer Anwälte Dr. Baj und Dr. Karol Stach, die mit Dr. Liebermann als Verteidiger auftraten. 9) Die älteste unter diesen Kusinen des Vaters Bertha Wachsmann mit zwei Töchtern: Erna Weissenberg (deren auch schon erwachsene Kinder Mia und Ernst) und Martha Brann (mit Tochter Ruth). Weitere Zalenzer Kusinen des Vaters waren Minna Koenigsfeld (mit Tochter Erika Schlesinger und Sohn Kurt), Trude Koenigsberger in Lublinitz(ein Sohn hieß Herbert, verheiratet in Neisse), Johanna Frankenstein und die unverheiratete Jenny Grünfeld in Kattowitz. Der älteste Bruder Max lebte in Berlin, Direktor des Deutschen Eisenhandels, sein Sohn Heinz, später als Henry Grunfeld sehr erfolgreich und bekannt in London als Bankier (Kinder Thomas und Luise) weitere Kinder von Max und Rosa Grünfeld in Berlin waren Edith Kosterlitz und Sohn Robert. 10) Die älteste Tochter Susi wurde Kinderärztin, später in New York (Suzanne Forrest). die zweite Käthe war Bildhauerin, Lotte mehr in meinem Alter heiratete den Anwalt Helmuth Margoninski, lebten in Kanada, die jürigste Ruth in Florida. Anmerkungen zu "Als Student in der Weimarer Republik" A) Berlin: a) "Leben und Studium" 1) Dazu O.F. Scheuer "Burschenschaft und Judenfrage S.30f und S.40. Zu bekannten Burschenschaftern jüdischer Abstammung gehörten Heinrich Heine, Ferdinand Lasalle, Friedrich Stahl. 2) Zu Geschichte und Entwicklung "FWVer Taschenbuch", Berlin 1931, Schriftleitung Kurt Wilk mit Beiträgen von Alfred Rothberg und Max Pinn (Mein Dank an R.Gräupner, London, für Beschaffung dieser Quelle). 3) Hans Peter Bleuel, Ernst Klinnert: "Deutsche Studenten auf dem Weg ins Dritte Reich" S.262. 4) Zu diesen Freunden gehörte auch der Chemiker Fritz Haber. 5) Sie wurde sehr erfolgreich in ihrem Fach in den USA und teilte den Nobelpreis für Physik 1963. Zu ihrem Lebenslauf Siehe "Kattowitz" 1985 S.46. b) "...und politische Betätigung". 6) Unser sozialdemokratisch gesinnter Mathematiklehrer in Kattowitz, Rath, hatte die ihm bekannte Frau Wegscheider, ohne mein Wissen, auf meinen Studienbeginn aufmerksam gemacht. 7) Die Studentenschaft der TH Charlottenburg hatte sich innerhalb der Deutschen Studentenschaft stark gegen jeden Kompromiß mit dem Minister exponiert (siehe Akten der Deutschen Studentenschaft, Bundesarchiv Koblenz ZSG 129). Mein Antrag muß an meiner TH also im Mai ein recht heißes Eisen gewesen sein. 8) Heinz Ollendorf in "Student und Hochschule" 20. Juli 1929, I/2. 9) Er war einer der bei der Gründung des DStV beteiligten Veteranen der Hochschulpolitik, Sohn von Hugo Preuss. 10) Werner Stephan: "Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918­1933", Göttingen, S.416/7. 11) Theodor Heuss "Erinnerungen 1905­1933", Tübingen 1963. 12) Heuss, a.a.O. S.386. 13) Stephan a.a.O S... 14) Das vorherige Kabinett Marx hatte den Bau beschlossen, der neue Finanzminister Hilferding bestätigt, daß die nötigen Mittel da sind. Dietrich fand, die Demokraten sollten nicht dabei sein, den dadurch wirksam gewordenen früheren Kabinettsbeschluß jetzt umzustoßen. 15) Hermann Graml, "Europa zwischen den Kriegen", DTV 1974 S.216. 16) Peter Krüger "Die Außenpolitik der Republik von Weimar", Darmstadt 1985. 17) Broszat a.a.O.S.219/31. 18) Fred­Hildenbrandt in "...ich soll dich grüssen von Berlin" (München l966) bringt eine Erinnerung an die beiden Schwestern(S. 98/9). 19) In seinen Erinnerungen "Wirken in Wirren" (Hamburg 1950) beklagt sich Hellpach über mangelnde menschliche Nähe für ihn in der demokratischen Reichstagsfraktion, z.B. bei Rückkehr von schweren Erkrankungen sei er nie entsprechend begrüßt worden. Davon wußte ich damals nichts. 20) Der KCer Rudi Samuel, mein Mitkämpfer an der TH Charlottenburg zeigte sich eines Tages erstaunt über meine Kenntnisse jüdischer Feiertage, ich sei doch getauft, der KC habe damals gegen mein Vorstandsamt im DStV gestimmt, weil sie sich nicht von einem getauften Juden vertreten lassen wollten. Er wußte nicht, warum man sich nicht besser erkundigt hatte. 21) Die seit dem Juli 1929 erscheinende Zeitschrift des DStV "Student und Hochschule" war, wie mir bei heutiger Durchsicht scheint viel zu wenig auf Mitarbeit aus Kreisen und Ortsgruppen im Lande gestützt und zu sehr von Berlin aus bestritten. 22) Presseberichte darüber im Bundesarchiv Koblenz ZSG 189 und "Student & Hochschule" I/1. 23) Über diese Bewegung hielt ich mich ständig auf dem Laufenden, außer durch persönliche Kontakte auch durch ihre Zeitschrift "Nation und Staat", Wien. 24) Der Leiter war Dr. H. Schairer, der auf seinem Spezialgebiet auch international anerkannt war und sich später als aktiver Hitlergegner erwies. 25) Über den Verlauf der Tagung fand ich viele Zeitungsausschnitte in den Akten der damals gegnerischen Deutschen Studentenschaft im Deutschen Bundesarchiv Koblenz ZSG 129. 26) Dr. Theodor Bohner war der Fachreferent der demokratischen Fraktion im preußischen Landtag für Kultur­ und Bildungswesen, also die Stellung, die Frau Dr. Wegscheider bei den Sozialdemokraten hatte. Er war ein besonders enger Freund des Demokratischen Studentenbunds und ich erinnere mich lebhaft an viele erfreuliche Gespräche mit ihm. 27) siehe Vossische Zeitung 15. Januar 1930. 28) W. Stephan a.a.O. S.391. 29) "Student und Hochschule", 1929 Nr.5/6.: "die Ideologie der heutigen Studenten ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Soziologie der Studenten untersucht" begann Zehrer seinen Beitrag. Weit über die Hälfte kommen vom durch die Inflation verarmten Mittelstand, zwischen dem "Kapital" und den "Organisationen der Masse" zerrieben, die ältere Generation mürbe und resigniert, wachsen die Söhne schon in einer anderen Wirklichkeit auf, daher die Ideologie der vom Faschismus und Nationalsozialismus Angezogenen. Der Faschismus aber hat die Mittelklassen bereits 1924 "wieder ausgeschaltet", der Nationalsozialismus "aber verrannte sich im Antisemitismus und im Kampf gegen Rom und die Freimaurer". Viel wichtiger als gegen Republikfeindlichkeit und Unruhestifter in der Studentenschaft vorzugehen, wäre durch ein neues großes Wirtschaftsprogramm die Lage der Mittelklasse zu verbessern. Das kann nur durch eine "tiefgreifende Aktivierung der heutigen, alten Mittelparteien" geschehen. So Zehrer im November/Dezember l929. 30) Über diese sehr enge Verbindung siehe Th. Heuss S.375 f. 31) W. Stephan S.395. 32) Die Versammlung fand in der Hochschule für Politik statt. 33) Vossische Zeitung 4. März 1930 und W. Stephan S.425. 34) Die politische Mitte versäumte eine mögliche Chance, da sie sich nicht zu einem Kraftzentrum formieren konnte. Die Konflikte zwischen Korporationen und Nationalsozialistischer Partei setzten sich auch später fort, und verschärften sich noch nach Hitlers Machtergreifung. Darüber Bleuel S220f. 35) So eine Rede Dietrichs, Vossische Zeitung, 8/3/1930. 36) Damals wußte ich noch nicht, daß er als der Schriftsteller galt, der unter dem Namen Erich Maria Remarque schrieb. 37) Über diesen siehe Heuss S.392/3, Stephan S.444f. 38) Stephan S.431/2 über Parteiausschußsitzung in Halle 25.Mai 1930. 39) Stephan berichtet, daß in der letzten Unterredung des demokratischen Parteiführers Koch­Weser mit dem kranken Streseman im September 1929, dieser eine Verschmelzung der beiden liberalen Parteien als derzeit unmöglich bezeichnete, aber Koch­Weser riet, auf eine Vereinigung der Demokraten mit dem Jungdeutschen Orden hinzuarbeiten. Davon wußten wir damals nichts. 40) Stephan S.446. Von den dort genannten "intellektuellen jungen Menschen", wurden bei uns im Demokratischen Studentenbund Theodor Eschenburg und Josef Winschuh zu Vortragsabenden eingeladen. 41) Stephan S.434/8. 42) Nach Stephan S.48 hatte Richard Otto Frankfurter noch auf der Vorstandssitzung vom 25.Juli gefordert, die Partei solle als "Dietrich Partei" allein in den Wahlkampf gehen. Frankfurter kannte ich als Präsidenten der Altherren der FWV, als ich 1929 als Nachfolger Ollendorfs Außenvertreter der FWV wurde, nahm ich an Sitzungen des Präsidiums in seinem Hause teil. Wie aktiv und anscheinend sehr angesehen er damals auch noch in den Gremien der Demokratischen Partei war, habe ich dem Buch von W. Stephan mit Interesse entnommen. Sein Vertrauen in Dietrich habe ich damals geteilt. 43) Hermann Proebst wurde nach dem 2. Weltkrieg als Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung" sehr bekannt und angesehen. 44) Hermann Graml S.214f. 45) Das war auf dem vorjährigen Kongreß, an dem ich noch nicht teilgenommen hatte, beschlossen worden. Führer der deutschen Delegation war damals der. Zentrumsstudent Felix Raddatz gewesen. Für viele Informationen über die FUI bin ich Dr. Jacques Kunstenaar, Zürich, den ich damals als Leiter der Schweizer Delegation kennen lernte, zu Dank verpflichtet. 46) In seinem Bericht (Der Student 18/S.6) über den FUI Kongreß kommentiert Wolfgang Straede dann "..ein von den Deutschen wegen seines wichtigen Präzedenzcharakters ohne weiteres angenommener Vorschlag". Für mich war das ein Erfolg für was man heute pluralistische Lösungen nennen könnte, verglichen mit der vorherigen Haltung der Deutschen Studentenschaft, und ich meinte, daß ich denen dabei beteiligten Exponenten Wolfgang Straede und Dr. Walther Reusch auf dem Wege zu diesem Schritt geholfen hatte. 47) Ich erinnere mich dabei an Ernst v. Salomon "Der Fragebogen". 48) Während der Genfer FUI Tagung war bei dem üblichen Besuch der deutschen Studentendelegation bei der Deutschen Vertretung beim Völkerbund auch das Thema Mitteleuropa erwähnt worden und der Plan, daß wir darüber mit den tschechischen Studenten sprechen würden. 49) Informationen über Teilnehmerzahl (etwa 100 "Studenten und jüngere Altakademiker") und vertretene Länder (10) enthält dann der Bericht über die Tagung in "Der Student" 1931 Folge 7 S.10. 50) "Student & Hochschule" Jahrgang 3 Nr.1/2 S.22. 51) Dazu siehe ausführlich in Peter Krüger a.a.O. schon S.382/3, wo v. Schubert und Köpke als Gegner solcher Erwägungen erwähnt werden, die aber andere tatsächlich beschäftigten. 52) Sozialistische Monatshefte 12/10/1931 S.960 "Die internationale Diskussion über den polnischen Korridor". 53) Nicht lange nach unserer Grenzlandtagung Mai 1929 in Dresden hatte ich Prag zum ersten Mal mit großer Begeisterung gesehen, um der dortigen befreundeten "Lese- und Redehalle deutscher Studenten" einen Besuch abzustatten. 54) Für Berichte siehe vossische Zeitung 2.April 1931, Journal de Genève 31. März, "Der Student", Folge 7/1931 S.10, "Student & Hochschule", Mai 1931. 55) Ich wurde gebeten, einen Dr. G. dem Führer der Schweizer Delegation Jaques Kunstenaar vorzustellen, denn G. sei auch Schweizer, dann stammelte er aber, daß er eigentlich aus Vorarlberg sei, aber das wäre doch beinahe dasselbe. Ich fand das sehr merkwürdig und besprach es mit Jacques Kunstenaar. Ein Dr. G. wird später als nationalsozialistischer Staatsrechtler bekannt. Jacques Kunstenaar war in dieser Zeit schon ein prominentes Mitglied der Spitze der FUI geworden und wurde dann auf der anschließenden Ratstagung in Wien zum nächstjährigen Präsidenten bestimmt. 56) Die damalige Lage wird knapp zusammengefaßt von P. Krüger a.a.O.S. 531. 57) Die wirtschaftlichen Referate wurden gehalten von dem tschechischen Dr. Schuster aus Prag und Dr. Kanas aus Pressburg, von deutscher Seite Dr. Fischer, Berlin und Dr. Hans Wilbrandt als agrarpolitischer Experte, der auch Mitarbeiter der "Sozialistischen Monatshefte" war. Ein deutscher Bericht ("Der Student" 7/10) zitiert als Äußerung eines tschechischen Delegierten: "es ist das Problem eines gemeinsamen Lebensraums, das doch mehr ist als bloße Nachbarschaft". 58) Die Veröffentlichung des Zollunionsplans war anscheinend für einen etwas späteren Termin geplant, aber wurde dann wegen befürchteter Indiskretionen auf diesen Tag vorverlegt (Krüger, S.533, "Der Student" 7/S.4). 59) Vossische Zeitung 2. April 1931: "Die Tagung, die von Vizekanzler Schober eröffnet wurde, zeigte einen erfreulichen Aufschwung der studentischen Völkerbundsarbeit und ein Anwachsen der Organisation in fast allen Ländern". 60) Journal de Genève 31.31.1931 und Der Student Folge 13/14 S.11/12. 61) Siehe P. Krüger's Kommentar S.533: "Dies war wirklich der Sündenfall der deutschen Außenpolitik, eine Herausforderung des europäischen Staatensystems und eine schlecht kalkulierte dazu" und seine weiteren Informationen über Opposition im Auswärtigen Amt gegen diese Pläne von Curtius und seinen neuen Staatssekretär v. Bülow, und eine warnende Aufzeichnung von Köpke vom 21.2.1931, "daß die Tschechoslowakei und Frankreich wegen Bedrohung der tschechoslowakischen Unabhängigkeit die folgenreiche Veränderung der europäischen Machtverhältnisse durch die Zollunion keineswegs hinnehmen könnten. Als einzige Möglichkeit, dem Ziel näher zu kommen, schlug Köpke jenen Weg vor, der in den Unterredungen zwischen Benes und Schubert im Mai 1928 sich als allein wirklichkeitsnah herausgestellt hatte, nämlich beide Länder von vornherein in die deutsch­österreichischen Verhandlungen einzubeziehen..". Eine ähnlich kritische Betrachtung auch bei Graml a.a.O. S.260/1. B) München 1) Ralph Kleemann war mit meinem Vetter Ernst Grünfeld befreundet, den er in einem früheren Semester getroffen hatte. 2) Ausführliche Informationen lieferte mir dafür die Münchner Dissertation aus dem Jahr 1949 "Der politische Kampf an den Münchner Hochschulen von 1929 bis 1933 im Spiegel der Presse" von Ludwig Franz. 3) Franz S.49. 4) Franz S.49/53. 5) Franz S.74. 6) Franz S.79 berichtet über diese Verwundung von Nawiaskis Assistenten. 7) Franz vermutet, weil sie nicht das Fortbestehen der staatlichen Anerkennung gefährden wollten. C) Zwischen Breslau und zu Hause 1) Mit ihm und seiner Freundin Lilo Linke waren wir im Demokratischen Studentenbund sehr eng verbunden gewesen, von Stephan S.394 als begabter Journalist und geistig führender Jungdemokrat bezeichnet. 2) Leopold Schwarzschild in seinem "Tagebuch" war einer der ausgesprochendsten Gegner, siehe "Die letzten Jahre vor Hitler", Auszüge aus dem Tagebuch 1929/33 mit Vorwort von Golo Mann. Der frühere Staatssekretär Hans Schaeffer nennt als Hauptursache von Brünings Deflationspolitik die Zwangsvorschriften für deutsche Wirtschaftspolitik, die in den Dawesund Youngplanabkommen festgelegt waren, ohne deren Einhaltung Brüning niemals hoffen konnte, die wirtschaftlich absolut notwendige Stundung weiterer Reparationszahlungen zu erreichen. Unter heutigen Historikern gibt es aber auch den Vorwurf, daß Brüning die schrecklichen Auswirkungen seiner Deflationspolitik gar nicht bereute, er sah sie nicht nur als wirtschaftstheoretisch unvermeidlich an, sondern Verarmung, steigende Arbeitslosigkeit, ja sogar politische Unruhe in Deutschland schienen ihm gute Mittel, die Alliierten von der Undurchführbarkeit weiterer Reparationszahlungen zu überzeugen, und dadurch die Revision des Versailler Vertrages einen Schritt weiterzubringen (s. Graml.S245/ 6). Ich erinnere mich nicht, daß es solchen Verdacht oder Vorwürfe schon damals gab. Man findet ihn auch heute nicht z.B. bei Martin Broszat in seiner Darstellung von Brünings Politik in "Die Machtergreifung" S.132/4. 3) Die Vorgänge, die schon nach weiteren acht Monaten zur Machtergreifung Hitlers führten, wurden früh eingehend dargestellt von Karl Dietrich Bracher "Die Auflösung der Weimarer Republik", S. 529f. Auf den neuesten Stand der Forschung und Meinungsbildung bringt Martin Broszat "Die Machtergreifung" DTV 1984­(1987). Siehe auch Kurt Sontheimer "Deutschland zwischen Demokratie und Antidemokratie", besonders sein Aufsatz über den "Tatkreis" S.56f., ferner Ebbo Demant "Hans Zehrer als politischer Publizist" S.84f. 4) Bracher S.644. 5) Bracher S.645. 6) Sontheimer S.81. 7) Schwarzschild in seinem Artikel im "Tagebuch" vom 31.12.1932 und in Golo Mann's Vorwort S.28/29. 8) August Rathmann "Ein Arbeiterleben" (Wuppertal 1983) S.182/3. 9) siehe auch Heinrich August Winkler über diese "Gratwanderung" in seiner Besprechung von August Rathmanns Buch in die "Zeit". 10) Bracher S.681. 11) dazu Bracher S.699 und Golo Mann bei Schwarzschild S.29 "sie haben Schwarzschilds Rat, die Regentschaft zu dulden, ja ihr nach Kräften zu helfen und so ihr eine breite Basis zu geben, nicht beherzigt...". 12) Siehe auch Bracher S.681f., 684/S.699 und ausführlich aber konzise Broszat "Die Machtergreifung" S.156/174. Dazu auch Bracher S.681f, besonders Anmerkung 148 S.684/S und S.699. 13) Dazu gehört auch die damalige Rolle des Reichslandbunds, Hindenburgs Verwundbarkeit in Sachen Osthilfe und Gegnerschaft zu Plänen für Bauernsiedlung in Ostelbien spielte, stark hervorgestellt bei Broszat "Die Machtergreifung" S.162/165. Ich war diesem Projekt zuerst als Anliegen fortschrittlicher Bauernpolitik begegnet. (Rönneburgs Vortrag auf Ostkundgebung des DStV, in unserer Zeitschrift abgedruckt). Später hörte man, andere Kreise waren an den verteidigungspolitischen Aspekten dichterer Besiedlung Ostelbiens interessiert. 14) Bracher S.619 "Der Mord in Potempa war mehr als ein symptomatisches Ereignis des latenten Bürgerkriegs. Er mußte der Öffentlichkeit endlich die Augen öffnen...". Anmerkungen zu "Nach dem Ende von Weimar" 1) Eine Schilderung seiner Persönlichkeit fand ich bei Marion Cräfin Döhnhoff: "Menschen, die wissen, worum es geht" im Kapitel "Der Basler Gelehrte: Verzauberer und Entzauberer zugleich". Ich erinnere mich an die Seminarsitzung, in der er die Verfasserin als Neuankömmling einführte, als er von Frankfurt aus politischen Gründen weggegangen war. 2) Meine Dissertation hatte ich mit einer Darstellung der klassischen Theorie der internationalen Kapitalbewegungen eingeleitet, basierend auf Franz Gutmanns Beitrag im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4.Auflage Ergzgbd. Laufende Erfahrungen während der Weltwirtschaftskrise, legten viele Vorbehalte betreffs des Funktionierens dieses Mechanismus nahe, und zwar in Richtung der von E. Salin vertretenen Auffassungen. Nach mehr als 50 Jahren finden heute diese Vorbehalte immer wieder Bestätigung durch die Probleme der Drittweltverschuldung und Rolle von IMF und Weltbank. Anmerkungen zu "Emigration nach Hause, in Polen" 1) Dazu siehe Beitrag von S. Karski in "Kattowitz, seine Geschichte und Gegenwart", Dülmen 1985,.S.122,4. 2) Den Vorsitz der deutschen Fraktion hatte er schon 1930 abgegeben. 3) Siehe V. Kauder "Das Deutschtum in Polnisch­Schlesien", Plauen 1932 S.326/7. Dort erwähnt ist auch ein Rezitationsabend von Edith Herrnstadt Oettingen, Berlin, einer Cousine meiner Mutter, man sieht also, daß das liberale Element in diesem Kulturprogramm gut vertreten war. 4) siehe Lucjan Meissner: "Niemieckie Organizacje Antyfaszystowskie w Polsce 19331939". Warszawa 1973 S.163f. 5) Meissner a.a.O. S.227f. 6) Meissner S.233. 7) W. Hellpach erinnert sich in "Wirken in Wirren" I S.88 und 90/1 an die Unterschiede nationaler Einstellung. die er als Jugendlicher zwischen dem deutschen Landeshut und Trautenau auf der böhmischen Seite der Sudeten beobachtet hatte. 8) Dr. E. Pant war eng verbunden mit Pater Friedrich Muckermann S.J., der auch durch seinen Widerstand gegen die Nationalsozialisten bekannt wurde. In Pater Mukkermanns Erinnerungen "im Kampf zwischen zwei Epochen" ist Dr. Pant eingehend erwähnt (S.503/6) und man findet auch den starken Vorbehalt gegen liberale Einflüsse. 9) Dazu Hans Bernd Cisevius "Bis zum bitteren Ende", Zürich 1946. I S. 207f und S.282. 10) Auswanderung aus Deutschland schien mir schon damals dringend für alle Juden. Wir hatten noch keine Devisenbeschränkungen dagegen in Polen und hätten ihr das Geld z.B. nach London überweisen können, wo es für ihr Leben gereicht hätte. Ich traf mich mit ihr allein in einem Cafe am Zoo, und riet ihr dazu, aber ihre Berater waren dagegen. 11) Dazu gehören der Schulfreund Ludel Berliner, die jüngeren Ernst Berliner und Walter Rosenbusch. Auch Karl­Heinz Lubowski war von den Rassegesetzen von 1935 betroffen, gab sein juristische Laufbahn auf, studierte in Basel protestantische Theologie. kam immer wieder nach Hause, hoffte, nach England auszuwandern, aber fand dann im Krieg Unterschlupf in einer Stellung im Konsistorium in Königsberg; auf der Flucht bei Kriegsende ist er umgekommen. 12) In 1937 lief der 15jährige Genfer Minderheitenschutzvertrag ab. Es hatte in Deutsch­Oberschlesien die dortigen Juden in unvorhergesehener Weise von manchen Bestimmungen Hitler'scher Rassengesetzgebung vorläufig geschützt. Das änderte sich nun. Auf der polnischen Seite betraf es auch, wer 1922 für Deutsche Staatsbürgerschaft optiert hatte, sie durften nicht mehr in Polen bleiben. Dazu gehörte auch Franz Goldstein, er wurde ein deutscher Emigrant, ging zunächst nach Prag, dann nach Palästina. Die Literaturbeilage der Wirtschaftskorrespondenz wurde aufgegeben, und meine Artikel auch. 13) G. Rhode a.a.O S.,491. 14) Nach einem Jahr war die Synagoge schon in Trümmern, die Familie zerstreut, der Vater nicht mehr am Leben. Anmerkungen zu "Der 2. Weltkrieg bricht aus" 1) Meine Absicht ist nicht, hier eine eingehende Schilderung des September 1939 in Warschau zu geben, für die großen Züge und einige Einzelheiten, die meinem Gedächtnis nicht mehr genau gegenwärtig waren, stütze ich mich auf das Werk "Cywilna Obrona Warszawy we wrzesniu 1939", Warszawa 1964, im wesentlichen auf die einleitende Chronik von Wladyslaw Bartoszewski. 2) Ein tragischer Gefühlskonflikt hatte Dr. Hurtigs dorthin gebracht. Sie waren im August auf Ferien in Frankreich; als Krieg unvermeidlich schien, kehrten sie zurück. In Kattowitz angekommen, fanden sie alle Freunde schon fort, und fuhren noch schnell nach Warschau, und haben nicht überlebt. 3) siehe Cywilna Obrona S.107. 4) Der Schweizer Exporteur J. und Frau, Geschäftsfreund Zygmunt Kriegers war auf der Rückkehr von einer Uhrenverkaufsreise nach Russland in Warschau steckengeblieben, und sie wurden auch evakuiert, ich besuchte sie vorher, wir wurden verhaftet und in heftigem Feuer auf eine Polizeiwache geführt, aber bald freigelassen. 5) Meine Erinnerung war, daß auch ein zweiter jüdischer Vertreter, der Bankier Rotwand, unter den Geiseln war, aber ich habe dafür keine Belege gefunden. 6) Dazu bemerkt Chaim Kaplan in "Buch der Agonie" S.46 für den 1. Oktober: "Die Deutschen bewahrten bei ihrem Einmarsch in die Hauptstadt die Disziplin..", und weiter für den 3.Oktober, der deutsche Oberbefehlshaber habe wissen lassen, "daß er den Juden keine Schwierigkeiten zu bereiten wünsche". Aber das sei nur ein politischer Schachzug, kommentiert Kaplan weiter, "in der tagtäglichen Wirklichkeit werden die Juden diskriminiert". 7) Wie man weiß, ist v.Fritzsch vor der Kapitulation Warschaus umgekommen, man weiß nicht, ob seine Anwesenheit dort wirklich die Bedeutung hatte, die man ihr meinte zumessen zu können. Eine spätere Version von deutscher Seite ist, daß er dort den Tod gesucht hat. (siehe u.a. Gisevius a.a.O.Bd.I. S.459). 8) Erst in jüngster Zeit habe ich erfahren, daß der Schwedische Botschafter sich damals um Hilfe für von den Nazis bedrohte Flüchtlinge sehr verdient gemacht hat, auch schon bei der Evakuation von Ausländern während der Belagerung. 9) Über diese "grüne Grenze" siehe auch Kaplan a.a.O S.82f. und S.91. 10) Siehe dazu: Walter Laquer / Richard Breitmann "Der Mann, der das Schweigen brach", wonach der SS Funktionär Adolf Eichmann aus Berlin im Oktober 1939 nach Kattowitz gekommen war, die Deportation der Juden in das eigentliche Polen zu beaufsichtigen. Die Stadt sollte von Juden geräumt, sie sollte "judenrein" werden. (S.71). 11) Es gab weiter Kommen und Gehen über die Zonengrenze, und ich bekam noch mehrere Nachrichten von meiner Mutter, immer mit dem absoluten Rat, nicht nach Lemberg zu kommen. Es gab dort auch Bedrücktheit, Hunger und Ungewissheit. 12) Kaplan a.a.O S.66. 13) siehe Kaplan S.84/S. Es hieß damals, daß der Armeekorpshygieniker Dr. Richter gegen diese massive Bevölkerungsbewegung wegen Seuchengefahr Einspruch erhoben hatte. 14) Ausreise von neun jüdischen Familien nach Palästina ist auch erwähnt in Kaplans Tagebuch in der Eintragung vom 25.11.1939 (s.90). Ich weiß nicht, ob er von Angehörigen dieser Gruppe spricht. 15) Kaplan S,.92. Anmerkungen zu "Kriegsflüchtling" 1) Er war ein Philosoph im laizistischent Flügel, ursprünglich mir dem Liberalen Benedetto Croce eng verbunden, wurde dann aber Mussolinis Kultusminister, nun aber nicht mehr aktiv politisch, schien er eine ehrenvolle Stellung im italienischen Geistesleben bezogen zu haben. 2) "Wspólnota Interesów" vorher zum Flickkonzern gehörig. Der sich unter staatlicher Zwangsverwaltung weitgehend neu bildende Verwaltungsstab unter Przedpelski wurde wichtigster Repräsentant des polnischen Etatismus in Oberschlesien. 3) Winiewicz hatte bereits in Budapest 1940 eine polnische Zeitung herausgegeben, für 1941 wird er als Presseattaché der Polnischen Botschaft in der Türkei bezeichnet, von 1942 an "Senior Official, Polish Ministry of Preparatory Work, Peace Conference". Ich wußte damals nicht, daß er offizielle Funktionen hatte. Die Frage, die er mir stellte, kam aber nicht von ungefähr. Trotz seiner Herkunft von der äußersten polnischen Rechten, ist er aber schon 1945 "Councillor" und 1946 Charge d'Affairs der polnischen Botschaft in London, also schon der neuen Volksrepublik Polen, dann ihr Delegierter zur ersten UNO Tagung, 1947, Botschafter in Washington und schließlich Außenminister. War es der Drang nach Eroberung der Westgebiete, der ihn auf eine, für seine politische Herkunft, so erstaunliche Laufbahn gebracht hat? (Für seine Biography "World Biography"). 4) Als ich später Roman Przedpelski fragte, was ihn bewog, mir zu helfen, da er mich doch kaum kannte, erwähnte er meine Korrespondenz für die Entwicklung von neuen Geschäften für Türkdal, die er in Istanbul gesehen hatte. Ich hätte die energischsten Bemühungen dafür gemacht, also wollte er mir helfen und hielt es für ein verantwortbares Risiko. 5) Klaus Täubert "Die Welt des Franz Goldstein" in "Tribüne", Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Heft 98, 1986, beschreibt Lebenslauf, Tätigkeit in Kattowitz, später Jerusalem, und den Anziehungspunkt, den seine Bibliothek dort bildete. 6) Siehe "Handbuch der Deutschen Exilpresse", herausgegeben von Liselotte Maas I S.86, II S.436. 7) Ich konnte seine Begeisterung nicht teilen, anscheinend nicht dazu geboren, ein guter Zionist zu sein. Zwar kaum im stark verbürgerlichten deutschen Judentum, aber bei Juden im Osten oder New York hatte es wohl auch gewalttätiges Verbrechertum gegeben. 8) Max Pinn hat die Verwirklichung seiner Hoffnungen nicht mehr erlebt, er fiel auf dem Weg nach Jerusalem einem arabischen Überfall zum Opfer. 9) Rondavels sind runde Hütten kolonialen Stils, meist gebrannter Ton oder Ziegelwerk mit Gras­ oder Strohdach, sie konnten ganz geräumig und komfortabel sein. 10) Die Einwohnerzahl Nordrhodesiens, des heutigen Zambias, wird für 1942 auf etwa 1.380.000 geschätzt, wovon nur etwa 15.000 Europäer, auf 288.000 Quadratmeilen. Die Südgrenze bildete der große Zambesi Fluß, die einzige Eisenbahn durchquerte das Land von Süd nach Nord über etwa 500 Meilen zur nördlichen Grenze mit dem damaligen belgischen Kongo. Das Klima ist zwischen subtropisch und tropisch, der "Copperbelt", wo ich später in Mufulira arbeitete, lag dicht an der Grenze zum Kongo, mit seinem benachbarten Katanga Bergbaugebiet. 11) Zum Schicksal unter deutscher Okkupation siehe Charles Cruikshank "The German Occupation of the Channel Islands" S.113 und Artikel im "Observer" vom 12.Mai 1985 über die vier Jüdinnen, die von dort deportiert wurden, mit Photographie auch meiner Schwester Marianne Grünfeld. 12) Hierzu siehe Leonard Gross "The last Jews of Berlin" und die Erinnerungen von Maria Gräfin von Maltzan "Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht" (Berlin 1986). 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.